Caroline von Kretschmann
Vom Luxus der Wertschätzung
Im Grandhotel von Caroline von Kretschmann sind die Gäste nicht König. Die Angestellten haben hier oberste Priorität. Mit ihrem Führungsstil sorgt die Chefin des Luxushauses im Familienbetrieb weit über Heidelberg hinaus für Aufsehen – und für eine ganz besondere Atmosphäre der Wertschätzung.
Frau von Kretschmann, Sie haben im Europäischen Hof die Vision, das herzlichste Fünfsternehotel Deutschlands zu werden. Was genau verstehen Sie darunter?
Was den Europäischen Hof ausmacht, ist die Herzlichkeit und der zugewandte Service unserer Kolleginnen und Kollegen und unserer Familie. Wir interpretieren Luxus nicht als goldene Wasserhähne oder den Bentley vor der Tür, sondern als Zeit und echte Aufmerksamkeit, die wir unserem Gegenüber schenken. Eng damit verknüpft ist unsere Mission, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen glückliche Momente erleben. Das geschieht, wenn sie gesehen werden und ihnen mit großer Achtsamkeit begegnet wird. Das spüren unsere Gäste und jeder, der das Haus betritt, vom ersten Moment an. Wenn Sie mit strahlenden Augen empfangen werden und jemand sagt: »Wie schön, dass Sie da sind«, beginnt genau dort der Unterschied.
Und wenn ich als Gast überhaupt keinen guten Tag habe?
Dann gehen wir achtsam damit um. Wir begegnen dem Gast mit aufrichtigem Interesse und Empathie und spulen nicht einfach ein Programm ab. Wir versuchen zu erspüren, was Menschen gerade brauchen: Ruhe oder ein Gespräch? Ein paar Blumen auf dem Zimmer oder einfach jemanden, der zuhört? Vielleicht sogar jemanden, der im wahrsten Sinne des Wortes die Hand hält. Wir beherbergen oft Menschen, die wegen schwerer Erkrankungen in Heidelberg sind. In solchen Momenten geht es nicht primär um perfekten Service, sondern um Zugewandtheit und Menschlichkeit. Nach diesem Prinzip behandeln wir jeden, der unser Haus betritt, egal ob Superstar, Königin, Postbotin oder Taxifahrer. Jeder Mensch verdient die gleiche Wertschätzung und denselben Respekt. Das ist ein tief verankerter Wert in unserer Unternehmensphilosophie und in unserem täglichen Wirken. Und das ist auch unser Verständnis von wahrer Gastfreundschaft.
Aber der Superstar trägt ungleich mehr zum wirtschaftlichen Gelingen Ihres Hauses bei …
Es gibt einen Spruch in der Hotellerie: »Wie wird man Millionär? Indem man Milliardär ist und ein Fünfsternehotel kauft, dann wird man es ganz schnell.« Natürlich müssen wir wirtschaftlich arbeiten, aber Geld war nie unser Antrieb. Es ist für uns sinnentleert. In guten Jahren schreiben wir im November schwarze Zahlen, in schlechten verzichtet mein Vater, der die Besitzgesellschaft führt, teilweise auf Pacht, damit die Hotelbetriebsgesellschaft durchhält. Der Vorteil ist, dass uns die Immobilie gehört. Als Familienunternehmen spielen wir das unendliche Spiel: Wir wollen nicht gewinnen, sondern möglichst lange im Markt bleiben. Ein Grand Hotel ohne kapitalstarken Investor im Rücken, so wie wir es sind, gibt es heute kaum noch. Wir führen das Hotel in der dritten und vierten Generation im Wissen, dass wir jedes Jahr scheitern könnten. Zugleich treibt uns ein höherer Sinn an: unsere Mission ist es, einen Ort zu schaffen, an dem Menschen glückliche Momente erleben. Das ist der Grund, warum wir hier jeden Morgen mit großer Leidenschaft und viel Herzblut unserer Aufgabe nachgehen. Wir sind Teil von etwas Größerem: einem Ort der Zugewandtheit, der Herzlichkeit und des Vertrauens, etwas, das Menschen gerade in unsicheren, turbulenten und digitalen Zeiten immer mehr zu schätzen wissen.
