Klaus Motoki Tonn
Achtsamkeit gegen Stress – funktioniert das, Herr Trainer?
Einatmen, Ausatmen – und den leisen Rhythmus spüren. Auf solche Methoden setzen immer mehr Unternehmen, um ihre Belegschaft stressresistenter zu machen. Der Tausendsassa Klaus Motoki Tonn lehrt die Getriebenen die Stille.
Achtsamkeit im Beruf – ist das nur ein weiterer kalkulierter Hype? Ein Trick, mit dem Unternehmen Fach- und Führungskräfte locken? Oder steckt mehr dahinter? Ist es am Ende ein weiteres Indiz für einen Kulturwandel, eine Zeitenwende gar?
Er muss es wissen: Klaus Motoki Tonn, 47, Stratege, Berater, Gründer und einer der weltweit tausend zertifizierten »Search Inside Youself«-Trainer. Er arbeitet für Dax-Konzerne wie Roche und Daimler und seit über zehn Jahren für Landeskirchen und die Diakonie. Seit zwei Jahren lebt er in Lissabon, hat an Land und Leute, wie er sagt, sein Herz verloren und neben einem Eco-Fashion- auch ein Social-Impact-Projekt angestoßen, das Gründerinnen und Gründer unterstützt.
Herr Tonn, sind Sie heute im »Flow«?
(Zeigt den Smiley am Bildschirm.) Immer.
Fast jeder Großkonzern, der etwas auf sich hält, schickt seine Führungskräfte in Achtsamkeitskurse (englisch: Mindfulness). Was erhoffen sich Unternehmen davon?
Einen besseren Umgang mit Stress und höhere psychologische Sicherheit in Teams durch mehr emotionale Intelligenz. Achtsamkeit bedeutet vereinfacht gesagt, das Hier und Jetzt bewusst wahrzunehmen - körperlich und mental. Bei SAP ist »Search Inside Yourself« das erfolgreichste Mitarbeiterprogramm seit Bestehen der Firma.
Ist das lediglich eine Masche, um Personal zu gewinnen?
Sicher ist es ein Trend. Der Stress hat durch neue digitale Anforderungen stark zugenommen. Und natürlich wegen Corona. Aber ich bin vorsichtig, Achtsamkeit respektive Mindfulness zu verzwecken.
Was bedeutet der Trend im besten Fall?
Den Fokus auf Achtsamkeit werte ich als Erweiterung der Sprache, Grammatik und Kultur in Organisationen. Jahrelang haben wir an »Mindsets« und Verhaltensweisen geschraubt. Die Kurse heute nun liefern die Inhalte für eine echte Veränderung in der Unternehmenskultur. Und natürlich muss ich mich heute nicht nur als Führungskraft selbst verstehen (Schlagwort: Self-Awareness), um einen nachhaltig »gesunden« Umgang mit mir (Self-Management) und anderen – etwa meinem Team – zu gestalten.
Es gibt Berge an Literatur zur »Achtsamkeit«. Ist darunter etwas, das Sie überzeugt hat?
Ja. Journaling, also modernes Tagebuchschreiben als Selbstcoaching, hilft. Gut zu sich selbst und andern zu sein, also Self-Compassion und Compassion – achtsames Selbstmitgefühl respektive Mitgefühl – schützen vor empathischem Stress. Gerade Hochsensible, Lastenträger, Menschen in Pflegeberufen und so weiter profitieren davon.
Welche Erkenntnisse haben Sie verblüfft?
Die Erkenntnis, dass unser Gehirn sich auch noch im höheren Lebensalter weiterentwickelt, Stichwort Neuroplastizität. Das sind paradigmenhafte Erkenntnisse für die Neurowissenschaft – und gute Nachrichten für die Erforschung von Krankheiten wie etwa Demenz. »Lebenslanges Lernen« solle keine Floskel sein, sondern Realität werden. Unser Hirn ist eine erstaunlich ausbaufähige Bibliothek.
In Umfragen beklagt fast jede zweite Führungsperson, mit den Gedanken oft abzuschweifen. Gibts eine Art Crashkurs, um Abhilfe zu schaffen?
Ja, etwa unseren Onlinekurs bei finde-zukunft.de – es ist wie beim Sport: Sinnvoll sind kürzere, dafür regelmäßige Übungseinheiten.
Jeder zweite deutsche Mitarbeitende geht ungern zur Arbeit – wegen den Vorgesetzten. Ist ein achtsamer Manager ein besserer Manager?
