Philippe Rossier
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Joachim Schoss

Wie gelingt eine 180°-Wende?

Joachim Schoss’ Leben war geprägt von unternehmerischem Erfolg. Bis zu jenem Tag im November 2002. Bei einem Motorradunfall in Südafrika verliert er ein Bein und einen Arm. Dafür gewinnt er eine neue Lebensperspektive. Heute lebt er vor: Weniger kann auch mehr sein.

Ladina Spiess
Ladina Spiess
9 min

Joachim, wie viele Interviews hast du seit deinem Unfall gegeben?

Es waren schon einige. Es ist eigentlich nicht mein Plan, als Behinderter in die Geschichte einzugehen, aber vielleicht kann ich mit meinen Erfahrungen das Leben anderer Menschen positiv beeinflussen.

Du bist ein sehr erfolgreicher Unternehmer. Woher kommt dein Unternehmergen?

Gibt es ein Unternehmergen?

Du bezweifelst es?

Unternehmer sind bestens erforscht. Denn Investoren wollen wissen, ob es sich lohnt, in sie zu investieren. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass ein möglicher Erfolg nicht unbedingt mit Intelligenz, einer umfangreichen Ausbildung oder etwa Attraktivität zu tun hat. Es sind innere Überzeugungen, die erfolgreiche Unternehmer von weniger erfolgreichen unterscheiden. 

Wäre ich weiser gewesen, hätte ich mein Verhalten selbst ändern können.

Von welchen Überzeugungen sprichst du?

Erstens muss sich ein Unternehmer bewusst sein, dass er der Herr seines Schicksals ist. Niemand sonst ist verantwortlich für Erfolg oder Misserfolg. Die zweite Überzeugung ist die Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Es ist das Wissen – nicht der Glaube –, dass ich die Ziele, die ich mir setze, auch erreichen werde. Drittens braucht es Neugier, sich immer wieder in neue Themen einzuarbeiten. Und zu guter Letzt braucht ein Unternehmer eine innere Energiequelle, die ihn dazu bringt, um dreiundzwanzig Uhr ein Angebot für einen Kunden zu schreiben, selbst wenn die Abschlusschance bei einem Prozent liegt.

Und da ist nichts dabei, das dir in die Wiege gelegt wurde? 

Meine Eltern kamen nach dem Krieg von Ost- nach Westdeutschland, mit nichts mehr als den Kleidern am Leib. Mein Vater war Bauingenieur und hat sich für eine Stelle im öffentlichen Dienst entschieden. Als fünfköpfige Familie litten wir keine Not, führten aber über jeden Pfennig Buch. Vielleicht habe ich mir deshalb früh das Ziel gesetzt, irgendwann einmal 10 000 Mark im Monat zu verdienen.Joachim Schoss studierte nach dem Abitur Betriebswirtschaftslehre und heuerte dann bei einer Unternehmensberatung an. Mit 27 Jahren machte er sich selbstständig, entdeckte bald das Potenzial von Callcentern und baute mehrere davon auf. Im Jahr 1998 gründete er gemeinsam mit Arndt Kwiatkowski die Scout24-Gruppe. Schoss war größter Privatinvestor, Konzernchef und Verwaltungsratspräsident. Dieses Amt hatte er bis zum Verkauf an die Deutsche Telekom im Jahr 2003 inne.

Warum hast du dich selbstständig gemacht?

Mein Plan, diese 10 000 Mark im Monat zu verdienen (lacht). Im Ernst: Ich habe mir als Angestellter immer wieder Notizen gemacht, wie ich die Arbeit anders angehen könnte und sah da Potenziale. Zudem wollte ich herausgefordert werden und hatte Freude daran, andere zum Mitmachen zu bewegen. Ein weiterer Anstoß für meine Selbständigkeit war ein Erlebnis an einem Krisenmeeting bei einem Kunden. Ich war mit meinem obersten Chef da, der sich mit dem Krisenthema nicht ganz so gut auskannte wie ich. Trotzdem hingen ihm alle Anwesenden an den Lippen. Da habe ich realisiert, dass es ein Vorteil ist, wenn auf der Visitenkarte »Geschäftsführer« steht, damit die vorhandene Kompetenz auch geglaubt wird. Ich habe mich zunächst als Unternehmensberater selbstständig gemacht und mit dem erarbeiteten Erfolg und den wachsenden finanziellen Mitteln weitere Firmen gegründet. So hat sich eines aus dem anderen ergeben. 

Du warst jung und erfolgreich. Reden wir von den Schattenseiten.

