Barbara Gandenheimer
©

Sina Trinkwalder

Die Wirtschaftsrebellin

Eine Begegnung mit einem Obdachlosen veranlasste Sina Trinkwalder, ihre Karriere in der Werbung aufzugeben. Stattdessen setzt sie sich nun für die ein, denen der Arbeitsmarkt keine Chance mehr bietet. Sie produziert mit ihnen in einer Näherei stylishe Taschen und Mode – mit Erfolg.

Simon Jahn
Simon Jahn
7 min

Als hätte sie nicht schon genug Leben an der Backe gehabt. 135 Ladies und Gentlemen, wie Sina Trinkwalder (39) ihre Angestellten würdevoll nennt. Alle vom Amt unter »multiple Vermittlungshemmnisse« eingestuft oder schon ganz aus der Statistik gefallen. Als die Augsburgerin die Textilmanufaktur manomama startete, wurde sie regelrecht überhäuft mit Bewerbungen von Menschen, die der Arbeitsmarkt aussortiert hatte. Trinkwalder suchte sich die verzweifeltsten, hoffnungslosesten, härtesten Fälle heraus.

Hierarchien gibt es hier keine. Jeder entscheidet mit.

Du bist wertvoll, hier wirst du gebraucht. Willkommen in deinem neuen Leben. Hier duzen sich alle. Hierarchien gibt es keine. Jeder entscheidet mit. Jeder kann kommen, wann er will. Um 7 Uhr, um 10 Uhr, um 14 Uhr. So, wie es eben zum Leben passt. Mit Kindern zum Beispiel. Und jeder verdient zehn Euro die Stunde, egal, welche Aufgabe er hat. Boni sind möglich, wenn sich einer besonders für die Gemeinschaft oder die Firma einsetzt. Und der Laden brummte schon bald: Die schicken bunten Stofftaschen, die es bei dm, Edeka und real zu kaufen gibt – in dieser Näherei werden sie gefertigt. Aus rein regionalem Material, soweit das möglich ist. Baumwolle wächst nun mal nicht in Deutschland.

Allen Unkenrufen zum Trotz

Von zu wenig Leben kann in so einem Unternehmen doch wohl kaum die Rede sein. Und trotzdem behauptet Trinkwalder heute: »Erst jetzt habe ich das Leben entdeckt. 33 Jahre lang dachte ich völlig falsch darüber, wer ich bin.« Dabei hätte die zielstrebige Unternehmerin eigentlich allen Grund gehabt, sich zufrieden zurückzulehnen: Allen Unkenrufen zum Trotz hatte sie es geschafft, manomama profitabel zu machen – ohne Fördergelder, ohne Lobbyarbeit, ohne krumme Deals, ohne Produktion im Ausland, ohne Dumpinglöhne, sogar ohne jegliches Know-how. Aber Letzteres kannte Trinkwalder ja schon. Mit 21 Jahren hatte sie schon einmal so einen Kaltstart gewagt. Ohne Studienabschluss gründete sie mit ihrem späteren Mann Hals über Kopf eine Werbeagentur und erarbeitete sich schnell einen hochkarätigen Kundenstamm, sodass ihre Slogans bald auf Plakaten und in Illustrierten landauf, landab prangten.

Die Chefin als Seelsorgerin

Eine Begegnung mit einem Wohnungslosen auf einem Bahnhof sollte ihrem erfolgsverwöhnten Leben auf der Überholspur eine völlig neue Wendung geben. Der Mann kramte das Magazin mit ihrer Werbung, das sie achtlos weggeworfen hatte, wieder aus dem Müll heraus. Es war, als hätte jener Fremde damit die Frage nach dem Sinn ihrer Arbeit wie aus dem Dornröschenschlaf wachgeküsst. Was folgte, war für die meisten Menschen in ihrem Umfeld völlig unverständlich: »Das kannst du keinem erzählen, dass du aus sozialen und ethischen Gründen einen Job quittierst, den alle in der Branche versuchen zu erreichen.