Eine gute Managerin, ein guter Manager ist, wer den Menschen sieht und die Bedürfnisse des Teams kennt. Ein wesentlicher Punkt dabei: Als Führungskraft sollte ich ein geklärtes Verhältnis zu mir selbst haben. Plus eine gewisse empathische Grundkompetenz. Möglicherweise ist es kein Wunder, dass Empathie und emotionale Intelligenz bei den Top Skills seit 2020 unter den Top 5 sind. Alles andere sind fast nur noch technische Skills.
Wie definieren Sie Achtsamkeit im Beruf?
Achtsamkeit im Beruf ist die Kompetenz, mit einer hohen Aufmerksamkeit für sich und andere den Arbeitsalltag auf den Ebenen von Kognition, Emotion und Fachlichkeit zu gestalten. Je höher unsere Aufmerksamkeit, umso höher und besser die »Datenqualität« in den Bereichen, die unsere Entscheidungsfähigkeit verbessern. Und unsere Entscheidungen schaffen normative Grundlagen für den Umgang miteinander – »Decision making is sense making«. Entscheidungsfindung ist Sinnfindung.
Eng mit Achtsamkeit verbunden ist die emotionale Intelligenz, ein Konzept, das Daniel Goleman lanciert hat. Ist das »Empathie« auf Knopfdruck?
Goleman hat dieses »Framework« populär gemacht – dahinter steht meines Wissens ein komplexeres Modell von Peter Salovey und John D. Mayer. Die beiden haben Elemente wie kritisches und kreatives Denken erstaunlicherweise schon vor dreißig Jahren auf das Tableau gebracht. Sie erleben heute im Zeichen von »Design Thinking« eine Renaissance. Mit diesem Denkansatz versuchen immer mehr Firmen, komplexe Probleme anzupacken und Ideen zu entwickeln.
Sie haben Recht studiert, als Kommunikationsprofi gearbeitet und sich nun zum Trainer für »Search Inside Yourself« (SIY) ausbilden lassen. Jetzt trainieren Sie Führungskräfte mit dem Achtsamkeits-programm, das Google entwickelt hat. Was hat Sie zu dem Schritt motiviert?
Für mich war es eine zunächst von Neugierde und von journalistischem Interesse geprägte Entscheidung. Ich schrieb zu der Zeit kritisch darüber, dass sich Spiritualität, Sinnsuche und Achtsamkeit immer mehr in die Unternehmenswelt verlagerten. Dies ist sicherlich ein Phänomen unserer modernen Lebens- und Arbeitswelt. Zugleich empfinde ich es auch als Gefahr, wenn ich zentrale Lebensthemen mit meinem Arbeitgeber ausmache.
Google gilt als Datenkrake, forscht mit Calico am ewigen Leben – und dringt nun sozusagen in den Bereich der »Religion light« ein. Will Google dem Menschen ein Update verpassen, um die Digitalisierung zu pushen?
Klar, es fragt sich, wie wir uns im Zeitalter der künstlichen Intelligenz weiterentwickeln. Aber viele Entwicklungen zeichneten sich schon vor Google ab. Google ist einfach nur schlau, diese zu nutzen. Und danach hat sich das Ganze in einem gemeinnützigen Unternehmen (SIY Leadership Institute) verselbstständigt. Auch Non-Profit-Organisationen nutzen SIY und vergleichbare Programme.
Welche Erfahrungen machen Sie bei Ihren Seminaren?
Für alle, nicht nur die Teilnehmer und Teilnehmerinnen, ist es immer wieder erstaunlich, welche Tiefe – auch digital – in kurzer Zeit entsteht. Darüber hinaus finde ich es wunderschön, gemeinsame Zeiten in Retreat-Form zu gestalten. Wir nutzen dazu immersive Erlebnisse mit Kunst, Musik und leckerem Essen. Hoch interessant finde ich die Existenzialanalyse. Sie erforscht die Voraussetzungen für ein sinnerfülltes Leben. Dieser messe ich für die persönliche sinn- und werteorientierte Entwicklung eine große Bedeutung bei. Wir wenden vieles davon auch in der Arbeit mit jungen Menschen an, so zuletzt in unserer »Summer School«. Die Teilnehmenden erzählen mir heute noch über die nachhaltigen Effekte ihrer Zeit bei uns.
Was möchten Sie mit dem Konzept Achtsamkeit erreichen?
Ich freue mich über eine neue Offenheit. Und darüber, über Sachfragen hinaus ins Gespräch zu kommen, um so ein tieferes Verständnis füreinander zu entwickeln. Ich liebe die Idee des verstorbenen Priesters und Psychologen Henri Nouwen, der Zuhören als Akt von »Gastfreundschaft« definiert.
