Guen Soo Senn
Der Traum lebt weiter
Guen Soo Senn begleitete ihren Ehemann Martin Senn an die Spitze der Zurich Insurance Group – und damit an viele Anlässe der High Society. Bis er den Job verlor und Selbstmord beging. Sie erhielt die Diagnose Krebs. Trotzdem ist sie voller Hoffnung und Träume.
Guen Soo Senn sitzt an ihrem Lieblingsplatz. Hier am Tisch schaut sie Morgen für Morgen in die Natur, führt Zwiegespräche mit Gott und liest in ihrer Bibel. Auch heute noch – eineinhalb Jahre nach dem Freitod ihres Ehemannes Martin Senn, dem ehemaligen CEO der Zurich Insurance Group.
Ein Schiff voller Spießer
In Südkorea aufgewachsen, verdankt sie ihrer Mutter ihren christlichen Glauben und eine große Portion Disziplin. »Mein eigentlicher Beruf ist Violinistin«, gibt sie mit leuchtenden Augen preis. An der Geige gewann sie zahlreiche Preise bei renommierten Musikwettbewerben. Zuerst spielte Guen Soo Senn in der koreanischen Philharmonie, dann in Hongkong. Dort wurde sie eines Tages mit einer Freundin aus dem Orchester zu einer 1.-August-Party anlässlich des Schweizer Nationalfeiertages auf ein Schiff voller Schweizer eingeladen. Allerdings hatte sie sich die Feierlichkeiten anders vorgestellt. Über drei Stunden hinweg sprach niemand ein Wort mit ihr. So sank ihre Laune zunehmend –, bis Martin Senn auf sie zukam, der für eine Schweizer Bank in Hongkong arbeitete. »Er fragte mich tatsächlich, ob ich aus Nord- oder Südkorea komme«, schmunzelt Guen Soo Senn. Damals verärgerte sie die Frage derart, dass sie dem Schweizer Dummheit und Spießbürgertum vorwarf. Denn niemals hätte jemand aus Nordkorea frei herumreisen dürfen. Martin Senns Antwort ist Guen Soo Senn noch so präsent, als hätte er sie ihr erst gestern gegeben: »Vielleicht bin ich dumm, aber mein Vater hat mich gelehrt, dass es keine dummen Fragen gibt, nur dumme Antworten.« Zwei Jahre später waren die beiden verheiratet.
Endlich konnte ich die Freiheit genießen, die mir als Kind wegen der Musik nie vergönnt gewesen war.
Das Ehepaar zog in die Schweiz und bekam zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Während Martin Senn die Karriereleiter erklomm, gab Guen Soo Senn ihren Beruf als Violinistin auf. »Bereut habe ich diesen Schritt nie«, schießt es aus ihrem Mund. »Endlich konnte ich die Freiheit genießen, die mir als Kind wegen der Musik nie vergönnt gewesen war.« Während sie sich dem Haus und den Kindern widmete, wurde ihr Mann zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten der Schweizer Wirtschaft. Ursprünglich hatte er eine kaufmännische Lehre beim Schweizerischen Bankverein in Basel absolviert, später folgten Führungsfunktionen bei der Swiss Life Gruppe und der Crédit Suisse. 2006 startete Martin Senns Karriere in der Zurich Insurance Group, zuerst als Chief Investment Officer, danach als Mitglied der Konzernleitung.
Ganz oben
Als er 2010 schließlich CEO der Unternehmensgruppe wurde, lagen hinter seiner Familie Monate der Unsicherheit. Einerseits hatte das Ehepaar Senn gehofft, dass er den Job bekommen würde, andererseits war ihm bewusst, dass damit größere Verantwortung und stärkere Belastungen auf Martin Senn warteten. »Wir haben ein Jahr lang gebetet, dass Gott meinem Mann die Stelle anvertrauen würde, wenn es sein Wille ist«, erzählt Guen Soo Senn. Und es schien Gottes Wille zu sein. Martin rief am Tag der Entscheidung ganz aufgeregt an und sagte nur drei Worte: »Ich habe ihn!« Diese drei Worte klingen immer noch in Guen Soos Ohren. In einer Zeit, in der Korruption und Gewalt vorherrschen, sei es umso wichtiger, dass an der Spitze der Wirtschaft Menschen mit Sinn für Verantwortung und Humanität stünden, betont Guen Soo Senn. Sie begleitete ihren Mann fortan auf Geschäftsreisen durch die ganze Welt und begegnete Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik. Oft war sie es dabei, die das Eis in der eher steifen Geschäftswelt brach. »Mit Menschen zu sprechen, ist eines meiner Talente«, lacht Guen Soo Senn.
