Timm Ziegenthaler
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Helmut Rosskopf

Der Aussteiger

Für die einen war er viele Jahre lang der Chef. Für andere einfach ein Bruder. Helmut Rosskopf hat über Jahrzehnte ein erfolgreiches mittelständisches Unternehmen mit zuletzt zweihundert Mitarbeitern und zwanzig Millionen Euro Jahresumsatz aufgebaut – dabei wollte er eigentlich nur Gott dienen.

Anna Lutz
Anna Lutz
11 min

Die Kirche ist lichtdurchflutet. Und irgendwie nur halb da. Wo normalerweise das Kirchenschiff steht, wachsen Bäume, ein Weg führt in ihrer Mitte hindurch. Helmut Rosskopf steht im Innern des Altarraums der Klosterkirche und blickt durch eine große Glasfront in das Draußen, das einmal drinnen war. Dorthin, wo im zwölften Jahrhundert die Kirchenbesucher saßen, um der Predigt zu lauschen. Der Raum wurde einst zerstört, an die Stelle der Bänke und Mauern wurde beim Wiederaufbau Natur gesetzt. Rosskopf, oder einfach Bruder Helmut, wie ihn hier alle nennen, kann lange über die Architekturkunst im Kloster Volkenroda in Thüringen sprechen. Über die Jahrhunderte alten aufwendig restaurierten Steine, die das Kreuz hinter dem Altar umrahmen. Ein Kreuz, an dem Jesus hängt, ohne Arme, das Gesicht nur noch halb zu erkennen. Die Figur ist im sechzehnten Jahrhundert zerstört worden, ebenso wie große Teile der restlichen Kirche. Beim Wiederaufbau verzichteten die Architekten darauf, den Sohn Gottes zu reparieren. Der geschundene Jesus am Kreuz durfte zerstört bleiben. Und erinnert so an die kaputte Welt, in der er lebte. 

Er soll den väterlichen Betrieb übernehmen – doch es kommt anders.

Ein Leben in zwei Welten

Helmut Rosskopf saß mit am Tisch, als Entscheidungen wie diese getroffen wurden. Er hat geholfen, die alte Kirche wieder aufzubauen und mit neuem Leben zu füllen. Es ist für ihn Berufung und Profession zugleich. Denn er ist nicht nur Teil der hier lebenden Jesus-Bruderschaft, also eine Art evangelischer Mönch. Er ist auch gelernter Schreinermeister und hat über Jahrzehnte eines der führenden Unternehmen der europäischen Mineralwerkstoffbranche aufgebaut. Für seine Mitarbeiter war er Herr Rosskopf, hier auf dem Klostergelände einfach Bruder Helmut – ein Leben in zwei Welten. Dabei hätte er die eine nie betreten, wenn er nicht Teil der anderen gewesen wäre. Wie die neuen und alten Teile der Klosterkirche auf den ersten Blick nicht zusammenpassen, scheint auch bei ihm einiges widersprüchlich. Und doch ergibt das große Ganze Sinn. Er musste aus dem eigentlich für ihn vorgesehenen Leben aussteigen – um am Ende wieder einzusteigen.

Helmut Rosskopf wird als Sohn eines Schreiners in der Nähe von Lörrach geboren. Sein Lebensweg ist vorgezeichnet: Der väterliche Betrieb wird an ihn, den einzigen männlichen Nachkommen, übergehen. Die beiden jüngeren Schwestern gründen Familie, er wird dafür zuständig sein, den Namen weiterzutragen. Doch es kommt anders. 

Obwohl Rosskopfs Familie keine innige Beziehung zur Kirche pflegt, kommt ihm der Glaube als Jugendlicher ungeahnt nah. Im Konfirmandenunterricht knüpft er Beziehungen zum Jugendkreis der örtlichen evangelischen Kirche, findet Freunde. Eine Freizeit führt ihn zum ersten Mal ins hessische Kloster Gnadenthal, die Heimat der Jesus-Bruderschaft. Die ökumenische Gemeinschaft lebt in klösterlicher Tradition, man arbeitet, betet und wohnt zusammen, der Tag ist durch gemeinsame Andachten und Liturgien gegliedert. Die Gruppe besteht aus zölibatär lebenden Männern und Frauen, aber auch aus Familien. Ob man hier evangelisch oder katholisch ist, spielt keine Rolle. 