Die halten dich für Chappi in der Birne«, sagt Trinkwalder. Viele mutige Schritte, wegweisende Begegnungen, durchgearbeitete Nächte und herbe Rückschläge später wurde schließlich manomama geboren. Und Sina Trinkwalder fühlte sich lebendig wie nie. Endlich machte das, was sie tat, richtig viel Sinn – und zwar nicht nur für sie. Sie gab ihren Ladies und Gentlemen mit der Arbeit neue Hoffnung, neue Perspektiven, neue Lebensfreude. Und ganz sicher ist Trinkwalder für sie mehr Seelsorgerin als Chefin. Wenn Not am Mann ist, packt sie auch selbst mit an. Das Nähen hatte sie sich von der Pike auf beigebracht, bevor sie manomama startete. Heute entwirft sie die Mode des Labels größtenteils selbst. Funktionskleidung aus Schurwolle beispielsweise.

Seit ich zur Arbeit laufe, habe ich das Leben entdeckt.

Im Rampenlicht

Ein so unerhört vorbildliches Projekt, das den Prinzipien der Marktwirtschaft spottet, zog natürlich schnell Aufmerksamkeit auf sich und fand von vielen Seiten Beifall. Trinkwalder nahm zahlreiche Preise und Auszeichnungen für ihr Engagement entgegen, nicht ohne bei den Dankesreden Klartext zu sprechen und auf so mancher Veranstaltung die Anwesenden vor den Kopf zu stoßen. Auch in Talkshows fand man an ihrer unbequemen Haltung bald Gefallen. Trinkwalder nutzte die Bühne, um für ein anderes Wirtschaften zu werben, bei dem Mensch und Natur vor dem Profit stehen. Ein ehrliches Wirtschaften, kein Greenwashing. »Diese unzähligen ›Social‹-, ›Green‹-, ›Ethical‹- oder ›Organic‹-Start-ups sind doch auch nur zerstörerische Geschäftsmodelle, die mit grüner Farbe ein bisschen angepinselt wurden, um sich besser zu verkaufen«, ärgert sich Trinkwalder. Die Unternehmerin hält auch nicht viel von Nachhaltigkeitssiegeln. »Meist wird da selbst der kleinste Schritt in die richtige Richtung als Endziel angepriesen. Und der einzige Grund, warum der Schritt nicht größer gemacht wird, ist die Kohle.« Das regte Trinkwalder so auf, dass sie dem Thema ein ganzes Buch widmete –, nachdem sie sich bereits zuvor als Autorin ausprobiert und ihre Geschichte und den Weg zu manomama zu Papier gebracht hatte.

Einsamer Erfolg

Sina Trinkwalder war so beschäftigt damit, die Welt zu retten, dass sie nicht merkte, wie sie dabei immer unglücklicher wurde. Das Leben auf der Überholspur forderte seinen Tribut. Ihre Ehe zerbrach, dafür waren Stress, unkontrolliertes Essen und Einsamkeit ihre Dauerbegleiter. Irgendwann realisierte die Powerfrau, dass sie sich selbst finden musste. Sie probierte dies und jenes und bemerkte schnell, dass all die Diäten, Achtsamkeitsübungen und Selbstoptimierungsstrategien völlig widersinnig waren. »Dieses ganze Achtsamkeitszeug braucht kein Mensch, da stresst du dich selbst nur noch mehr«, resümiert Trinkwalder ihre Erfahrungen.

