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Regula Sulser

Lieferservice mit Herz und Hoffnung

Nie im Leben wollte sie Chefin werden. Nicht im Traum dachte sie daran, je ein Unternehmen zu gründen. Heute beschäftigt Regula Sulser über dreißig Mitarbeitende und liefert mit ihrer Firma Gourmet Domizil täglich Hunderte Mahlzeiten bis zur Wohnungstür. Als Supplements gibts: Zeit und ein offenes Ohr.

Ladina Spiess
Ladina Spiess
9 min

Regula Sulser stand am Tiefpunkt ihres Lebens. Aufgewachsen in einem Elternhaus, das von Bitterkeit und Depressionen geprägt war, steckte die damals 32-Jährige selbst in einer schweren Depression und war in ärztlicher Behandlung. Sie war enttäuscht vom Leben allgemein und von Gott im Speziellen. Sie besuchte zwar den Gottesdienst, betete und engagierte sich über die Maßen in der Kirche. Das alles fühlte sich jedoch schwer und anstrengend an. Freude, Lebensfülle, Sinnhaftigkeit? Fehlanzeige! Davon las sie zwar in der Bibel, für sie schien es nicht zu gelten. In dieser dunklen Zeit wagte sie zum ersten Mal, ihren Glauben zu hinterfragen und sagte zu Gott: »Jetzt reichts. Wenn ich nicht zumindest ein kleines Stück davon erleben kann, was du den Menschen in der Bibel versprichst, dann wars das mit uns.«

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»Täglich, aber nicht alltäglich«: Gourmet Domizil liefert vor allem Seniorinnen und Senioren frische Menus direkt an die Tür oder in den Kühlschrank.
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Wenige Tage später saß Regula in ihrem Zimmer und starrte ins Leere. Da sauste ihr plötzlich das Wort »Mahlzeitendienst« durch den Kopf. Sie war verwirrt und konnte im ersten Moment nichts damit anfangen. Sie wusste allerdings mit Bestimmtheit, dass Gott ihr diesen Gedanken geschenkt hatte.

Eine außergewöhnliche Berufung

Der Gedanke nahm Gestalt an und ihre ersten Kunden waren ihre über neunzigjährige Großmutter und eine krebskranke Tante. Schnell sprach sich herum, dass eine junge Frau die beiden Seniorinnen bekochte, und schon bald kamen neue Kunden dazu. Bei zwölf Kunden angelangt, sagte Regula Sulser zu Gott: »Voilà, jetzt hast du deinen Mahlzeitendienst. Auftrag erledigt!« Ein Ausbau des Geschäftsmodells, geschweige denn Personal einzustellen, kam für sie nicht infrage. Sie wuchs mit einem Vater auf, der allabendlich nach der Arbeit über seine Chefs schimpfte. Regula kam zum Schluss, dass Führungskräfte böse Menschen und Arbeitnehmende Opfer sind. Also waren eine Leitungsfunktion und Personalführung undenkbar.

Ich habe geschwitzt, als der Inspektor kam.

Von dieser Prägung musste sie sich lösen. Weil ihr die Arbeit viel Freude machte und sie nicht alles allein stemmen konnte, bemühte sie sich um eine Teilzeitangestellte. Auf ein erstes Inserat meldeten sich dreißig Personen. Keine passte für die Aufgabe und Regula Sulser machte sich über ihre Ansprüche an Mitarbeitende ernsthaft Gedanken. Zur gleichen Zeit erhielt sie aus ihrem Umfeld den Hinweis, dass Eliane, eine junge Witwe mit zwei kleinen Kindern, möglicherweise an einer Stelle Interesse haben könnte. »Ich hatte sie fünf Jahre nicht gesehen, ich konnte sie nicht einfach anrufen und fragen, ob sie eine Teilzeitstelle sucht«, tat Regula Sulser diesen Vorschlag ab. Zwei Tage später betrat sie ein Lebensmittelgeschäft, in dem sie noch nie einkaufen war. Und wer steht zwischen den Gemüseablagen? Eliane! Der Rest ist Geschichte. Eliane arbeitet noch heute, 23 Jahre später, bei Gourmet Domizil. 

Eigentlich wollte Regula Sulser Handarbeitslehrerin werden. Allerdings nur so lange, bis ihr bewusst wurde, dass in diesem Beruf nicht nur Stricken, Nähen und Basteln gefragt war, sondern pädagogische und methodische Fähigkeiten. Ein Kochkurs in der Schule verhalf ihr zu einer neuen beruflichen Perspektive. Sie wollte Köchin werden, obwohl sie keine Ahnung vom Kochen hatte. Die Ausbildung erwies sich als stabiles Fundament für den Mahlzeitendienst. Zu Beginn kochte sie in ihrer Privatwohnung. Ihr Unternehmen rief auch das Lebensmittelinspektorat auf den Plan. 

