Ruben Ung
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Andreas M. Walker

Ist Hoffnung erlernbar, Herr Zukunftsentdecker?

Gesundheit, gute Beziehungen und Sinnhaftigkeit: Das sind die grossen Hoffnungen der Menschen in Mitteleuropa. Und besonders gut hoffen können Führungskräfte – nicht die Benachteiligten. Das und mehr hat Dr. Andreas M. Walker, oberster Zukunftsexperte der Schweiz, herausgefunden, seit er 2009 das »Hoffnungsbarometer« lanciert hat.

Stephan Lehmann-Maldonado
Stephan Lehmann-Maldonado
8 min

Herr Dr. Walker, Terroranschläge, Wirtschaftskrisen und Klimawandel sind Dauerbrenner in den Medien. Droht uns demnächst der Weltuntergang?

Hoffentlich nicht. Seit Jahrhunderten ist der Untergang prophezeit worden, bisher jedoch ausgeblieben. Früher lasen viele Christen das biblische Buch der Offenbarung mit Weltuntergangsstimmung. Wer Science-Fiction-Filme schaut, begegnet deshalb oft Aliens und Dämonen, die als Steinfiguren an alten Kirchen prangen. Heute sind es nicht nur Christen, die das Weltende prophezeien. Es sind ebenso Gruppen, die Angst vor der Machtübernahme durch Roboter haben, die Klimakatastrophe predigen – oder Rechtspopulisten, die meinen, die Ausländer würden einen Systemzusammenbruch verursachen.

Jüdisch-christliche Kulturen sollten einen Hoffnungsvorteil aufweisen.

Sind wir Deutschsprachigen besonders anfällig fürs Trübsalblasen?

In der Soziologie und der Politologie kennt man das Phänomen der »German Angst«. Wir neigen dazu, die Risiken stärker zu betonen als die Chancen. Das ist ein Merkmal unserer Kultur. Die Vorstellung einer Apokalypse ist tief in unserem Gedankengut verankert. Kriege, Naturkatastrophen und die Pest haben das letzte Jahrtausend in Mitteleuropa geprägt. Die Menschen haben weltuntergangsähnliche Zustände durchlitten. Die beiden Weltkriege und der 30-jährige Krieg kamen einer Apokalypse sehr nahe. Das alles prägte sich in der Volksseele ein. Wir fokussieren auf die Verluste anstatt dankbar zu sein für die Menschen, die die Katastrophen überlebt haben.

Was trieb Sie an, ein Hoffnungsbarometer zu lancieren?

Verschiedene Faktoren. 2009 wählte man mich zum Co-Präsidenten von Swissfuture, der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung. Darum wollte ich ein Zeichen setzen. Mir war bewusst, welch großen Raum die düsteren Prognosen einnehmen. Es kann nicht sein, dass wir zwar die Zukunft gestalten wollen, aber immer schwarzmalen. Im deutschsprachigen Raum gab es kaum gesellschaftswissenschaftliche Literatur zum Thema Hoffnung. Zudem stellte ich fest, dass Hoffnung ein großes Thema in der Bibel ist. In jüdisch-christlichen Kulturen sollte also ein Hoffnungsvorteil erkennbar sein – doch: Wo ist dieser? Aus diesen Gründen beschlossen wir im Freundeskreis, die positive Auseinandersetzung mit der Zukunft zu beginnen.

Was sagt denn die Bibel Ihrer Meinung nach über Hoffnung?

Gott offenbarte sich in der Bibel – im Gegensatz zu den ägyptischen Totengöttern – als Gott des Lebens. Der entscheidende christliche Feiertag ist nicht Karfreitag, der Todestag von Jesus, sondern der Ostersonntag, der Auferstehungstag. Wir feiern die Überwindung des Todes. Und der Apostel Paulus propagierte nicht nur den Glauben, sondern auch die Liebe und die Hoffnung als christliche Tugenden. Dabei fasziniert es mich, dass die Bibel keine verklärende PR-Strategie verkündet. Ohne Schönfärberei schildert sie Versagen, Tragödien und Krisen im Leben der biblischen Führungskräfte und Glaubenshelden. Aber gerade in diesem Jammertal ermutigt die Bibel: »Gott gibt Dich nicht auf«. Darin sehe ich keinen blinden Schicksalsfatalismus, sondern bin immer wieder zu Entscheidungen und Engagement herausgefordert. Die Bibel liefert keine Checkliste für einen theologisch korrekten Glauben, sondern viele verschiedene Fallstudien, wie Gott und Mensch und Menschen untereinander Beziehung gelebt haben. Dieser rote Faden zieht sich durchs ganze Buch.

Worin unterscheiden sich Hoffnungen vom Wunschdenken?

