Timo Orubolo
©

Jackie Katana

Aufräumen mit Freude

Als Jackie Katana sich bei einem Subunternehmen der Novartis auf eine Stelle als »Relocation Consultant« bewarb, hauste sie mit ihren drei Kindern zwischen Schachteln in der Wohnung von Freunden. Heute ist sie selbstständig. Ihre Geschichte tut weh und wohl.

Willi Näf
Willi Näf
10 min

Es war einmal in Mombasa. An einem Souvenirkiosk. Drinnen stand ein Kenianer, draußen ein Schweizer. Der Schweizer suchte kein Souvenir, er suchte eine Frau. »Ich hätte eine«, befand der Kenianer. »Eine Freundin der Familie. Aber wenn du sie heiratest, will ich für die Vermittlung eine Gebühr: Du musst eines meiner Kinder nach Europa mitnehmen.«

Die Frau des Kioskbesitzers war entsetzt. Doch das Sagen hatte ihr Mann. Er ließ seine Kinder aufstellen, und das designierte kenianisch-schweizerische Ehepaar wählte sich das Jüngste aus. So kam die kleine Jackie Katana 1984 im Alter von vier Jahren mit ihrer »Tante« in die kalte Schweiz. Als Vermittlungsgebühr. Trennungsängste verspürt sie bis heute.

Mit vier Jahren kam Jackie als »Gebühr« in die Schweiz.

Mit fünf Jahren besuchte Jackie in Liestal, nahe Basel, den Kindergarten. Der Kindergärtnerin fiel sie nicht nur wegen ihrer Hautfarbe auf. Mit dem Mädchen stimmte etwas nicht. Es zeigte sich, dass die am Kiosk eingefädelte Ehe geprägt war von Alkohol und Depressionen, Gewalt und Missbrauch. Die Kindergärtnerin nahm das traumatisierte Kind kurzerhand bei sich auf. Es kam zu einem hässlichen Gezerre zwischen Tante, Kindergärtnerin und Behörden – bis Jackie im Waisenhaus Basel landete. 

An Wochenenden und in den Ferien war Jackie bei Louisa, der Schwester ihrer Kindergärtnerin, und deren fast gleichaltrigen Töchtern Désirée und Leona. Sie wurden zu einer Art Pflegefamilie. Im Waisenhaus lernte Jackie noch konkreter, was Rassismus bedeutet. Auch ihre Erfahrungen mit Sozialpädagogen waren sehr durchwachsen. Die Wochenend-Pflegemutter Louisa gab ihr Bestes, doch sie hatte auch eigene Probleme zu bewältigen. Und als Jackie mit zwölf Jahren mit geballter Energie zu rebellieren begann, ging schließlich auch Louisa die Kraft aus. Der Kontakt mit ihr, Désirée und Leona brach ab und die große Konstante in Jackies Leben setzte sich fort: die Relocations.

Relocations als Lebensprogramm

Jackie wurde umplatziert, vom Waisenhaus in ein »Töchterheim« für Lehrtöchter. Eine Sozialpädagogin eröffnete ihr, ihre »Tante« sei nach Kenia zurückgekehrt. Sie hatte die Schweiz verlassen, für immer, Knall auf Fall und ohne Abschied. Jackie stürzte ab. 

Einer von Jackies Lehrern erkannte das Potenzial des Teenagers, doch er blieb der einzige. Auch im »Töchterheim« war Jackie bald nicht mehr haltbar. Die Behörden versuchten es mit einer betreuten Wohnform. Hier machten sich die Erzieherin und die Rebellin so lange die Hölle heiß, bis Erstere Letztere auf die Straße setzte. 

Jackie kam temporär bei Freunden unter. Die vierjährige Diplommittelschule, die sie nach der Volksschule begonnen hatte, besuchte sie nicht mehr. Sie hatte keinen Halt, keine Perspektive, keine Hoffnung. Und sie steckte voller Selbstzweifel. Mehr oder weniger hilflos finanzierten die Behörden der bald Achtzehnjährigen eine Einzimmerwohnung, inklusive regelmäßiger Besuche einer Betreuerin, die sie bei der Bewältigung ihres Alltages unterstützte. Die nächste Schule, die sie abbrach, war die Handelsmittelschule in Liestal.