Dunkle Wolken am Horizont
»Wir haben in der neuen Position meines Mannes eine große Chance gesehen, unseren Teil zu einer von guten Werten geleiteten Wirtschaft beizutragen«, sagt Guen Soo Senn. Ihrem Mann stand sie als wichtige Beraterin zur Seite. Seine Arbeitszeit nahm nun zwar immer mehr zu, dennoch blieb Raum für Gespräche und gemeinsames Bibellesen. Sie vertrauten darauf, dass Gott ihnen den richtigen Weg zeigen würde. Eine Zeit lang lief alles gut, doch dann tauchten Probleme auf: Nicht alle Menschen in Martin Senns beruflichem Umfeld gönnten ihm die neue Position. »Als CEO hat man viele Bewunderer, aber ebenso viele Neider«, bemerkt Guen Soo Senn. »Ehrlichkeit und Fairness waren Martins oberste Prinzipien.« Doch diese seien gar nicht so leicht durchzusetzen, wenn das Arbeitsumfeld sie nicht ebenso an erste Stelle setze. »Manchmal fühlte sich Martin minderwertig, weil er im Gegensatz zu vielen anderen in ähnlicher Funktion kein Absolvent einer Spitzenuniversität war«, gesteht Guen Soo Seen. Umso wichtiger sei es für sie darum gewesen, zu wissen, dass sie auf Gott vertrauen konnten.
Wir haben gebetet, dass Gott meinem Mann die Stelle anvertrauen würde.
Im Laufe der Zeit musste Guen Soo Senn dennoch mit ansehen, wie ihr Mann immer bedrückter wurde. Obwohl unter Martin Senns Führung in keinem Quartal rote Zahlen geschrieben wurden, gab es im Verwaltungsrat Intrigen gegen ihn. Um seinen Fokus von den Schwierigkeiten wegzulenken, versuchte sie ihm zu zeigen, dass er auch viele Aufgaben außerhalb seines Jobs habe. Doch als Senn plötzlich als CEO abgesetzt wurde, stürzte ihn das in eine noch tiefere Krise. »Ich erklärte ihm, dass seine erste Liebe, die Arbeit, tot sei, er aber immer noch mich habe«, erinnert sich Guen Soo Senn. Ihre fürsorglichen Worte konnten die Abwärtsspirale in seinem Kopf nicht mehr anhalten. Am 27. Mai 2016 erschoss sich Martin Senn in seiner Ferienwohnung im Kanton Graubünden.
Das Danach
Die ersten Wochen nach dem Freitod ihres Mannes vergingen für Guen Soo Senn sehr schnell. »Es gab viel zu organisieren und ich war so damit beschäftigt, andere zu trösten, dass ich zuerst gar nicht bemerkte, wie schlecht es mir selbst ging.« Immer wieder schossen ihr dieselben Fragen durch den Kopf: Warum hatte Martin ihr das angetan? Weshalb auf diese Art und Weise? Was würde aus ihrem gemeinsamen Traum werden, nach der Pensionierung in die pastorale Seelsorge für Manager einzusteigen und für christliche Werte in der Wirtschaft zu werben?
Fragen, auf die es keine Antworten gab. Guen Soo Senn erkrankte selbst an Krebs und erlitt danach ein Burn-out. Trotz des immensen Schmerzes führte sie ihre Zwiegespräche mit Gott weiter und merkte, wie diese sie nach und nach trösteten. »Gott hat mir gezeigt, dass es eigentlich keine Rolle spielt, woran ein Mensch stirbt.« Er bestimme, wann jemand auf diese Erde käme und auch wann und wie er sie wieder verlassen würde. Natürlich habe sie oft den Wunsch gespürt, Gott nach dem Warum zu fragen. Depressionen seien mit einer Krebserkrankung vergleichbar. Manchmal gäbe es Heilung und manchmal eben nicht. »Wenn ich eines Tages ebenfalls vor Gott stehen werde, weiß ich die Antworten auf all diese Fragen, aber dann wird es keine Rolle mehr spielen, weil nur noch Liebe vorherrscht.« Sie habe aber die Gewissheit, dass Martin jetzt bei ihm sei und so Frieden gefunden habe. »An Gottes Liebe habe ich nie gezweifelt. Allein das hat mir die Kraft gegeben, auch den Menschen zu vergeben, die Martins Tod mitzuverantworten haben.«
Der Traum lebt weiter
Heute schöpft Guen Soo Senn Hoffnung für die Zukunft. Sie genießt ihre täglichen Zwiegespräche mit Gott und den Blick in die Natur. Ab und zu nimmt sie auch wieder die Geige zur Hand und pflegt ihre Freundschaften oder tauscht sich mit ihren Kindern aus, auf die sie sehr stolz ist. Der gemeinsame Traum von der pastoralen Seelsorge für Manager ist jetzt ihr Traum. Mit Gottes Hilfe will sie ihn ausleben – für sich, für ihren Mann und für eine humanere Wirtschaft.
Guen Soo Senn
Guen Soo Senn ist in Südkorea aufgewachsen. Sie hat als Violinistin Karriere gemacht und zahlreiche Preise gewonnen. Bis sie den Schweizer Manager Martin Senn kennenlernte und ihn heiratete. Gemeinsam zog das Paar in die Schweiz, wo sich Guen Soo Senn ganz bewusst ihren zwei Kindern und dem Haushalt widmete. Daneben begleitete sie ihren Ehemann als Ratgeberin an die Spitze der Zurich Insurance Group. Trotz dessen Tod schlägt Guen Soo Senns Herz weiterhin für Führungskräfte, die sie ermutigen will, aus dem christlichen Glauben Kraft zu schöpfen.