Sie sagen, dass Ihre Mitarbeitenden an erster Stelle stehen. Trotzdem erwartet der Gast in einem Grandhotel wie Ihrem doch eine exklusive Behandlung.
Zu Recht. Jeder erwartet in einem Grandhotel eine herausragende Behandlung. Zugleich sind wir der Überzeugung, dass das Gästeerlebnis nie besser sein kann als das Mitarbeitendenerlebnis. Wir haben uns daher vor zwölf Jahren entschieden, unseren Kolleginnen und Kollegen, die wir bewusst nicht Mitarbeitende nennen, die Hauptrolle zu geben. Sie stehen bei uns an erster Stelle, noch vor dem Gast und weit vor dem Unternehmen. Und das hat nichts Transaktionales. Wir sind nicht nett zu unseren Kolleginnen und Kollegen, damit sie nett zu unseren Gästen sind, damit wir mehr Umsatz machen. Es ist uns ein Herzensanliegen, dass es unserem Team wirklich gut geht. Dann können alle Großartiges leisten und über sich hinauswachsen. Deswegen verstehen wir uns im Sinne unserer Führungskultur der Servant Leadership als erste Diener unserer Kolleginnen und Kollegen.
Wie zeigt sich dieser Ansatz der dienenden Führung bei Ihnen konkret?
Dienende Führung beschreibt für uns einen Führungsstil, der die Mitarbeitenden und deren Bedürfnisse in den Fokus nimmt, mit dem Ziel, dass sie ihr ganzes Potenzial entfalten können. Es heißt für uns: unterstützen, begleiten, entwickeln, mit anpacken. Mehr vorleben, weniger vorgeben. Wenn Not am Mann ist, bedienen wir mit, bauen das Buffet auf oder räumen Tische ab. Meine Mutter ist mit über achtzig Jahren täglich um fünf Uhr im Haus. Sie ist unter anderem verantwortlich für das Housekeeping. Sie fegt auch mal die Terrasse, putzt die schlimmsten Ecken immer als Erste oder räumt mit den Kolleginnen und Kollegen einen Veranstaltungsraum aus.
Das ist für uns das Schönste an Führung: wenn andere größer werden, als wir es sind.
Die Seniorchefin als Zimmermädchen – das ist schon ungewöhnlich für ein Fünfsterne-Superiorhaus.
Und doch absolut authentisch für uns. Ohne unser Team würde hier nichts funktionieren. Wir wollen allen zeigen: Ihr seid Teil von etwas Größerem, Teil unseres gemeinsamen Traums, diesen Ort zu schaffen, an dem Menschen glückliche Momente erleben – und in einer gelebten Vertrauenskultur, die psychologische Sicherheit schafft. In einer Unternehmenskultur, in der Fehler erlaubt und Weiterentwicklung erwünscht ist. In einer solchen Kultur können Menschen über sich hinauswachsen. Ihnen wachsen sprichwörtlich Flügel. Das ist für uns das Schönste an Führung: wenn andere ihren Kraftplatz finden, ihr ganzes Potenzial entfalten und größer werden, als wir es selbst sind.
Wie vermitteln Sie Ihren Angestellten diese Kultur der Wertschätzung?