Ein schöner Gedanke.
Nouwen sagt: »Wir sind frei zu empfangen, willkommen zu heißen.« Zuhören ist viel mehr, als auf die nächste Gelegenheit zu warten, etwas von sich kundzutun. Das Schöne am Zuhören ist, dass diejenigen, denen zugehört wird, anfangen, sich angenommen zu fühlen. Sie beginnen, ihre Worte ernster zu nehmen und ihr eigenes wahres Selbst zu entdecken. Zuhören ist also eine Form der spirituellen Gastfreundschaft, durch die Sie Fremde einladen, Freunde zu werden, ihr Inneres vollständiger kennenzulernen und sogar zu wagen, mit Ihnen zu schweigen. Der Bestsellerautor Stephen Covey hat dies so ausgedrückt: »Seek first to understand, then to be understood.« Erst verstehen, dann verstanden werden.
Sie begleiten evangelische Kirchen und Diakonieverbände. Jetzt kommen Sie mit Menschen verschiedenster spiritueller Praktiken in Berührung. Haben Sie Überraschungen erlebt?
Oh ja – wer interreligiösem Austausch offen gegenüber ist, kann eine Menge lernen. Man lernt unterschiedliche spirituelle Zugänge kennen – und erkennt zugleich, wie der Pfarrer und Poet Kurt Marti sagen würde, dass mein Bild von Gott und mein Verständnis vom Glauben immer viel kleiner sind als Gott selbst.
Als Fußballfan ist mir der Sport heilig, aber als Fan von Bayern München habe ich nicht unbedingt Zugang zu Borussia Dortmund.
Richtig. Studien zeigen, dass unser Einfühlungsvermögen drastisch abnimmt, wenn wir es mit Menschen außerhalb unserer jeweiligen Gruppe zu tun bekommen. Mit Übungen kann man dies überwinden und Mitmenschlichkeit entdecken. Als Christ kann ich dies aber als Urauftrag verstehen: Was verbindet mich trotz aller Unterschiede mit anderen? Das ist angewandte Barmherzigkeit.
Training mit Atem- und Konzentrationsübungen sind ein wichtiger Bestandteil des SIY-Trainings. Welche Auswirkungen hat das Einüben auf den Führungsalltag?
Sie erhöhen das Bewusstsein für mich und meine Umwelt – auch für das, was über mich hinausgeht.
Die christliche Kultur verfügt über eine reiche Geschichte der Kontemplation. Was ist der Unterschied zur »Achtsamkeit«?
Da zitiere ich wieder Kurt Marti. Er hat einmal geschrieben: »Meditation ist nicht Gebet und Gebet ist nicht Meditation – aber das eine kann zum anderen führen.«
Wie bringen Sie als gläubiger Mensch Gebet und Achtsamkeit zusammen?
Man könnte sagen: Achtsamkeit hilft mir, besser zu verstehen, was ich im Gebet empfangen kann oder möchte. Und wer dies mag, kann auch über eine eigene Achtsamkeit besser verstehen, was er vor Gott bringen möchte. Wie sollen wir zu Gott beten, wenn wir nicht wissen, was uns umtreibt? Wie sollen wir gescheit beten, hören, empfangen, wenn wir selbst nicht innehalten? Das Gebet verändert nicht den, zu dem wir beten, sondern stets den Beter – wie es der Philosoph Sören Kierkegaard formuliert hat. Darum brauchen wir Zeiten, die mir die Wahrnehmung des Transformatorischen ermöglichen.
Stoßgebet versus zehnminütige Achtsamkeitsübung – was bewirkt mehr?
Auch Atmen ist mein Gebet.
Klaus Motoki Tonn
Mode, Kommunikation, Kirche. Klaus Motoki Tonn (47), geboren in Hannover, ist ein vielseitiger Unternehmer. Als Stratege und Berater befasst er sich etwa mit digitaler Ethik, privat wie beruflich fotografiert er bevorzugt analog. Er hat in den vergangenen zwanzig Jahren die Agenturen Lumen Design, Lumen Partners und shift gegründet; alle drei existieren bis heute. Tonn sieht sich als Ermöglicher und Wegbereiter: »Ich lege gerne Schienen, auf denen ich dann aber nicht selber rollen muss.« Die Suche nach Glaube und Gott hat ihn und seine Frau 2019 in sein Sehnsuchtsland Portugal verschlagen.