Doreen Schwarz
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Michael Spitzbarth

Der Unbeirrbare

Michael Spitzbarth produziert mit seinem Label picea verantwortungsbewusste Mode in Deutschland. Unmöglich, sagen einige. Und vielleicht haben sie recht: Schließlich scheiterte Spitzbarth schon einmal mit einem ähnlichen Projekt. Beim zweiten Anlauf wird alles besser, sagt er – obwohl er längst nicht alles anders macht.

Matthias Dittmann
Matthias Dittmann
8 min

Michael Spitzbarth legt seine Hand auf den Stoff, der aus der Webmaschine kommt. Er fährt mit den Fingern über die eingewebte Darstellung einer Fichte. Sie ähnelt dem Logo seines neuen Labels picea. Das Symbol hat er früher schon in einigen Kollektionen seines inzwischen insolventen Unternehmens bleed eingesetzt. Es steht für die Natur des Frankenwaldes, Spitzbarths Heimat. Und für die Stille, die dort draußen zu finden ist.

Wir produzieren möglichst viel in Deutschland.

Die Decke aus der Webmaschine der Weberei Georg Chr. Wirth im oberfränkischen Örtchen Helmbrechts gehört zur ersten Kollektion von picea. Das Label für verantwortungsbewusste, nachhaltige Mode und Heimtextilien ist gewissermaßen die Fortsetzung von bleed. Einen Teil der damaligen Produkte kann man so ähnlich auch wieder bei picea kaufen. »Wir haben Leute aus der Community gefragt, was sie gerne behalten wollen. Und die Decke gehörte dazu«, erklärt Spitzbarth. Ein anderer Wunsch war die fränkische Jeans. Der Stoff für diese wird ebenfalls in der Weberei Wirth hergestellt, die restlichen Arbeitsschritte übernehmen andere Unternehmen aus der Region. »Levi Strauss und damit die Jeans kommen ja hier aus der Gegend«, erklärt Spitzbarth. »Wir wollten die Jeans wieder nach Hause holen.« 

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Weder Jeans noch Decke sind allerdings Gründe für den Besuch in der Weberei: Eine Musterung steht an. Heute bekommt Spitzbarth zum ersten Mal seine neuen Campinghandtücher zu sehen – und zu fühlen. Der 43-Jährige hat das schon Hunderte Male erlebt. Ganz so aufgeregt wie zum Beginn seiner Karriere als Textilunternehmer vor siebzehn Jahren ist er nicht mehr. »Aber es fühlt sich immer noch an wie Weihnachten.«

Innovationskraft gegen Textilfrust

Etwa einmal pro Woche ist Spitzbarth hier in der Weberei und tauscht sich mit Geschäftsführer und Erbe Florian Wirth aus. In dem kleinen Büro über der Webhalle, zwischen Stoffen, Garnen und Mustern besprechen sie neue Kollektionen und Strategien. »Wir versuchen, mit picea möglichst viel in Deutschland produzieren zu lassen«, sagt Spitzbarth. »Bei Heimtextilien, wie dieser Decke, klappt das gut. Aber im Bekleidungsbereich ist es schwer.« Wirth gibt ihm recht: »Man kann in Deutschland etwa kaum noch Garne kaufen. Große Teile der Industrie sind abgewandert. Das liegt am Lohnniveau, an den Stromkosten und der ausufernden Bürokratie.«

Spitzbarth ist dennoch überzeugt von der Notwendigkeit seines Ansatzes: »Die Textilbranche ist in vielerlei Hinsicht problembehaftet. Wir haben den zweitgrößten CO2-Ausstoß aller Industriezweige. In der Atacamawüste in Chile gibt es eine Textildeponie voller Fast-Fashion-Rotz, so groß, die kannst du aus dem Weltall sehen. Unsere Ozeane werden immer stärker durch Mikroplastik verschmutzt – maßgeblich von der Textilindustrie.« Er zählt noch Dutzende weitere Gründe auf, redet sich richtig in Rage. 

Spitzbarth studierte Textildesign, arbeitete als freier Designer für verschiedene Marken. Schon damals fragte er sich, ob man Mode nicht auch anders machen könne. »All diese Probleme fallen uns gerade Vollgas auf die Füße. Klar muss auch ich Produkte verkaufen, um davon zu leben. Aber mir geht es vielmehr darum, diese Probleme zu kommunizieren und mich ihnen mit Innovationskraft zu stellen.« Mit diesem Ansatz scheiterte er.