Vielmehr musste sie lernen, sich, ihre Stärken und ihre Bedürfnisse besser kennenzulernen. So entdeckte sie beispielsweise, »dass ich überhaupt nicht kreativ bin. Ich bin ein Optimierer.« Und sie begann zu laufen. Buchstäblich. Als manomama in einer Krise steckte und einige Parkplätze vor der Näherei abgegeben werden mussten, stellte sie ihren als Erstes zur Verfügung und beschritt den Weg zur Arbeit fortan zu Fuß – mehrere Kilometer. Doch das war erst der Anfang: Heute nutzt Trinkwalder kaum noch öffentliche Verkehrsmittel, läuft sogar zu Terminen – oder nimmt ihr Rennrad, wenn es nicht gerade mehr als sechzig Kilometer sind. »Ich bin viel produktiver, obwohl ich weniger im Büro sitze und im herkömmlichen Sinne arbeite. Meine Zeit nutze ich einfach ganz anders, fälle zu treffende Entscheidungen und leiste meine Denkarbeit beim Joggen oder auf dem Rad.« 2017 nahm sie sogar an einem 100-Kilometer-Lauf – einem sogenannten Ultratrail – teil und schaffte es als eine der wenigen Starterinnen bis ins Ziel. 

Barbara Gandenheimer
©

Rein in die Gesellschaft

Heute wiegt Trinkwalder auch nur noch halb so viel wie früher – und gibt allen, die fragen, wie sie das geschafft habe, eine Absage: keine Diät. Vielmehr habe sie gelernt, ihre Bedürfnisse wieder bewusst wahrzunehmen. »Seit ich zur Arbeit laufe, habe ich das Leben entdeckt«, sagt Trinkwalder. Im Wittelsbacher Park zum Beispiel, wo sie regelmäßig auf dem Weg auf Obdachlose trifft. Inzwischen kennt man sich, kommt ins Gespräch. »Da nimmst du ganz anders an der Gesellschaft teil, als wenn du an ihr nur vorbeifährst und vermutest, da könnte ein Problem sein. Stattdessen bist du mittendrin im Problem.« Und weil es die Frau mit der großen schwarzen Hornbrille und den langen, glatten, tiefschwarzen Haaren glücklich macht, Dinge zu tun, die der Gesellschaft helfen, adressiert ihr neustes Projekt ebenjene Wohnungslose. Aus Verschnittresten von Markisen entwarf sie schicke, wasserdichte Rucksäcke, die Kooperationspartner mit Hygieneprodukten und Lebensmitteln befüllen. Mit den »Brichbags« will Trinkwalder Menschen auf der Straße wieder mehr Selbstwertgefühl geben.

Geduldig, aber immer in Bewegung

Aufgrund ihres vielfältigen Engagements bekam die Unternehmerin im Lauf der Jahre nicht nur viele Auszeichnungen, sondern auch Stempel aufgedrückt. So manche kann sie nicht mehr hören: »Jungunternehmerin«. Oder »Sozialunternehmerin«. Eine Zeitung nannte sie sogar einmal die »Mutter Teresa von Augsburg«. »Ein bisschen unverschämt« fand die schlagfertige Macherin das. »Mich mit einer barmherzigen, alten Frau gleichzusetzen, nur weil ich als Unternehmerin nicht so hedonistisch, sondern eher altruistisch gesinnt bin.« Um so manchen falschen Eindruck von ihr geradezurücken, griff Trinkwalder zuletzt wieder zu ihrem Laptop und schrieb ein drittes Buch. Darin zeigt sie auf, wie sie den Weg aus einem unglücklichen, einsamen Leben hin zu dem fand, was sie heute ist. Geduldiger und ruhiger sei sie geworden, erzählt die Unternehmerin, die auch mal derbere Ausdrücke bemüht. Ihre Sturheit und ihre Zielstrebigkeit hat sie sich aber bewahrt.

»Ich möchte auch weiterhin der Reißnagel im Hintern der Großen sein – und zeigen, dass ein anderes Wirtschaften möglich ist.« Das treibt Sina Trinkwalder an. Sie muss immer etwas bewegen. Nichts zu tun, wäre für sie unvorstellbar. »Das halte ich nicht aus. Drei Wochen am Strand zu braten, wäre für mich die größte Strafe, die man mir aufbrummen könnte.« Heute ist Sina Trinkwalder »ein sehr glücklicher Mensch. Ich lasse mich nicht mehr stressen. Ich habe gelernt, dass alles seinen Grund und seine Zeit hat. Und ich weiß, wer ich bin. Ich muss niemandem mehr etwas beweisen. Das ist Leben!«