Sabina Paries
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Marcus Witzke

Der Möglichmacher

Marcus Witzke zeigt, was ein Mensch im Sinne einer guten Sache bewegen kann, wenn die richtigen Faktoren zusammenkommen: ein Mastermind, der größer zu denken wagt als ein Millionärserbe und Millionen investieren kann; ein Team, das für das Projekt brennt; und mit Witzke eine Führungskraft, die mit Sachverstand, Leidenschaft und großer Energie treibt, treibt, treibt.

Jo Berlien
Jo Berlien
7 min

Den Ausdauersportler sieht man ihm auf den ersten Blick an, so drahtig ist er. Er schaut aus wie einer um die vierzig. Marcus Witzke, 53, ist viele Jahre lang gelaufen und inzwischen aufs Rad umgestiegen. Wenn die Fotografin sagt: »Herr Witzke, stellen Sie sich vor, Sie stehen am Start, gleich gehts los, wie schauen Sie da?«, dann wird aus der freundlichen Zugewandtheit eine konzentrierte Strenge. Nun gleicht er dem Jäger auf dem Sprung; dem Komponisten, der eine fertige Sinfonie im Kopf hat und diese nun Note für Note niederschreiben wird. Es ist beides und beides ist gleich wichtig: Körperlichkeit und Geist, Kraft und Schöpfertum, Beseeltheit, aber auch Durchsetzungsfähigkeit.

In einer Liga mit Bill Gates

Marcus Witzke ist erfolgreicher Manager, studierter Wirtschaftswissenschaftler und Kaufmann. Er leitet die Hoffnungsträger Stiftung in Leonberg. Natürlich, das Geld kommt vom Stifter. Aber wenn Marcus Witzke in den vergangenen Jahren fünfzig Millionen Euro in Impact-Projekte investiert hat, haben sein Team und er einen Gutteil davon erwirtschaftet und durch ihre Arbeit erheblichen Anteil am Gelingen der Projekte.

Als Vorstand spricht Witzke auf Augenhöhe mit den Managern der Zürcher Großbank UBS, mit der die Stiftung seit Jahren kooperiert. Im Verlauf des Gesprächs erwähnt Witzke die Bill & Melinda Gates Foundation, zu der es Kontakt gibt (auch wenn Gates ausschließlich direkt mit Regierungen zusammenarbeitet). Und wenn in den kommenden zehn Jahren ein Investmentfonds bis zu einer Viertelmilliarde Euro in die von Witzke vorangetriebenen bezahlbaren Immobilienprojekte stecken will, dann nur deshalb, weil Witzke und sein Team bewiesen haben, dass das Unmögliche gelingen kann. Dass man kein Spinner, Idealist, Phantast, Sozialromantiker ist, wenn man schlicht klingende Lösungen neu zu denken wagt: ein Haus zu bauen, das eben kein grober, unansehnlicher Klotz aus dem Sozialwohnungsbau ist. Eine Gemeinschaft zu stiften, in der Menschen unterschiedlicher Kulturen unter einem Dach zusammenleben. – Sofort stellt man sich das Asylantenheim am Stadtrand vor, wie es da zugeht, wie die Leute hausen, anstatt zu wohnen.

Was nicht funktionieren kann, funktioniert doch.

Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden, heißt es im Matthäus-Evangelium. Was nicht funktionieren kann, funktioniert doch, wenn man einmal um die Ecke und übers Althergebrachte hinausdenkt: Man plane also Häuser von einer gewissen Ästhetik, die dennoch bezahlbar sind. Man würfele die Bewohner nicht wahllos zusammen! Jede Studenten-WG berät, ob sie den oder die neue Mitbewohnerin aufnehmen mag. In den von Marcus Witzke und der Hoffnungsträger Stiftung unterhaltenen Häusern wird dieses Prinzip auch angewandt: Die Bewerber müssen passen, die Mischung muss stimmen, alle müssen guten Willens sein, sich auf ein Zusammenleben einzulassen und in die Gemeinschaft zu integrieren. Und, ganz wichtig: Einheimische, also Deutsche, sollen Teil der Gruppe sein.