Bis zum Unfall hatte beruflicher Erfolg die höchste Priorität. Von 1998 bis 2002 habe ich praktisch durchgearbeitet. Ich hatte auch ein Privatleben mit Freundinnen und dann sogar mit Kindern. Der Erfolg hatte aber einen hohen Preis. Ich war für meine Kinder kein besonders guter Vater. Den Fokus habe ich durch meinen Unfall geändert. Wäre ich weiser und vor allem stärker gewesen, hätte ich die richtige Veränderung vielleicht vorher selbst herbeiführen können. Ich hätte sagen können: »Wow, what a ride! Aber jetzt mache ich einen Schnitt und widme mich anderen Themen.« Nur, so war es nicht.

Es war ganz anders. Joachim Schoss war in Südafrika im Urlaub. Im November 2002 rammte ein betrunkener Autofahrer sein Motorrad – am letzten Ferientag. Dabei wurde Joachim das rechte Bein abgerissen und eine Schulter dermaßen zertrümmert, dass ihm vier Tage später auch der rechte Arm amputiert werden musste. Das war der Anfang einer langen Krankenhaus- und Rehabilitationszeit, in der er entscheidende Erfahrungen machte.

Wann hast du realisiert, dass dein bisheriges Leben vorbei ist?

Die Ärzte gaben mir wenig Überlebenschancen. Später machten meine Ärzte die Prognose, dass ich ein lebenslanger Pflegefall sein werde. Meine damalige Frau hatte nach dem zweimonatigen Krankenhausaufenthalt in Südafrika die Rückkehr in die Schweiz vorbereitet und bereits Pflegepersonen im Schichtdienst angestellt. Noch heute machen mich die destruktiven Prognosen der Ärzte wütend. Sie mögen statistisch zutreffen. Aber Statistiken motivieren uns Menschen nicht. Wenn ich aufgrund einer Prognose aufgebe, habe ich verloren. Wenn ich mich für das Leben entscheide, dann ist das auch mit den verrücktesten Einschränkungen möglich. Ich will an dieser Stelle so viel Mut machen, wie ich nur kann, dass man auch als Mensch mit einer Behinderung weiterhin gut leben, lieben, lachen kann. Man muss es jedoch wollen. Du merkst: Ich werde bei diesem Thema emotional. Aber das ist mir wirklich wichtig! Ich denke, dass mir in dieser Phase meine Unternehmer-Überzeugungen zugutekamen. 

Nebst deinem Überlebenswillen, was gab dir Kraft in dieser Zeit?

Die vielen Freunde und Familienmitglieder, die »per Zufall« in Südafrika Urlaub gemacht haben und mich besuchen kamen. In Wirklichkeit waren sie gekommen, um mich ein letztes Mal zu sehen. Ganz besonders mein Bruder, der mir oft stundenlang die Hand gehalten hat. Später dann auch die Liebe meiner heutigen Frau. Aber wirklich gerettet haben mich meine Kinder. Sie haben sich sehr gewünscht, dass ich bleiben möge. Deshalb bin ich wohl zurückgekommen.  

Du sprichst eine Nahtoderfahrung an.

Nach der Amputation meines Arms und multiplen Organversagen wurde ich eines Nachts notfallmäßig in den OP gebracht. Anfangs haben die drei Ärzte noch um mich gekämpft. Dann aber hat einer von ihnen den für mich inzwischen legendären Satz gesagt: »Den kriegen wir nicht mehr hin.« Sie haben angefangen, den Operationsraum aufzuräumen, und ich habe mich auf den Weg gemacht. Ich hatte mich bis dahin nie mit Nahtoderlebnissen beschäftigt. Mir wurde erst später bewusst, was ich da erlebt habe. Da war ein Tunnel, am Ende ein sehr einladendes, warmes Licht. Ein Ort voller Liebe. Ich habe innegehalten und mein Leben zog ungeschönt an mir vorbei. Irgendwann kam eine weitere Ärztin in den OP und sprach mit den anderen. Sie meinte, dass sie einen Eid geschworen hätten und solange noch ein Rest Leben in mir sei, alles Menschenmögliche tun sollten. Die Ärzte versuchten es nochmals. Als ich wieder da war, sprachen sie überrascht von einem Wunder.

Glaubst du seither an ein Leben nach dem Tod?

Ja, ich weiß seitdem, dass es weitergeht, und ich glaube, dass Gott da auf uns wartet. Als Jugendlicher habe ich täglich die Zeitung gelesen. Bei den Todesanzeigen habe ich mich über die Formulierung »Der Herr hat ihn heimgeholt« richtig aufgeregt. Heute verstehe ich diesen Satz zu hundert Prozent. Unser aller Zuhause ist auf der anderen Seite, im Jenseits, im Himmel oder wie immer man das nennen mag. Seither habe ich keine Angst mehr vor dem Tod.