Jackie war achtzehn, als sie schwanger wurde. Nun fand sie gleich mehrfach Halt. Wenn auch nicht dort, wo sie ihn gesucht hatte. Der Vater ihres Ungeborenen, ein Franzose, war schon drei Monate später zurück in Paris, wo er eine siebenjährige Haftstrafe anzutreten hatte. Halt fand Jackie stattdessen, als sie in den Straßen von Basel zufällig ihre »Schwester« Désirée antraf, zum ersten Mal seit sieben Jahren. Désirée umarmte sie und schilderte, wie sehr ihre Mutter Louisa unter dem Kontaktabbruch gelitten hätte. Jackies Pflegefamilie war zurück in ihrem Leben. 

Monique stellte Jackie einen Unbekannten vor, den sie Gott nannte.

Just in time     

Einen weiteren Halt fand der schwangere Teenager nach einer neuerlichen Zufallsbegegnung, und zwar mit Monique, einer zehn Jahre älteren Waisenhaus-Freundin. Monique hatte zu den wenigen gehört, für die Jackies Hautfarbe keine Rolle gespielt hatte. Auch sie hatte wilde Jahre überstanden, und Jackie war fasziniert, wie wohltuend gereift Monique war: eine feine Persönlichkeit, die sich kümmerte statt kummerte. Jackie fühlte sich angezogen. Ihr blieb zu wenig Zeit, um erwachsen zu werden. Jackie brauchte das, was Monique hatte. Monique machte sie daraufhin mit einem Unbekannten bekannt, den sie Gott nannte. Das Aha-Erlebnis, dass Jackie machte, war von einer Wucht, dass es ihr für den Rest des Lebens das Herz und den Kopf verdrehte.

»Danach waren keineswegs alle Probleme gelöst, mein Gott, nein! Ich hatte weder Selbstwertgefühl noch Durchhaltevermögen, dafür wahnsinnige Ängste, nicht zuletzt vor der Verantwortung als Mutter. Aber ich hatte nun einen, der mich ständig begleitete. Und ich hatte Monique, Louisa und Désirée.« Louisa motivierte Jackie zu einer Bürolehre. Sie hütete und behütete den kleinen Jungen, brachte ihn Jackie zum Stillen in die Schule und liebte ihn wie ihr erstes Enkelkind. Sie freute sich mit Jackie über den ersten erfolgreichen Schulabschluss ihres Lebens. Louisa stand hinter der Neunzehnjährigen. Neben ihr standen Freundinnen und Freunde, über ihr stand Gott. Alle trugen mit. 

Das Leben war trotzdem kein Zuckerschlecken. Ein Rassist in der Straßenbahn bleibt ein Rassist, ob eine dunkelhäutige Frau ein Kind im Arm trägt oder nicht. Auch mit Louisa gab es Auseinandersetzungen. Zudem wechselte Jackie des Öfteren ihre Arbeitsstellen. Und dann trat noch ein Mann in Jackies Leben, dessen Rucksack voller Probleme war – noch schwerer als jener von Jackie. »Es gibt Frauen, die ziehen immer wieder dieselben Männer an. Männer wie ihre Väter oder Stiefväter oder früheren Partner. Oder Männer, die ähnliche Schwierigkeiten und Verletzungen mit sich tragen. Dann kriegen sie eine neue Ausgabe der alten Probleme. Sie sind einfach naiv, können nicht Nein sagen, lassen sich manipulieren und kontrollieren. Oh, ich weiß das.«     

Timo Orubolo
©
Jackie Katanas Herz schlägt für Kinder: Sie arbeitet auf ein Waisenhaus in Afrika hin. Bis dieser Traum wahr wird, genießt sie die Zeit mit ihren Jüngsten: Zoe (13), Timothy (10), Chloe (5).

