Uli Schwenger
Adios, Angst!
Sie ist unsichtbar und doch so mächtig, dass sie Menschen lähmen kann: die Angst. Sie zu spüren, ist menschlich – sie loszulassen, göttlich.
Während ich diese Zeilen schreibe, kann noch niemand wissen, ob in der »Coronakrise« die Ignoranten oder die Apokalyptiker recht behalten werden. Oder beide nicht. Einem zu Recht Geängstigten zuzurufen »Lass los!« wäre unnütz. Einem Kranken die Angst vor dem Sterben und seinen Angehörigen die Verlustangst auszureden, wäre zynisch. Also höre ich lieber zu, was mir die Bibel übers Loslassen der Angst erzählt.
Auf der Flucht
Spätestens seit dem Kinoklassiker »Die zehn Gebote« von 1957 oder dem Zeichentrickfilm »Der Prinz von Ägypten« von 1998 ist die biblische Geschichte weit bekannt, wonach Mose aus einem brennenden Dornenbusch einen beängstigenden Auftrag hört: »Tell ol’ Pharao to let my people go« – auch als Gospel ein Klassiker.
Dieser Mose, ein top integriertes Migrantenkind, legt eine steile Karriere hin – bis er im Affekt einen Mord begeht. Vor seinen enttäuschten Förderern flieht der gefallene Überflieger ins Ausland, legalisiert seinen Aufenthalt dort durch Heirat und jobbt weit unter seinem Bildungsniveau – als Schafhirte. Er hat die statistisch nicht erfassbare Angst vieler Menschen heute: vor den Folgen der Vergangenheit (»meine Biografie holt mich ein«), den Unwägbarkeiten der Gegenwart (»was gerade läuft, hab ich nicht im Griff«) und den Zwangsläufigkeiten der Zukunft (»was kommt, das muss ja so kommen«).
Weg mit den Sicherheitsschuhen
Mose – wörtlich »der aus dem Wasser Gezogene«, da stecken Todesangst und geschenktes Leben schon im Namen – bringt seine Schafherde nicht in Sicherheit, als ein Dornenbusch brennt, sondern hört hin: »Ziehe deine Schuhe aus!«
Kann ich nicht, denkt er. Da steh ich nämlich drauf - auf meinem trittsicheren Halt aus Herkunft, Bildung, Statussymbolen, Lebensstil. Und auf meinem Selbstbild, meiner politischen Überzeugung und natürlich meinem Gottesbild!
»Lass los«, ruft es erneut aus dem Dornenbusch. »Ohne die Sicherheitsschuhe spürst du mehr, bist verletzlicher, aber auch mitfühlender. Sensibler mit allen, die Angst vor dem nächsten Schritt haben.«
Was gehen mich denn andere Geängstigte an, wenn ich selbst auf der Flucht bin?! Vor meinem unabänderlichen So-Sein, vor den mickrigen Verhältnissen hier, vor der zubetonierten Zukunft?
Zuhören verändert
Was Mose jetzt hört, zieht ihm auch so die Schuhe aus: »Ich bin der Immer-mit-dir-Gewesene-und-sein-Werdende.« Hört sich noch geschraubter an als »der aus dem Wasser Gezogene«, meint aber: »Ich kenne deine Vergangenheit. Du löffelst aus, was dir Eltern, Erziehung und Umfeld eingebrockt haben, an nichts bist du alleine schuld. Ich spreche in deine Lebensumstände der Gegenwart hinein. Und ich gehe mit dir in eine Zukunft, über die du dich noch wundern wirst.«
Ausgerechnet diesen Mose nach Ägypten zu schicken, um Sklaven zu befreien (»die haben eine Rechnung offen mit mir«), beweist Gottes Sinn für Humor. Mose reagiert auf diese monströse Zukunftsaufgabe auch erst mal mit der Aufzählung seiner Ängste und Bedenken. Ein Antibewerbungsgespräch. Aber: Je länger er diesem »ich bin der Bei-dir-Bleibenden« zuhört, umso mehr Ängste lässt er los.
Gehalten statt ungehalten
Die Angst in der Krise starrt auf Zahlen, Daten, Fakten. Ist beschäftigt damit, die Fake News und absichtsvollen Angstmacher von den verlässlichen Informationen zu unterscheiden. Aber vielleicht »ruft« sie in Wirklichkeit nach Nähe, nach Mit-Erleiden und Bei-mir-Bleiben. Gerade in bisher unvorstellbaren Krisen. Angst loslassen können, weil ich gehalten bin. Und nicht mehr ungehalten über alles, was mir aus den Händen gleitet.
Uli Schwenger
Uli Schwenger wurde bereits als Teenager von Gospel- & Soulmusik inspiriert. Er begleitet Gospelchöre, Pop-Festivals und TV-Produktionen. Seine virtuose wie warmherzige Spielweise grosser Namen, von J.S. Bach bis Keith Jarrett, qualifiziert ihn als perfekten Begleiter am Klavier, auch für literarische Konzertlesungen.