Fasziniert von Klostergemeinschaft 

Für Helmut Rosskopf ist diese Art des Lebens neu. Der Tagestakt und die Gemeinschaft faszinieren ihn derart, dass er als Jugendlicher beschließt, seinen Zivildienst im Kloster zu absolvieren. Nach dem Abschluss seiner Schreinerlehre, mit achtzehn Jahren, verlässt er also Vater und Mutter und zieht zu den Brüdern und Schwestern, wie sich in Gnadenthal alle nennen. Letztere erkennen sein Handwerkertalent und setzen ihn vor allem auf dem Bau ein. Rosskopf mauert, renoviert, fegt und baut im Dienst der Christen. Gemeinsam mit zehn weiteren jungen Männern aus allen Teilen der Republik wohnt er in einer Gruppenunterkunft. Oft unterhalten sie sich bis spät in die Nacht über Gott und die Welt. 

Die Gemeinschaft begeistert ihn so, dass er alles andere hinter sich lässt.

»Ich werde Bruder!«

Am Ende dieses Jahres steht für Rosskopf fest: Er kann nicht einfach wieder zurück nach Hause. Zu sehr haben ihn die Begegnungen im Kloster verändert. Ein Leben als Schreinermeister im Betrieb des Vaters ist für ihn undenkbar geworden. Er will weiterhin Teil der tiefen Gemeinschaft sein, die er kennengelernt hat. Die mit den Menschen ebenso wie die mit Gott. Zugleich weiß er, dass eine Entscheidung für ein Leben im Kloster nicht nur ihn selbst für immer verändern wird. Nichts würde seine Eltern mehr vor den Kopf stoßen. Denn nicht nur der Familienbetrieb hätte keinen Fortbestand. Auch der Name Rosskopf würde aussterben. Denn Heirat und Kinder sind für einen Klosterbruder ausgeschlossen. So nimmt er sich ein weiteres Jahr Zeit, um zu überlegen, geht in die USA und lebt im Staat New Jersey in einer Jesus-Bruderschaft. Die Faszination will nicht verschwinden. Und Rosskopf entscheidet sich. 

Per Luftbrief – wir schreiben das Jahr 1979 – informiert er seine Eltern: »Ich habe mich dazu entschieden, Bruder zu werden. Ich hoffe, Gott erklärt euch das eines Tages, so wie er es mir klargemacht hat.« Eine Antwort erhält er nicht. Doch es ist offenbar: Vor allem der Vater ist tief enttäuscht von seinem einzigen Sohn. 

Über vierzig Jahre später sitzt Helmut Rosskopf im Kloster Volkenroda. Neben ihm: Geschwister aus der Jesus-Bruderschaft, einige Reihen weiter: Kinder einer Erfurter Schule. Gemeinsam mit ihrer Lehrerin sind die Jungen und Mädchen ins Kloster hergekommen, um am Mittagsgebet, einem von drei Gebetszeiten des Tages, teilzunehmen. Das Kloster ist nicht nur wegen seiner aufwendig renovierten Klosterkirche ein Magnet für Touristen. Es bietet auch Übernachtungsmöglichkeiten, Fortbildungen und hier steht der einst für die Weltausstellung Expo im Jahr 2000 konstruierte Christus-Pavillon, ein quadratisch angelegter Gebetsort mit einem schlichten Kreuz in der Mitte und Zugängen von allen Seiten. Wer hier predigt, steht nicht vorne, sondern mitten zwischen den Zuhörern. Wenn die Sonne scheint, wirft der Schatten der Architektur Dutzende Kreuze auf die Innenwände des Gebäudes. Jesus ist nicht nur in der Mitte, er ist hier überall. »Das habe ich durch die Exerzitien im Kloster gelernt«, wird Rosskopf später bei einem Spaziergang über das Gelände sagen. »Gott ist in allem.« 

Eine Schwester liest an diesem Montagmittag eine biblische Geschichte, danach, für Besucher überraschend, hebt ein Mann aus dem Publikum zum Gesang an: »Lasst uns miteinander, lasst uns miteinander singen, loben, preisen den Herrn.« Zaghaft, dann immer lauter stimmen auch andere Besucher ein. Sogar die angereiste Schulklasse. Auch Helmut Rosskopf singt. Es muss diese Gemeinschaft gewesen sein, die ihn einst überzeugte, alles hinter sich zu lassen.   