Wünsche sind etwas für den Geburtstag: Wir sind abhängig von einem großzügigen Geber und ob wir das Geschenk wirklich erhalten, wissen wir nicht. Wenn ein Szenario mit großer Wahrscheinlichkeit eintrifft, ist das eine Erwartung. Optimismus ist die Grundhaltung, dass das Schicksal es sowieso zum Guten wenden wird. Es gibt jedoch Aspekte, an denen wir festhalten, obgleich sie wenig wahrscheinlich scheinen. Trotz großer Probleme nehmen wir eine positive Haltung ein, um etwas Wichtiges zu erreichen. Das ist für mich die Hoffnung. Anders als ein passiver Wunsch mobilisiert die Hoffnung meine Energie. Hoffnung ist der Wille zur Zukunft, der Wille zum Leben.

Welches sind derzeit die größten Hoffnungen?

Uns überrascht immer wieder die Deutlichkeit von drei Prioritäten. Immer dabei ist die Hoffnung auf Gesundheit: der Mensch will leben. Dicht darauf folgen die Hoffnung auf intakte Beziehungen, wobei es primär um die Ehe geht. Der Mensch will in Gemeinschaft leben. Das Bedürfnis nach einem sinnvollen, harmonischen Leben rundet das Trio ab. Karriere, mehr Sex und mehr Geld sind nachrangig.

Gibt es Unterschiede – je nach Geschlecht, Alter, Umfeld?

Hoffnung ist für fast alle Menschen essentiell; die Gemeinsamkeiten überwiegen. Zwar sind Frauen emotionaler und sozialer und für Männer ist Sex wichtiger. Die Hauptbotschaft ist aber, dass beide auf gelingende, langwährende Beziehungen hoffen. Die Familienverhältnisse spielen eine wichtige Rolle für die wahrgenommene Hoffnung – die berufliche Position und die Ausbildung ebenfalls.

Haben Führungskräfte Hoffnung?

Ja. Sie sind keine schicksalsabhängigen Fatalisten, sondern erkennen Chancen besonders gut und können Zeit und Kraft mobilisieren, um Hoffnungen zu realisieren. Hoffnung wird zur Selbstkompetenz und wächst in einem positiven Kreislauf. Depressionen entstehen dagegen aus dem Teufelskreis der Enttäuschungen.

Hoffen ist also eine Kernkompetenz der Führungskräfte?

Unbedingt. Heute sind viele auf schnelle Gewinne aus, doch für nachhaltige Gewinne braucht es Ausdauer. Hoffen heißt eben auch: dranbleiben, nicht aufgeben. Für Singles ist das schwierig. Unsere Umfragen zeigen, dass gerade weiblichen Führungskräften ein stützender Partner als Hoffnungspartner besonders am Herzen liegt. Doch auch männliche Führungskräfte sind keine Egoisten. Viel mehr als einfache Angestellte wissen sie, wie wichtig eine Partnerin ist, um gemeinsam Hoffnungen verwirklichen zu können.

Welche Trends überraschen Sie?

Überraschend ist: Es gibt kaum kurzfristige Trends! Die Werte sind erstaunlich stabil, weil die Hoffnungsthemen wahrscheinlich sehr tiefe menschliche Bedürfnisse abbilden. Allerdings haben wir in den Jahren unserer Erhebungen in Mitteleuropa auch kaum Krisen erlebt: keine Naturkatastrophen, keine Kriege – die Terroranschläge waren lokal beschränkt. Darum suchen wir Wege, um unsere Studie in anderen Kulturen und Kontinenten durchzuführen. So haben wir neuerdings Kontakte nach Israel und Indien.

Viele sind auf schnelle Gewinne aus. Doch für nachhaltige Gewinne braucht es Ausdauer.

Obwohl Sie die Bibel als Hoffnungsbuch erwähnen, schneidet die Kirche in Ihren Erhebungen stets schlecht ab. Warum?

Die Umfragewerte verschlechtern sich zusehends. Das »Warum« können wir nicht beantworten. Trotz aktiver Suche haben wir noch keine Theologen gefunden, die dem auf den Grund gehen möchten. Eigentlich definiert die Bibel drei christliche Tugenden: Glaube, Liebe, Hoffnung. Aber von aussen nehme ich Kirchen als einseitige Glaubensgemeinschaften wahr, die sich mit anderen um den richtigen Glauben streiten. Als Ex-Banker sage ich: Das ist die falsche Anlagestrategie, kein »ausgewogenes Portfolio« aus Glaube, Liebe und Hoffnung. Zwar spielt in vielen Kirchen Diakonie als Liebe und Mitleid für Randständige und Arme eine Rolle. Aber was konkrete Nächstenliebe oder gar Feindesliebe bedeuten, bleibt oft ein abstraktes Konstrukt. Was wir dringend brauchen, ist eine »Theologie der Hoffnung«. Benedikt XVI hat da mit der Enzyklika »Spe salvi« einen Anfang gemacht.