Indem wir sie vorleben, jeden Tag. Aber auch, indem wir uns aufrichtig bedanken für die Hingabe und Leidenschaft unserer Kolleginnen und Kollegen. Nicht beliebig, sondern balanciert. Genauso wie wir Vertrauen durch konstruktives Feedback balancieren, damit es nicht blind wird. Wir zeigen Wertschätzung auch durch Interesse, Präsenz und Fürsorge. Wenn eine Kollegin aus dem Housekeepingteam mit Sorgen zu uns kommt, etwa weil sie keinen Arzttermin für ihr herzkrankes Kind bekommt, dann nutzen wir unsere Kontakte, telefonieren herum, suchen Lösungen. Diese Freude, anderen etwas Gutes zu tun, trägt sich weiter ins Team und in den Umgang mit unseren Gästen. Es ist berührend, wenn diese mit Tränen in den Augen sagen: »Ihr wart in einer sehr schwierigen Zeit mein Zuhause.« Wir wollen kein Haus sein, in dem man vor Ehrfurcht erstarrt, sondern ein Haus, in dem für jeden Platz ist. Ein Ort, der hält und Wärme schenkt. Gerade in unsicheren Zeiten wird so ein Ort besonders wertvoll.
Ohne Humor würden wir in diesem fordernden Alltag manchmal untergehen.
Erzählen Sie doch mal von einem dieser besonderen Momente, die Sie schaffen wollen.
Einmal traf meine Mutter bei ihrem morgendlichen Rundgang um 5:30 Uhr fünf Bodyguards beim Training im Fitnessraum an. Sie brachte ihnen spontan Kaffee. Einer sagte daraufhin zu ihr: »Wir reisen mit unseren Chefs um die Welt und wohnen in Dubai, New York, London und Paris in den teuersten Hotels. Aber nur hier behandelt man uns mit derselben Achtung und demselben Respekt wie Sie.« So etwas ist für uns das schönste Kompliment!
Glückliche Momente bescheren Sie auch Ihren Followern auf TikTok, LinkedIn und Co.: Sie tanzen mit Ihren Angestellten, geben Kniggetipps für den Besuch im Luxushotel oder versteigern Ihren Weihnachtspulli. Die Clips sind teilweise um die Welt gegangen. Ist an Ihnen eine Influencerin verloren gegangen?
(Lacht.) Nicht geplant. Mir ist nur aufgefallen, dass wer in den sozialen Kanälen nicht vertreten ist, für einen Großteil der Menschen schlicht nicht existiert. Mein ursprüngliches Ansinnen war es, den Europäischen Hof als Medium zu nutzen, um unsere empathische und werteorientierte Unternehmensphilosophie in die Welt zu tragen. Aber ich habe schnell festgestellt, dass Menschen eher Menschen folgen, nicht Unternehmen. So bin ich in diese Personenmarke quasi hineingerutscht. Heute folgen mir auf TikTok und LinkedIn jeweils knapp 25 000 Menschen. Dazu kommen viele Podcasts, Artikel und Fernsehauftritte. Etwa fünf bis acht Prozent unserer Gäste kommen mittlerweile wegen dieser Sichtbarkeit. Das zeigt, wie wichtig persönliche Präsenz ist.
Für die Postings holen Sie oft auch Teammitglieder mit ins Boot.
Sichtbarkeit ist eine Form der Wertschätzung. Wir posten auch – und insbesondere – diejenigen, die normalerweise im Hintergrund wirken. Zum Beispiel unsere Schneiderinnen, die Handwerker oder unsere Spüler. Und wir bedanken uns bei ihnen. Führung ist auch Fokussierung von Aufmerksamkeit. Da, wo Sie als Führungskraft hinschauen, entsteht soziale Relevanz. Wenn wir unsere Schneiderin, unseren Spüler oder Handwerker auf die Bühne holen, sagen wir: Ihr seid wichtig. Jeder ist wertvoll. Ihr seid Teil unseres Erfolgs. Nur gemeinsam sind wir stark.
In Ihren Social-Media-Clips schwingt oft viel Humor mit. Wie wichtig ist dieses Ressource für Sie im doch manchmal harten Hotelbusiness?