Kloster als Familie

Im Jahr 1980 bittet Helmut Rosskopf offiziell um Aufnahme in Gnadenthal. Nach einer Bewährungszeit von zwei Jahren wird er Mitglied. Es ist die normale Frist, die sicherstellen soll, dass die Bewerber wirklich bereit dazu sind, ihr Leben im Kloster zu verbringen, sich der täglichen Arbeit zu widmen und – so sie denn Singles sind – darauf zu verzichten, eine eigene Familie zu gründen. Für Rosskopf ist das Angenommensein in der Gemeinschaft, die Lebensaufgabe, wichtiger als eigene Kinder oder eine Partnerin. Wer gemeinsam im Kloster lebt, ist einander auch Familie, stellt er fest. 

Tatsächlich ähnelt die Bruderschaft auch im praktischen Sinn seiner Familie: Sie setzt ihn vor allem für handwerkliche Tätigkeiten ein. Der Schreinergeselle macht sich nützlich, wo er kann, und erwirbt nebenbei noch seinen Meister in einem nahe gelegenen Betrieb. So als wüsste er schon, was noch kommen wird. Denn das Handwerk wird ihn auch weiterhin nicht loslassen. 

Die Werkstatt für seine gegründete Firma richtet er in einem alten Stall ein.

Firmengründung für die Gemeinschaft

Im Jahr 1984 bricht ein Brand auf einem Hof nahe des Klostergeländes aus und macht das Gebäude zunächst unbewohnbar. Die Gnadenthaler Gemeinschaft überlegt, wie sie etwas Gutes aus der Tragödie machen kann und kauft das heruntergekommene Haus kurzerhand. Hier soll eine Jugendausbildungsstätte entstehen, die Renovierung wollen die Christen in Eigenleistung vornehmen. Keine Frage, dass Rosskopf da helfen soll, doch die aufwendigen Arbeiten übersteigen seine bisherigen Tätigkeiten. Schnell ist klar: Wenn er den Hof neu aufbauen soll, dann ist das ein Fulltimejob. Die Klostergemeinschaft will keine externe Firma engagieren, sieht aber ein, dass der Bau mehr Logistik und Organisation braucht, als es von einem einfachen Bruder nebenbei zu erledigen wäre. So entsteht die Idee, dass Rosskopf mit seinem Meistertitel und dem weiter reichenden Know-how zum Gründer werden soll. Er willigt ein und startet eine eigene Firma: Rosskopf und Partner. Er kauft eine Kreissäge und einen Fiat Ducato Pritschenwagen und legt los. Seine Werkstatt richtet er in einem alten Stall ein. Ein Jahr lang renoviert er den alten Nehemia-Hof. Dann ist dort alles getan. Nur für Rosskopf endet die Arbeit noch nicht. 

Er nimmt weiterhin Aufträge an, kann nicht vom Handwerk lassen, will aber zugleich Teil der Jesus-Bruderschaft bleiben. Beides geht gut zusammen, eine Tätigkeit außerhalb des Klosters ist keineswegs untersagt. Im Gegenteil, immer wieder hat Rosskopf das Gefühl, dass es ihm sogar guttut, sich nicht nur innerhalb der eigenen frommen Blase aufzuhalten, sondern zu lernen, wie es in der Wirtschaft zugeht. Ein Chef mit christlichen Werten zu sein. Doch das allein macht ihn noch nicht erfolgreich, dazu braucht es eine weitere Fügung: Bei der Arbeit begegnet ihm ein Material, das er bisher nicht kannte. Ein Mineralwerkstoff mit dem Namen Corian. Er ist besonders widerstandsfähig und zudem unter Hitze formbar. Rosskopf investiert und baut einen neuen Geschäftszweig auf. Fortan fertigt er Arbeits- und andere Oberflächen aus diesem revolutionären Material. Das Angebot kommt an, sein Betrieb beginnt zu wachsen. Kurze Zeit später hat er zwölf Mitarbeiter, fünf davon Lehrlinge. Rosskopf reist um die Welt, zeigt seine Arbeit auf Messen in Dubai, den USA, Großbritannien und Vietnam. 

Als 1989 die Mauer fällt, fragt ein Freund aus Chemnitz, ob er sich nicht vorstellen könne, auch dort zu arbeiten. Im Osten brauche es Unternehmer und nicht zuletzt Arbeitsplätze. Rosskopf überlegt nicht lange, spricht sich mit seiner Gemeinschaft ab – und baut einen Ableger seines Betriebes nahe Chemnitz auf. Er zieht in die Region, doch nicht ohne seine Gemeinschaft: Ein Bruder begleitet ihn, gemeinsam gründen sie dort auch einen Ableger der Jesus-Bruderschaft.