Gott hat also nicht ausgedient?

Die Sehnsucht nach einer spirituellen Dimension jenseits der materialistischen Fakten ist relativ groß. Doch viele Menschen suchen ihre Erfüllung nicht mehr in erster Linie in den traditionellen Kirchen und den klassischen religiösen Formen. Gemäß unserer Daten existiert ein großes sehr unreligiöses Milieu, ein religiöses Milieu quer durch die christlichen Kirchen und ein sehr diffuses drittes Milieu. Je nachdem fällt die Antwort ganz anders aus.

Nicht viel besser als die Kirche steht die Politik da. Versagt die Demokratie?

Zu Beginn unserer Umfragen erzielte Obama Spitzenwerte als Hoffnungsträger. Aber große Erlösergestalten wie Erdogan, Putin und Trump sind uns in Mitteleuropa höchst suspekt. Unser Verständnis von Politik und Demokratie ist geprägt von Selbstverantwortung und Mitgestaltung. In der Schweiz ist das noch ausgeprägter als in Deutschland. Gleichzeitig konzentrieren sich viele Menschen auf ihre Familie: Sie ahnen, dass sie kaum Karriere als Bürgermeister machen werden, aber immerhin ein gutes Familienleben haben können.

Hoffnung hat mit Beziehung zu tun, Hoffnungslosigkeit mit Einsamkeit.

Misstrauisch sind wir auch gegenüber Wirtschaftsvertretern.

Von den Verfechtern der neoliberalen Marktwirtschaft haben wir viele Heilsversprechen gehört, die sich nicht erfüllten. In der Digitalisierung wird die protestantische Arbeitsethik kein Erfolgsgarant mehr sein. Es reicht schon lange nicht mehr, fleissig, brav und pünktlich zu sein, um Karriere zu machen. Und der Wille zur Arbeit ist keine Garantie gegen Arbeitslosigkeit. Viele talentierte Leute bleiben wirtschaftlich erfolglos.

Nennen Sie einige Hoffnungsträger.

Genau das ist eben nicht möglich! Wir haben nach Hoffnungsträgern gesucht, doch der Wertepluralismus und der Individualismus sind so dominant in unserer Gesellschaft, dass es schlicht an den vereinenden Identifikationsfiguren fehlt. Hingegen genießen die »Helden des Alltags« wie der Feuerwehrmann und die Krankenschwester große Anerkennung. Und Ehe und Familie als Hoffnungsgemeinschaften sind uns wichtig. Brisant ist: Für Teenager sind oft die eigenen Eltern die Hoffnungsgeber! Das müssten Eltern in der Erziehung  viel stärker berücksichtigen.

Was kann einem die Hoffnung rauben?

Der Hoffnungskiller schlechthin ist die Einsamkeit. Hoffnung hat mit Beziehung zu tun, Hoffnungslosigkeit mit Einsamkeit. Depressionen sind die Folge von Vereinsamung. Wir werden heute älter denn je. Doch über 60 Prozent der Senioren in den Städten leben allein.

Was hilft uns, nach Enttäuschungen weiter zu hoffen?

Neben Beziehungen, einem Entscheid für das Leben und Ausdauer sind Naturerfahrungen sehr hilfreich: Der Blick ins Weite, ein Sonnenaufgang, die Berge und das Meer hellen unsere Stimmung auf.

Sie sprechen von Orten der Hoffnung.

Ja. Wer depressiv ist, darf nicht auf den Bildschirm starren. Der Apostel Paulus formulierte sinngemäß: »Die Gläubigen finden Gott in der heiligen Schrift. Die Ungläubigen finden ihn in der Schöpfung.« Naturerfahrungen sind eine Therapie. Auch Bewegung hilft. Und sakrale Orte spielen eine überraschend große Rolle.

Hoffnung ist demnach erlernbar?

Klar! Sie ist eine Tugend,  eine Verhaltensweise. Sie äußert sich in der positiven Trotzhaltung: »Und dennoch – ich gebe nicht auf!« Die große Gefahr besteht darin, dass wir Zufriedenheit, Liebe und Hoffnung als gute Gefühle definieren. Das führt in eine Sackgasse. Denn Emotionen sind Hormonausschüttungen. Hoffnung hat aber mit Vertrauen zu tun – Gottvertrauen, Selbstvertrauen und Vertrauen in den Ehepartner. Dieses Vertrauen muss wachsen können, was Zeit braucht.