Die Frage ist nicht, ob ich Chef war, sondern was für ein Chef ich war.

Wie hat sich dein Lebensfokus verändert?

Hätte ich am Morgen meines Unfalltags jemanden kennengelernt, hätte ich dieser Person von meinen fünftausend Mitarbeitenden erzählt. Ich hätte meine wirtschaftlichen Erfolge aufgezählt. Doch am Ende des Lebens geht es nicht um die finanzielle Bilanz, sondern um die menschliche. Es geht nicht darum, dass ich Chef war. Viel wichtiger ist, was für ein Chef, was für ein Vater, Bruder und Freund ich war.

Welche Gedanken und Emotionen kommen auf, wenn du an den Unfallverursacher denkst?

Kein Zorn, nur Kopfschütteln. Ich würde ihn wahrscheinlich fragen, weshalb er sich nie bei mir gemeldet hat. Er hatte zwei Monate Zeit, mich im Krankenhaus zu besuchen. Aber er kam nicht. Ich weiß, dass es ein gewagter Gedanke ist, aber ich glaube, dass es Gottes Wille war, dass ich meinen Fokus ändere. Ich hätte genug Gelegenheiten gehabt, habe es aber erst durch den Unfall geschafft. Warum sollte ich also auf den Unfallverursacher wütend sein, der mir schließlich diese Chance gegeben hat?

Und worauf richtest du deinen Fokus heute?

Zuerst kommt mein Wohlergehen. Das mag egoistisch klingen, aber ich muss gesund und stabil sein, um anderen etwas geben zu können. Im Austausch mit manchen Social Entrepreneurs, die sich physisch und psychisch kaputtmachen, wird mir immer wieder bewusst, wie wichtig die Selbstfürsorge ist. Aber: Das Leben ist arm, wenn man nur für sich selbst schaut. Ich fühle die innere Verpflichtung, für meine Liebsten zu sorgen, für die Familie und meine Freunde. Und die Ressourcen, die danach übrig bleiben, setze ich für eine bessere Welt ein. Jeder sollte sich Gedanken über diese Bereiche machen und sich fragen, wie er seine Ressourcen aufteilen kann. Viele Menschen verwenden viel zu viel Energie für die Optimierung ihres eigenen Lebens.

Joachim Schoss rief 2004 die Stiftungen »MyHandicap« und später »EnableMe« ins Leben. Sie fördern die Selbstbestimmung und Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Zudem gründete er an der Universität St. Gallen das »Center for Disability and Integration«. Schirmherr ist kein Geringerer als Bill Clinton.Kau

Ausgabe 34

Do not disturb

Dieser Text ist in goMagazin 34 erschienen. Bestelle die Print-Ausgabe mit weiteren inspirierenden Artikeln zu diesem Thema.

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Du möchtest unter anderem Menschen mit Behinderungen und chronischen Krankheiten im ersten Arbeitsmarkt integrieren. Bist du erfolgreich?

Es ist schon viel Gutes passiert, aber längst noch nicht genug. Im zwanzigsten Jahrhundert glaubte man, besonders menschenfreundlich zu sein, wenn man Behindertenheime und -werkstätten schafft. Erst jetzt wuchs das Bewusstsein, dass man Menschen mit Behinderungen keinen Gefallen tut, wenn man sie exkludiert. Auch ich selbst wollte nach dem Unfall mit meinen alten Arbeitskollegen zusammenarbeiten – und nicht in einer Behindertenwerkstatt landen.

Was sagst du Arbeitgebern, die Inklusion kritisch sehen? 

Ich betone die Chancen für sie. In Zeiten von Fachkräftemangel ist Inklusion unumgänglich. Eine Studie weist nach, dass von dreihundert befragten Teams jene innovativer sind, die Menschen mit einer Behinderung inkludieren. Sie helfen, Arbeitsprozesse effizienter zu gestalten. Ich bin ein Beispiel dafür: Mit einem Arm und einem Bein muss ich immer im Problemlösungsmodus sein. Ich kann gar nicht anders, als innovativ zu sein – davon profitiert auch mein Umfeld.

Joachim Schoss

Joachim Schoss

Er war erfolgsverwöhnt als Unternehmer, gründete Callcenter und die Scout24-Gruppe. Bis ein Motorradunfall ihn aus dem Alltag riss. Heute lebt Joachim Schoss mit einem Bein und einem Arm und mit sehr viel Engagement für Menschen mit Behinderung. Mit seiner zweiten Frau und vier gemeinsamen Kindern lebt er in der Schweiz und in Neuseeland. Aus früheren Beziehungen hat Joachim Schoss vier weitere Kinder.