»Diesen Besuch vergesse ich nie. Ich habe geschwitzt, als er in mein Wohnzimmer trat: Auf dem Tisch lag Verpackungsmaterial für die Mahlzeiten, am Boden stand der Käfig mit meinen Meerschweinchen«, erzählt sie und lacht. Entweder hat der Inspektor die Tiere nicht gesehen oder er hat beide Augen zugedrückt. Für die junge Unternehmerin war spätestens nach diesem Besuch klar, dass sie sich für neue Betriebsräume umschauen musste.

Mahlzeit für Leib und Seele

So kam es, dass ein älteres Restaurant in Zürich zum Standort von Gourmet Domizil wurde. Das Angebot beschränkte sich nicht nur auf den Mahlzeitenlieferdienst. Über Mittag bot Regula Sulser mit ihrem Team im Restaurant diverse Menüs an. Hinzu kamen Seniorenfeste mit Dreigangmenüs, Musik und Geschichten. Bald platzte der Raum aus allen Nähten. Sulser war mitten in der Planung eines Neubaus, als ihr ein Restaurant in Regensdorf zum Kauf angeboten wurde. Innerhalb weniger Tage entschied sie sich, die Räumlichkeiten mit Inventar zu übernehmen. Seit dem Tag, als das Wort »Mahlzeitendienst« durch ihre Gedanken sauste, geht es ihr um mehr, als schmackhafte Menüs auszuliefern. »Einige wenige nehmen den Dienst in Anspruch, weil sie keine Freude am Kochen haben, andere brauchen nach einem Spitalaufenthalt unsere Unterstützung. Der größte Teil unserer Kundschaft ist jedoch gebrechlich, schwer krank, psychisch angeschlagen oder dement. Ihnen wollen wir uns widmen, ihnen Zeit und ein offenes Ohr schenken«, erklärt Regula Sulser. 

Unsere Kundschaft braucht ein offenes Ohr.

»Die Menschen haben das Bedürfnis, zu erzählen, zu klagen oder einfach einen kurzen Schwatz zu halten. Viele von ihnen haben nur noch wenige soziale Kontakte. Da tut es gut, wenn jemand von Gourmet Domizil vorbeikommt«, meint die Geschäftsinhaberin. Deshalb ist es ihr besonders wichtig, dass sie im Lieferteam Mitarbeitende hat, welche die nötige Empathie und Geduld mitbringen. Das gilt auch für jene, die am Telefon eine Bestellung entgegennehmen. Kann jemand den Menüplan nicht lesen, helfen die Mitarbeitenden weiter. Klagt ein Kunde über Appetitlosigkeit, erkundigt sich das Team von Gourmet Domizil nach dem Lieblingsmenü. »Ich bekomme für die Freundlichkeit und Offenheit meiner Mitarbeitenden mindestens so viele Komplimente wie für unser Produkt«, freut sich Regula Sulser.

Begleitung am Sterbebett

Die Kundschaft teilt Lebensgeschichten, Sorgen, Ängste mit ihr und ihren Mitarbeitenden. Sie berichten von Krankheiten, Einsamkeit und Todesfällen. »Es kann vorkommen, dass am Telefon zwischen einem Hauptspeise- und Dessertwunsch der Satz ›Ich will eigentlich gar nicht mehr leben‹ fällt. Ich bin keine Psychologin, aber ich kann sie ermutigen und ihnen Hoffnung geben. Oftmals reicht es, zuzuhören, manchmal entstehen tiefe Gespräche, die etwas länger dauern.«

Regula Sulser erwähnt in solchen Gesprächen oft ihr Vertrauen in Gott und davon, dass ihr der Glaube Hoffnung gibt. »Daraus mache ich kein Geheimnis, das kann man auch auf der Website von Gourmet Domizil nachlesen.« Dass es nicht bei allen gut ankommt, kann sie verstehen. »Wenn jemand sagt: ›Hör auf mit dem Blödsinn‹, dann akzeptiere ich das«, meint die 57-Jährige. »Aber irgendwo bleibt aus den Gesprächen doch was hängen«, ist sie überzeugt. Wie zum Beispiel bei jener Kundin, die sie aus der Intensivstation kontaktierte. Mit dem Einverständnis der Angehörigen besuchte Regula Sulser die Frau, einen Tag später starb sie. »Wenn jemand am Sterbebett an uns denkt, dann ist das schon außergewöhnlich, nicht wahr?« Was auch für die drei langjährigen Kunden gilt, die sich für einen Freitod entschieden und sich vorher persönlich bei Regula Sulser bedankt und verabschiedet haben. 