Corona, Ukrainekrieg, Insolvenz

Es ist schwierig genug, verantwortungsbewusste Mode zu produzieren. Den Vertrieb dafür dauerhaft auf die Erfolgsspur zu bringen, stellt jedoch eine ebenso große Herausforderung dar. Und genau diese führte zur Insolvenz von Spitzbarths erstem Modelabel bleed. Fünfzehn Jahre zuvor hatte er es gegründet. »Das war Pionierarbeit. Außer bleed gab es nur eine Handvoll nachhaltige Marken und viele hatten dieses Müsli-Image.« Aber Spitzbarth nutzte seine Erfahrung als Textildesigner und seine Kontakte als Profiskater. Mit bleed wuchs auch die Nachfrage nach verantwortungsbewusster Mode. 

»Während Corona gingen dann viele Einzelhändler pleite. Wir schlossen die Lücke mit großen Onlinehändlern.« Doch dann kam der russische Überfall auf die Ukraine. Die Energiepreise und die Lebenshaltungskosten schnellten in die Höhe. Die Menschen gaben weniger Geld für Mode aus, darum erfüllten die großen Händler ihre Verträge nicht, Spitzbarth blieb auf seinen Klamotten sitzen. Auch der Klimawandel leistete seinen Beitrag: »Ein milder Winter, und du kannst deine Wintersportkollektion in die Tonne schmeißen.« 

Du kannst in solchen Zeiten kaputtgehen.

Als Spitzbarth das Unglück kommen sah, suchte er Großinvestoren, aber die wollten in erster Linie günstig an die Markenrechte von bleed kommen. Er suchte Kleininvestoren, doch das reichte nicht aus. Also musste er Kündigungen aussprechen. »Es ist furchtbar, Mitarbeiter rausschmeißen zu müssen«, sagt Spitzbarth. »Aber es war klar, dass wir kleiner werden müssen.« Letztlich versuchte er, bei seinen Hausbanken Überbrückungskredite zu erhalten. Zwei Banken waren dazu bereit – die dritte nicht. Am Ende scheiterte es an einem mittleren fünfstelligen Betrag. 

Die Stille vor dem Abgrund

Spitzbarth und Wirth verlassen das Büro. Über eine Stahltreppe geht es hinab in die Industriehalle mit ihren siebzig Webmaschinen, gut die Hälfte davon rattert vor sich hin. Es ist kaum möglich, sich zu unterhalten. Hier und da tönt ein lautes »Hey« durch die Gänge, wenn einer der Mitarbeiter einen anderen auf etwas aufmerksam machen will. »Früher war es noch lauter hier«, schreit Wirth. »Wir hatten sechs Luftdüsenwebmaschinen. Das hört sich an, als ob ein Helikopter neben dir startet.« Spitzbarth wirft noch einen Blick auf seine Decke, packt seine Sachen und geht zwischen den Webstühlen hindurch Richtung Ausgang. Als die Tür ins Schloss fällt, fühlt es sich an, als hätte sie den Lärm der Webmaschinen verschluckt. Es herrscht Stille.

Ein paar Kilometer weiter beginnt der Frankenwald mit seinen sanften, bewaldeten Hügeln. Hier wachsen auch fränkische Fichten, Inspiration für das Motiv auf der Decke und das Logo von picea. »Draußen in der Natur zu sein, mich zu reflektieren, das hat immer gut funktioniert für mich«, sagt Spitzbarth. »Und gerade nach mental belastenden Phasen wie der Insolvenz war das genau der richtige Weg. Du kannst in solchen Zeiten kaputtgehen als Mensch. In diesen Abgrund habe ich geschaut. Da hat nicht viel gefehlt.« Spitzbarth spürte den Rückhalt seiner Familie und nutzte die Zeit, um in die Stille zu gehen und zu reflektieren: »Welche Fehler habe ich gemacht? Was sollte ich anders machen?« 

Der Ochsenkopf, Frankens einziges Skigebiet, ist nicht weit. Spitzbarth ist gern dort oben. Früher war er Profiskater, seit der Insolvenz gibt er Snowboardunterricht. Hier draußen trifft er auch Hans-Georg Frank wieder, einen Freund aus Kindergartentagen. Frank ist Einzelhändler, führt ein Sportgeschäft in Hof. Auch er kommt also aus der Modebranche. Spitzi und HG, wie sie sich nennen, teilen nicht nur ähnliche Werte, sondern auch ihre Begeisterung für Outdoorsport. Schnell entwickeln sie die Vision einer nachhaltigen, zukunftsorientierten Marke. Pioniere wollen sie sein und den von bleed eingeschlagenen Weg noch radikaler weitergehen: mehr Regionalität, mehr Nachhaltigkeit, mehr Verantwortungsbewusstsein. Und auch andere dazu inspirieren, ebenfalls neue Wege zu gehen.