Wider die Sozialbau-Tristesse

Prinzipiell können sich Einzelpersonen, Paare, Familien bewerben, wenn sie Lust auf ein integratives Wohnkonzept haben: »Es muss halt klar sein, dass es den Bewerbern nicht nur darum geht, an der Miete zu sparen«, sagt Pressesprecher Hubert Kogel. Die Mieten liegen etwa ein Drittel unter der ortsüblichen Neubaumiete. Klingt theoretisch, bewährt sich in der Praxis aber seit sechs Jahren. Es wohnen auch, aber nicht nur vom Sozialamt vermittelte Leute mit Wohnberechtigungsschein hier. Auch eine Mischung der sozialen Schichten wird erreicht – unter anderem ist ein Ingenieur, der für Bosch arbeitet, mit eingezogen.

Es braucht Leute, die sich kümmern

Zweites wichtiges Prinzip: Die Bewohner bleiben sich nicht selbst überlassen. Eine Art Herbergseltern, Standortleitung genannt, geschult im Umgang mit heterogenen Gruppen, sollen aus Individuen eine lockere Hausgemeinschaft formen. Man hält Kontakt zueinander, lädt sich gegenseitig ein, kocht und spricht miteinander, federt Spannungen ab, vermittelt, wenn es knatscht.

Die Stellenbeschreibung ist durchaus anspruchsvoll: »Aufbau und Leitung von drei Häusern, Gestaltung einer lebendigen Hausgemeinschaft, Beratung/Begleitung von Bewohnern, Netzwerkarbeit (Kommune, Behörden …), Fundraising, Öffentlichkeitsarbeit«. Gewünscht werden ausdrücklich Auslandserfahrung und unternehmerisches Denken. Kein leichter Job, aber ist es nicht erstaunlich und eine großartige Chance, dass dies Tag für Tag versucht wird, in mittlerweile 206 Wohnungen in 29 Häusern in neun Städten?

Ein Projekt mitten in der Siedlung

Wir treffen Marcus Witzke in Leonberg. Dort hat Stiftungsgründer Tobias Merckle 2003 mit einem anderen Projekt angefangen – in einem im siebzehnten Jahrhundert von Baumeister Heinrich Schickhardt errichteten Gut praktiziert er bis heute freie Formen des Jugendstrafvollzugs. Das Gut »Seehaus« bot sich an, weil es fernab der Stadt liegt. Die Mehrheit der Bevölkerung möchte keine Einrichtung für straffällig gewordene Jugendliche in einer Siedlung haben. Die Hoffnungshäuser indessen sind inmitten eines Wohngebiets, Luftlinie weniger als einen Kilometer entfernt vom höfischen Renaissance-Pomeranzengarten, für den Leonberg bekannt ist. Die Stiftung hat hier in einem Ensemble aus drei Gebäuden einen Teil der Verwaltung untergebracht und zwei sogenannte Hoffnungshäuser mit insgesamt neunzehn Wohnungen hergerichtet.

Marcus Witzke empfängt im Besprechungsraum. Das Mobiliar, jedes Teil für sich genommen, hat Charakter und wurde auf schwäbisch sparsame Art erworben und bunt zusammengefügt: Den aus einem Baumstamm gehauenen Garderobenständer hat Witzke vom Flohmarkt. Die Stahlregale gab es im Paket im Zuge einer Firmenauflösung zu einem guten Preis. Typisch Witzke. Das Klischee vom schluffigen Sozialprojektler im karierten Hemd und auch im Winter in Birkenstocks kommt einem in den Sinn. Das aber ist Witzke nun gerade nicht. Dafür ist er zu sehr Wirtschaftswissenschaftler, dafür hat er es als Repräsentant der Stiftung zu oft mit den Krawattenherren in Zürich und sonst wo auf der Welt zu tun. Auch hier gilt: Marcus Witzke kann beide Rollen.

Schwäbisches Understatement

Er entstammt einem Handwerkerhaushalt am Rand der Schwäbischen Alb; ein Bruder ist Zimmermann geworden, der andere Elektriker, sein Stiefvater war Schlossermeister. Marcus indes hat das Abitur nachgeholt und dann studiert. Will man ergründen, warum er sich heute so sehr einsetzt, gerade auch in Lateinamerika, Afrika, Asien für Kinder, deren Väter im Gefängnis sitzen, dann spricht er von »intrinsischer Motivation«, also innerem Antrieb. »Ich glaube, ohne das kann man das sowieso nicht machen«, sagt er. In einem Interview erzählt er, wie sehr er nach der Scheidung der Eltern den Vater vermisst und die gottesfürchtige Großmutter geliebt hat.