On and off     

Jackies zehn Ehejahre mit ihrem in Afrika sozialisierten Mann waren vollgepackt mit vielem, was der Seele weh tut und den Körper verfärbt. Ihren Freundinnen war die On-off-Beziehung unbegreiflich. Erst die dritte Trennung – ihr gemeinsames drittes Kind war erst sieben Monate alt – sollte die letzte sein. Der Kampf um die Unterhaltszahlungen hatte bereits mehrere Gerichtsinstanzen absolviert, die Gegenseite akzeptierte die Urteile nicht, obwohl die Urteile der Richter jedes Mal glasklar ausfielen. In all den Ehejahren war es meist Jackie, die den Lebensunterhalt für die wachsende Familie verdiente. Und wann immer sie sich auf einen Bürojob bewarb, war es ihr schleierhaft, warum man sie einstellte. 2008 begann sie bei Actelion als Bürofachkraft, wuchs aber in kurzer Zeit zur Assistant of Recruitment heran. Die Ehe war ein Albtraum und die Familie ein Überlebenskampf, aber im Geschäft organisierte die junge Kenia-Schweizerin für ihre Chefin Bewerbungsgespräche, ließ Contractors einfliegen, buchte Hotels und bereitete Meetings vor. Und sie stellte fest, dass sie es nicht nur gern machte, sondern auch gut. Die Tankstelle für ihr Doppelleben waren Freundschaften, Kirchgemeinde und Gott, mit dem sie sich ausgiebig stritt und noch ausgiebiger versöhnte. 

Bewerben, beten, bei der Vorstellung nicht weinen.

2011 entdeckte Jackie im Internet die Stellenanzeige eines Subunternehmens der Novartis für einen »Relocation Consultant«. Sie lebte mit ihren drei Kindern in einer Wohnung bei Freunden, und über die Aufgaben eines Relocation Consultants wusste sie mehr oder weniger das, was in der Anzeige stand. Aber sie setzte auf das, was sie konnte: bewerben, beten und beim Jobinterview nicht weinen. 

Jackie bekam den Job. Nun betreute sie für die Novartis Mitarbeitende aus aller Welt, die in die Schweiz zogen. Sie suchte den Expats Wohnungen und Häuser, half ihnen bei Papierkram und Behördengängen, wies sie ins Leben in der Schweiz ein, machte Housing in Basel, beantwortete ihre Fragen, kurz: Sie wurde zu ihrer Betreuerin. Diese Aufgaben waren für sie eines: eine Selbstentdeckung.

»Ich spürte sofort, wie mir diese Arbeit lag. Ich begann zu ahnen, was in mir steckte, was meine Gaben waren und wo meine Bestimmung lag. Das war wohl das, was andere schon früher in mir gesehen hatten. Eine hilfsbereite, offene und begeisterungsfähige Netzwerkerin. Die Feedbacks meiner Kundinnen und Kunden taten mir unglaublich wohl.«

Herausforderungen an allen Fronten

Der Erfolg im Beruf war ein totaler Kontrast zu den Niederlagen auf dem Kriegsschauplatz daheim. Jackies ältester Sohn mit seinem Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätssyndrom ADHS überbot die Pubertät seiner Mutter mühelos. Er wurde von Schulen verwiesen und die Verweigerung von Medikamenten und Therapien führte zu Eskalationen, die eine Fremdplatzierung unumgänglich machten. Auch von ihrem Mann bekam die junge Mutter Vorwürfe statt Unterstützung. Jackie war zerrissen, überfordert und verzweifelt. Ihr Kraftstoff waren der Glaube und der Freundeskreis.

Als Relocation Consultant erkannte Jackie die Nachfrage nach einer Reinigungsfirma auf hohem Niveau. Der Gedanke an ein eigenes Geschäft schlich sich ein. Aber die Front zu Hause ließ keinen Raum für solche Träume, sie ließ ja nicht einmal Raum für die Aufgabe als Relocation Consultant, die von Jackie mehr Flexibilität verlangte, als sie bieten konnte. Egal, ob der Flieger pünktlich landete oder nicht, die Kindertagesstätte schloss um halb sieben, und allzu oft musste sie jemanden organisieren, um Kinder abzuholen, und darum kämpfen, daheim zu sein, wenn die Schule aus war.

2012 wechselte Jackie zu einer kleineren Pharmafirma an den Empfang, wo sie geregelte Arbeitszeiten hatte, und ließ den Gedanken an die Selbstständigkeit reifen. Sie könnte kommunizieren und vermitteln, phasenweise selber putzen. Sie könnte ihre Familie ernähren und in den eleganten Wohnungen jenen guten Spirit hinterlassen, der sie selber erfüllte. Am 21. Oktober 2014 gründete Jackie Katana ihre Tidy and Clean GmbH in Basel. 2015 brachte sie ihr viertes Kind zur Welt. 2016 reichte sie die Scheidung ein. Jackie kämpfte. 