»Die Ruhe nach der Insolvenz war ja nicht ganz freiwillig«, gibt Spitzbarth zu. »Stille und Zeit für Reflektion sind wichtig. Doch wenn auf die Stille ein schwarzes Loch folgt, wird es schwierig.« Und so war Spitzbarth froh, wieder Vollgas geben zu können. Wenige Monate später ging es los: In Rekordzeit verwoben die beiden bewährte Konzepte, neue Ideen und Visionen. Im Advent standen sie im Keller von Franks Sportgeschäft und packten Hunderte Päckchen, die bis Weihnachten bei der Kundschaft sein mussten. »Das war stressig, aber echt okay so. Haken dran. Geschafft. Geil!« 

Weniger, aber radikaler

Vor der Weberei geht es weiter zu Franks Sportgeschäft. Der stellt gerade einen Skischuh ein, hat eigentlich im Lager zu tun und an der Infotheke wartet Kundschaft. Er zieht sich schnell ein T-Shirt von picea über und posiert für ein paar Fotos. Hinter ihm hängt die Kollektion, daneben Campinghandtücher. Auf einem Tisch liegen die fränkischen Jeans, Socken und Mützen. Preisschilder fehlen. Denn: Der Vertrieb bei picea funktioniert etwas anders: »Wir stellen on demand her«, erklärt Frank. »Die Kunden bestellen und dann produzieren wir genau das, was sie brauchen. Wir haben zum Beispiel Socken in Größe 47 bis 50 produziert. Sowas hätten wir niemals aufs Lager gelegt. Das Risiko, auf solchen Größen sitzen zu bleiben, ist viel zu groß.« Kunden können zudem beim Check-out freiwillig mehr bezahlen – und dadurch ein ebenfalls regionales Recyclingunternehmen unterstützen, das aus Textilmüll neues Garn produziert. Spitzbarth verrät: »Bei unserer ersten Bestellrunde vor Weihnachten haben das fast alle unsere Kunden gemacht.«

Von diesem System profitieren also alle: Die Mitarbeiter in der Produktion, weil faire Löhne gezahlt werden können. Die Hersteller, weil die Kalkulation einfacher ist. Die Kunden, weil auch Sondergrößen hergestellt werden. Und die Umwelt, weil auf diese Weise Überproduktion und Textilmüll verhindert wird. Frank ist jedenfalls überzeugt davon: »Der Weg, den wir hier anstoßen, ist für Händler und Hersteller eigentlich genau derjenige, den wir in Zukunft alle gehen müssten.«

Und dann muss Frank schon wieder weiter: Die Kunden an der Infotheke warten noch – und zu Hause die Familie. Spitzbarth ist froh, seinen alten Freund im Unternehmen zu haben: »Er hat gefehlt bei bleed. Es ist gut, diese beiden Talente in einem Unternehmen zu haben: den Kreativen und den Zahlenmenschen.« Und genau das ist auch der Grund, warum Spitzbarth von picea überzeugt ist. »Mit bleed waren wir über viele Jahre profitabel. Wir haben zahlreiche Preise gewonnen: Branchenpreise, Designpreise und Nachhaltigkeitspreise. Das Konzept war definitiv richtig.« Was aber fehlte, war Hans-Georg Frank und sein finanzielles Wissen, sein Gespür für wirtschaftliche Effizienz. Und so wird picea weniger machen als bleed damals: weniger Produkte, weniger Kollektionen. »HG und ich, wir haben uns das ganze Zahlenmaterial aus fünfzehn Jahren bleed angesehen und auf dieser Basis entschieden, wie das Portfolio von picea aussehen sollte.« Die fränkische Jeans und die Outdoordecke mit dem Fichtenmotiv sind jedenfalls wieder dabei.

Michael Spitzbarth

Michael Spitzbarth

Er wuchs im oberfränkischen Hof auf, mitten in einer traditionsreichen Textilregion. Draußen sein, Sport machen – das gehörte schon immer zu seinem Leben. Mit Anfang 20 wurde er Profiskater. Später studierte Spitzbarth Textildesign in Münchberg und arbeitete dann als Freelancer für verschiedene Sport- und Outdoormarken. Mit 27 gründete er das Modelabel bleed und gewann zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Er ist verheiratet und hat eine Tochter.