Aus Trümmern ein neues Kloster bauen

»Ich wollte nie Unternehmer sein, ich wollte einfach tun, was notwendig ist«, sagt er heute. Und das tat er weiter. Kurz vor seinem vierzigsten Geburtstag meldet sich Gnadenthal bei ihm: Die Gemeinschaft plant, das alte und ungenutzte Kloster Volkenroda zu kaufen, aufwendig zu restaurieren und dort einen neuen Standort zu gründen. Rosskopf soll die Arbeiten anleiten. Derweil ist seine Firma zu einem der führenden Mineralwerkstoffverarbeiter in Europa herangewachsen. Doch Rosskopf wäre nicht Bruder Helmut, wenn er sich nicht auch dieses Mal in den Dienst der Gemeinschaft stellen würde. 1997 zieht er wieder um. Dieses Mal nach Thüringen. Als er auf dem Klostergelände ankommt, haben die Arbeiten schon begonnen. Die Klosterkirche ist mit einem Baugerüst ummantelt, ihr Inneres ist kaum zu betreten, so viel Schutt und Trümmer liegen herum. Das ehemalige Zisterzienserkloster wurde im zwölften Jahrhundert errichtet und vierhundert Jahre später während der Bauernkriege teilweise dem Erdboden gleichgemacht. 

Ich wollte nie Unternehmer sein, sondern einfach das tun, was notwendig ist.

Über 25 Jahre lang hilft Rosskopf dabei, aus Volkenroda den Ort zu machen, der er heute ist. Und er lebt sich ein in der neuen Gemeinschaft, hält regelmäßig Andachten und leitet Gebete, führt weiterhin sein Unternehmen. Bis 2021. Mit 63 Jahren sollte Schluss sein, hatte Rosskopf bereits drei Jahre zuvor entschieden. Seine Anteile gibt er an eine Stiftung ab, die sicherstellt, dass sie in seinem Sinn verwaltet werden. Rosskopf übernimmt den Aufsichtsratsvorsitz, zieht sich aber aus dem Tagesgeschäft zurück. Doch was soll Ruhestand schon bedeuten für einen wie ihn? »Ich würde sagen, ich arbeite heute rund acht Stunden am Tag«, erzählt er in seinem Büro im Kloster. Zwei Drittel seiner Zeit widmet er sich nun Volkenroda. Den Rest steckt er weiterhin in die Firma. Ob er denn jemals als alter Mann am Fenster sitzen und Zeitung lesen wird? Rosskopf lacht. »Nein. Arbeit ist Teil meines Lebens.« 

Versöhnung mit dem Vater

Dieser Satz hätte wohl auch dem Vater gefallen, mit dem Rosskopf sich einst wegen des elterlichen Betriebs überwarf. Nach einem Schlaganfall musste dieser seine Werkstatt verpachten, das brachte ihm ein gutes Einkommen. Und das Verhältnis zum Sohn besserte sich mit den Jahren. Bei einem Besuch ein Jahr vor dessen Tod entdeckt Rosskopf auf dem Esstisch des Vaters jenen Brief, den er einst aus den USA schickte. »Mein Vater hat ihn dort liegen gehabt und ihn jedem Besucher gezeigt, der ins Haus kam«, sagt Rosskopf. Nicht aus Groll. »Nein, er war stolz auf mich. Er hat meine Entscheidung am Ende verstanden. Auch, weil er sah, wohin sie mich geführt hat.« 

Rosskopf, nein, Bruder Helmut, blickt aus seinem Bürofenster hinaus auf die Klosterkirche. Auf Alt und Neu, Tradition und Moderne, Beton, Glas und Backsteine. Nichts passt zusammen und doch passt es anders nicht. Vielleicht sieht er dort sich selbst.

Helmut Rosskopf

Helmut Rosskopf

Helmut Rosskopf (65) lebt im Kloster Volkenroda in Thüringen. Statt die väterliche Firma zu übernehmen, trat er 1982 der klösterlichen Jesus-Bruderschaft bei. Er gründete 1984 das Unternehmen Rosskopf und Partner, eine der führenden europäischen Firmen in der Werkstoffproduktion, dessen Aufsichtsratsvorsitzender er heute ist. Zudem half »Bruder Helmut« beim Wiederaufbau des Klosters Volkenroda.