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Teamstärkung und Integration

Für Regula Sulser ist das Team ein tragender Pfeiler des Erfolgs von Gourmet Domizil. Dementsprechend hat die Mitarbeitenden-Betreuung hohe Priorität. »Es ist nebst der Hoffnung, die ich unserer Kundschaft vermitteln kann, mein zweites großes Ziel als Unternehmerin«, meint Regula Sulser und erklärt, was sie darunter versteht. »Mich interessieren die Menschen, die bei und mit mir arbeiten. Einmal pro Tag laufe ich durch den Betrieb und frage regelmäßig nach ihrem Befinden. Nur so habe ich zum Beispiel erfahren, dass ein Familienvater in einer schwierigen Lebenssituation steckte. Mit einem Lohnvorschuss konnte ich ihm über die Runden helfen«, erwähnt sie ein konkretes Beispiel.

Zudem integriert die Unternehmerin in ihrem Team Menschen, die kaum Hoffnung auf einen Job im ersten Arbeitsmarkt hatten. »Das Team macht das hervorragend. Die Mitarbeitenden sind richtig stolz darauf, dass sie schon einigen Kolleginnen und Kollegen eine Perspektive geben konnten«. Früher hätte ihr das alles Angst gemacht. Alles, was aus ihrer Sicht herausfordernd und schwierig schien. »Ich hatte immer die Worte meiner Eltern im Kopf: ›Das kannst du nicht.‹« Die Angst ist dem Vertrauen gewichen. Die vielfältigen Aufgaben, Personalführung inklusive, machen ihr viel Freude. Turbulente Situationen bedrohen sie nicht mehr und sie kann in stressigen Momenten die Ruhe bewahren. Diesen Wandel beschreibt sie mit einem Satz: »Gott hat mich stark gemacht.«

Ich bespreche alles mit meinem Auftraggeber: Gott.

Krebs, Pandemie, Probleme

Die Unternehmerin erlebte schon einige Tiefschläge. Anno 2005 zum Beispiel. Sie ging zum Arzt und kam mit der Diagnose Brustkrebs nach Hause. »Es war ein Schock. Die Diagnose an und für sich und die Tatsache, dass ich keine Stellvertretung hatte. Im Geschäft hing alles an mir, ich konnte nicht ausfallen«, erinnert sie sich. Das ging so weit, dass sie nach der Operation eines Abends samt Wundschlauch während vier Stunden das Krankenhaus verließ, um im Büro die wichtigsten Dinge zu erledigen. Es folgten fünf Wochen, in denen sie täglich zur Bestrahlung musste. Trotzdem blieb sie zu hundert Prozent im Geschäft präsent. »Ich war sehr gefordert, körperlich und seelisch am Limit. Aber ich fühlte mich jederzeit wunderbar getragen«, schaut sie auf die intensive Lebensphase zurück.

Finanziell lief es auch nicht immer rund. »Es gab Zeiten, da war ich bei meinen Lieferanten in Zahlungsverzug. Die langjährigen Partnerschaften kamen mir zugute. Alle haben mir den Aufschub gewährt, was mich mit Dankbarkeit erfüllte.« Die Covid-Pandemie brachte weitere Herausforderungen. Zwar lief der Mahlzeiten-Lieferdienst auf Hochtouren, die pandemiebedingte Schließung des Restaurants führte jedoch zur definitiven Einstellung des Gästebetriebs. Personal musste sie glücklicherweise nicht entlassen. Sie konnte alle Restaurant-Mitarbeitenden betriebsintern einsetzen. »Für mich war in jeder Krise klar, dass es trotz den großen Hürden, die ich nehmen musste, weitergehen würde«, meint Regula Sulser.

Gebet und Rennrad

Kraft für ihre Aufgaben schöpft die Unternehmerin aus dem Gebet. »Das Gespräch mit Gott ist für mich äußerst wertvoll. Ich komme zur Ruhe, erzähle ihm, wie es mir geht und werde mit guten Gedanken beschenkt«, beschreibt sie diese Kraftquelle. Jeden Sonntagabend nimmt sie sich Zeit, mit Gott die Woche zu besprechen. »Gott hat mir 1999 die Idee für den Mahlzeitendienst geschenkt. Ich sehe ihn als Auftraggeber und deshalb bespreche ich alles mit ihm.« 

Kraft schöpft Regula Sulser auch auf Fahrradtouren. Sie fährt nicht nur täglich mit ihrem Rennrad zur Arbeit, sondern legt in ihren Ferien jeweils Hunderte von Kilometern zurück. Im Juni radelte sie von Zürich nach Hamburg, die nächste Tour mit Ziel Lyon ist bereits geplant. »Ich liebe es! Die Landschaften, die spontanen Begegnungen, das Tempo, das ich meiner Tagesform anpassen kann«, schwärmt sie. Auch wenn sie allein reist, fühlt sie sich nicht einsam. »Gott fährt auch Rennrad«, meint sie lachend.

Regula Sulser

Regula Sulser

Die Unternehmerin (57) feiert mit »Gourmet Domizil« bald das 25. Firmenjubiläum. Außergewöhnlich ist auch ihr musikalisches Talent: Regula Sulser spielt Kontrabass, Gitarre, Geige und Dobro, eine amerikanische Slide-Gitarre.