Essenziell. Humor ist eine ganz wichtige Ressource. Er ist ein Teil unserer familiären und organisationalen Resilienz. Ohne Humor würden wir in diesem fordernden Alltag manchmal untergehen. Wo gelacht wird, entsteht Verbindung. Wenn bei uns irgendwo nicht mehr gelacht wird, werde ich sofort hellhörig und frage mich: Was ist da los?
Wie könnte die Situation für dieses Haus in zehn oder zwanzig Jahren aussehen?
Ich hoffe gut. Unsere Branche befindet sich in einem fulminanten Konsolidierungsprozess. Die kleinen, privat geführten Betriebe verschwinden zunehmend, die großen internationalen Kettenbetriebe werden immer größer. Ich hoffe, dass es uns in zwanzig Jahren noch gibt und wir uns in unserer Nische behaupten konnten. Dass wir dann immer noch ein Ort sind, der berührt – als analoge, menschliche Gegenkraft in einer digitalen, schnelllebigen Welt. Vielleicht sagen Menschen dann: »So ein Haus gibt es nur noch ganz selten.« Ein Ort, an dem man als Mensch gesehen wird. Vielleicht sogar ein Stück heile Welt inmitten des digitalen Sturms. Heute schrieb ein Gast in einer Rezension: »Man betritt ein glückliches Haus.« Das hat uns sehr berührt.
Der Europäische Hof hat es ja auch in der Vergangenheit immer durch schwierige Zeiten geschafft.
Ja, das stimmt. Unsere Geschichte ist voller Herausforderungen, von Weltkriegen über Golfkriege, Finanz- und Wirtschaftskrisen bis hin zu Pandemien. Das macht demütig, weil man weiß: Es kann jederzeit ganz anders sein. Und es zeigt: Nichts ist selbstverständlich. Diese Haltung hilft uns, durch unsichere Zeiten zu navigieren mit einem starken inneren Kompass.
Do not disturb
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KaufenIn der Bibel gibt es eine interessante Geschichte: Eine Frau Namens Martha lädt Jesus und seine Jünger in ihr Haus ein. Während sie sich um das Wohl ihrer Gäste sorgt, sitzt ihre Schwester Maria bei Jesus und hört ihm zu. Daraufhin fragt Martha: »Herr, findest du es richtig, dass meine Schwester mich die ganze Arbeit allein tun lässt? Sag ihr doch, sie soll mir helfen!« – »Martha, Martha«, erwiderte Jesus, »du bist wegen so vielem in Sorge und Unruhe, aber notwendig ist nur eines. Maria hat das Bessere gewählt, und das soll ihr nicht genommen werden.« Wie bewerten Sie als Hotelchefin die Szene?
Eine wunderschöne Geschichte! In unserem Haus braucht es natürlich beides. Aber am Anfang steht das Zugewandtsein, die Präsenz, das Zuhören und das Spüren, was der andere braucht. Wir wollen Zeit und Aufmerksamkeit schenken noch vor den köstlichen Speisen und der sehr guten Infrastruktur. In einer Welt der Aufmerksamkeitsökonomie sind viele zwar anwesend, aber nicht präsent. Ich glaube, dass es Menschen zutiefst berührt, wenn man sich Zeit für sie nimmt, zuhört und einfach da ist. In unserer Welt voller Tempo, Ablenkung und Anspruch ist das vielleicht der größte Luxus: echte Aufmerksamkeit und der Wunsch, anderen glückliche Momente zu bereiten. Und genau darin liegt der tiefste Sinn unseres Tuns.
Caroline von Kretschmann
Seit 2012 leitet sie in vierter Generation das Fünfsterne-Superiorhotel Europäischer Hof in Heidelberg. Nach Banklehre, BWL-Studium und Promotion an der Universität St. Gallen war sie in der Unternehmensberatung tätig und gründete die Beratung Due Consultants mit. Die gefragte Speakerin und Expertin in den Medien wurde zur Ehrensenatorin der Universität Heidelberg berufen und 2022 als »Hotelier des Jahres« ausgezeichnet.