»Nach dem ersten Arbeitstag warf ich die Schuhe in eine Ecke und sagte: Das mache ich nicht mehr. Putzen ist ein Knochenjob! Aber ich putzte doch wieder. Und es hat mich nicht losgelassen. Ich betrete eine Wohnung und schaffe Ordnung und Sauberkeit. Die Menschen vertrauen mir ihr Heim an. Ich trage dazu bei, dass sie aufgeräumt leben. Und ich kann Wohnungen und Bewohner segnen, kann Teilzeitstellen schaffen für Menschen, die sonst Schwierigkeiten haben.« Tidy and Clean macht keine Industriereinigungen, sondern arbeitet bei Privatkunden in einem mittleren und höheren Segment. Der Anspruch ist hoch. Dennoch beurteilt Jackie mögliche Mitarbeiterinnen nicht primär nach ihren Lebensläufen. Lebensläufe zeigen nur, was war, und nicht, was sein könnte, das hat sie gelernt. Skills und Talente entdecken liegt ihr. Mitbringen müssen mögliche Mitarbeiterinnen aber Durchhaltevermögen. 

In den ersten vier Jahren ihrer Selbstständigkeit hat Jackie Katana aus ihren Fehlern gelernt. Sie haben sie stärker gemacht. Sie haben ihr Chancen geboten, Strategien zu entwickeln. Sie ist zur Unternehmerin gereift. Die Firma Tidy and Clean war 2020 erstmals schuldenfrei, doch der Corona-Lockdown hat ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jackie kämpft, einmal mehr. »Ich bin unglaublich dankbar für meinen Kreis an Freundinnen und Freunden, die mit mir gehen und mittragen. Das sind Menschen, die Gott mir an die Seite gestellt hat. Natürlich streite ich trotzdem manchmal mit ihm. Aber an ihm gezweifelt habe ich nie. Keine Sekunde. Ich selbst bin der Beweis, dass Gott existiert. Ohne ihn würden weder ich noch meine Firma existieren. Tidy and Clean ist mein fünftes Kind, das gebe ich nicht auf.« Die belastete Beziehung zu ihrem erwachsenen Sohn schmerzt Jackie. Daneben aber hat ihre familiäre Situation sich beruhigt, ihre drei jüngeren Kinder bereiten ihr viel Freude. Eine zusätzliche Freude wäre ihr ein Mann an der Seite, der mitträgt und mitlebt, mitmacht und mitlacht. 

Neue Horizonte    

Bei Erstbegegnungen fragen Menschen Jackie Katana bisweilen, ob sie Hochdeutsch spreche, woraufhin sie ihren Stadtbasler Dialekt noch ein wenig zuspitzt. Trotz Verankerung in Basel hat sie eine große Zuneigung zum Kontinent ihrer Herkunft entwickelt. Afrika steckt in ihr. Temperament, Lebensfreude, die Liebe zum Tanzen und zur Musik, das Gefühl für Rhythmen, die ausgeprägte spirituelle Antenne – was Jackie trägt, sind Visionen. Sie
arbeite daraufhin, einmal so viel Gewinn zu erwirtschaften, dass sie sich für Afrika engagieren könne, sagt Jackie Katana: »In Afrika leben so viele Kinder mit so viel Potenzial und so wenigen Chancen. Ich würde gerne Waisenhäuser unterstützen. Kinder brauchen Wurzeln, ich als Entwurzelte weiß das. Und meine Geschichte zeigt, was möglich ist, selbst wenn man keinen Lichtblick hat, kein Selbstwertgefühl und schon gar kein Ziel. Als Unternehmerin habe ich keine Lust, immer nur mein Überleben zu sichern. Ich will mehr als nur überleben. Ich will etwas geben.« 

Timo Orubolo
©
Sie kennt die Ansprüche der High Society genauso wie die Nöte in ihrem Heimatkontinent: Jackie Katana.
Jackie Katana

Jackie Katana

Eine gute Reinigungsfachkraft nennt man »Perle«. Doch Perlen sind rar – besonders, wenn es darum geht, die Ansprüche von gehobenen Haushalten zu erfüllen. Jackie Katana (40) hat diese Marktlücke entdeckt und daraufhin die Tidy and Clean GmbH gegründet, bei der sie Arbeitsplätze für qualifiziertes Reinigungspersonal schafft. Ihr Gespür für die Anforderungen hat sie während ihrer Karriere als Relocation Consultant für den Pharmakonzern Novartis erworben. Jackie Katana ist Mutter von vier Kindern. Geboren in Kenia, kam sie mit vier Jahren ohne ihre Eltern in die Schweiz.