Die Auslandsarbeit in Kolumbien, Sambia, Togo, Ruanda, Kambodscha und die Kooperation mit der Nichtregierungsorganisation Prison Fellowship International, die sich in der christlichen freien Straffälligenhilfe engagiert, geht ebenfalls auf Stifter Merckle zurück. Gefängnisstrafen in autoritären Staaten, so die Erfahrung der NGO, werden nicht nur unter menschenunwürdigen Bedingungen verhängt, sie treffen auch vor allem die Armen; es gibt weder eine Chance auf Resozialisierung, noch einen Opferausgleich, die Rückfallquote ist hoch.

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Das Zusammenleben in den Hoffnungshäusern soll kein Idyll aus dem Wohnkatalog sein, sondern ein offenes, faires Miteinander. Konflikte gibt es auch hier, aber es gibt auch Leute, die helfen, sie zu überwinden. Zur Interkulturalität gehört es, dass Deutsche Teil der Hausgemeinschaft sind. Wer hier wohnen will, muss bereit sein, sich auf ein wenig Gruppendynamik einzulassen.
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Dass er diene und gebe sein Leben

Für Marcus Witzke hat sich hier eine weitere Tür aufgetan. »Jahrzehntelang hat man sich im Wesentlichen um die Gefängnisinsassen gekümmert. Wir waren es, die gefragt haben: Müsste man nicht auch etwas für die Familien und Kinder tun?« So ging das los. Witzke ist viel gereist, war bei den Partnerorganisationen vor Ort, hat die Häftlinge und deren Familien besucht. Mittlerweile begleitet die Stiftung 6000 Kinder; über Patenschaften werden Spenden akquiriert. Seit 2014 ist das Europabüro der NGO Untermieter im Stiftungshaus in Leonberg. »Ein prägender Satz für mein Leben ist die Aussage Jesu: ›Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben als Lösegeld für viele.‹ So verstehe ich mein Handeln: Teil dieser Bewegung zu sein, aus der Menschen in echte Freiheit kommen.«

Ein Stockwerk weiter oben, im Besprechungszimmer der Stiftung, sind die Regalbretter voll mit gerahmten Urkunden von gewonnenen Wettbewerben, Preisen, Auszeichnungen. Angefangen hat Marcus Witzke mit einem Halbtagspraktikanten; heute beschäftigt die Stiftung sechzig Personen. Nächstes Jahr sollen in Öhringen bei Heilbronn drei weitere Hoffnungshäuser eröffnet werden; Witzke wird dann im zehnten Jahr Stiftungsvorstand sein.

Vorbild für andere Städte, Länder

Um den Posten als Geschäftsführer und Vorstand einer Stiftung bewirbt man sich nicht; üblicherweise setzt der Stifter eine vertraute Person ein. Bei Stifter Merckle war das anders. Er schickte einen Headhunter los, schließlich wollte er niemanden, der das Geld verwaltet, sondern einen Manager, der ein ambitioniertes Sozialprojekt aufbaut und weiteres Geld erlöst, sodass das Sozialprojekt so groß wird, dass es eines Tages als Modell und Vorbild für weitere Städte, weitere Länder dient.

Marcus Witzke hat damit, so scheint es, eine Lebensaufgabe gefunden. Künftig soll in der Stiftungsarbeit mehr der christliche Glaube betont werden, gerade in einer Zeit, in der die Kirche wirtschaftlich zu kämpfen hat. In Kolumbien will sich die Stiftung an einem Wiederaufforstungsprojekt des Amazonas-Regenwalds beteiligen. »Wir haben noch viel vor«, sagt er und muss dann auch los.

Im Gehen gibt er uns ein letztes Manager- Bonmot mit auf den Weg: Sobald das Projekt, an dem man arbeitet, größer wird und man Leute einstellt, sollte es das Ziel sein, solche zu finden, die in bestimmten Tätigkeiten besser sind, als man selbst es ist.