Annette Riedl
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Albrecht Mayer

Die heilsame Musik

Als Kind ist Albrecht Mayer nicht nur dem Gespött in der Schule ausgesetzt. Der stotternde Junge findet auch im Elternhaus keine Anerkennung. Heute füllt der Star-Oboist die renommiertesten Konzertsäle weltweit.

Simon Jahn
Simon Jahn
8 min

Albrecht Mayer passt in kein Schema. Hat er noch nie. Der Oboenweltstar, der schon auf allen bedeutenden Klassikbühnen gefeiert wurde, erscheint nach der Generalprobe mit »Maestro Barenboim« im knallbunten Strickpulli und witzelt sofort los: Er nuschelt sich comedianhaft durch die Schattierungen des fränkischen Dialekts, redet sich bei den ersten Fragen wiederum fast in Rage über die Coronapolitik Deutschlands: Die Bundesrepublik habe sich in den vergangenen drei Jahren zu einem »Katastrophenland« entwickelt, sei weltweit auf dem letzten Platz, die Kulturszene nachhaltig beschädigt. Mayer ist geraderaus. Er hätte genauso auch Schauspieler, Politiker oder Professor werden können, sagt er. Man würde es ihm – so, wie er redet – sofort zutrauen. 

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Als stotternder Junge bekam Albrecht Mayer Panik, wenn er vor der Klasse sprechen musste. Heute liebt es der 57-Jährige umso mehr, seine Zuhörer zu unterhalten.

Obwohl es aberwitzig klingt von einem, der schon im Kindesalter, zwei Jahre nachdem er sein Instrument zum ersten Mal in den Händen hielt, bezahlte Auftritte spielte. Einem, der alles erreicht hat an der Oboe, zahlreiche Auszeichnungen einheimsen konnte und sogar eine eigene Oboe mitentwickelt hat. Erfolg hänge aber nicht in erster Linie vom Talent ab, ist er überzeugt. Neunzig Prozent mache ein starker Leidensdruck aus, etwas zu schaffen. Es brauche eine besondere Leidensfähigkeit, um Großes zu erreichen. Und so war die Oboe bei Albrecht Mayer von Anfang an nicht in erster Linie die große Leidenschaft, sondern das entscheidende Ventil für einen stotternden Jungen ohne Selbstwert, sich zu sozialisieren. 

Das Instrument, das alles verändert

Es ist ein unscheinbarer Tag, als sich der zehnjährige Albrecht und sein Bruder Matthias daheim zum Mittagessen an den Tisch setzen. Nur liegt dort diesmal ein den beiden unbekanntes Instrument. »Das lernt ihr ab sofort«, ist die Ansage des Vaters. Der in der Öffentlichkeit weithin respektierte Bamberger Kinderarzt baut auf die neue Erkenntnis, dass sich mit Blasinstrumenten Atemführungsprobleme behandeln lassen. Sprich: Die Oboe als Therapie gegen das Stottern des Sohnes. Der leidet ungemein unter seiner Sprachstörung, die ihn bei Mitschülern und manchem Lehrer zum Gespött werden lässt. 

Doch das Stottern ist über das Atemführungsproblem hinaus ein verzweifelter Ausdruck eines eigensinnigen Jungen, der sogar von seinen Eltern als seltsam und ungeschickt abgestempelt wird. Dabei beweist ein IQ-Test schon im Grundschulalter das Gegenteil: Der Junge hat einen Intelligenzquotienten von 150 – er ist hochbegabt. Am fehlenden Selbstwertgefühl vermag diese Erkenntnis gleichwohl nichts auszurichten. Denn Anerkennung findet er im autoritär geführten Elternhaus keine.  

Das verordnete Musizieren wird ihm schnell zum geliebten Ansporn.

Als die Oboe an jenem Tag auf dem Tisch vor den Brüdern liegt, ist klar: Widerspruch wäre zwecklos. Das verordnete Musizieren wird Albrecht jedoch schnell zum geliebten Ansporn. Nicht zuletzt, weil es dem aufmüpfigen und »sehr unglücklichen Kind« schon bald die Anerkennung – auch von weiblicher Seite – einbringt, die es bis dahin so schmerzlich vermisst hat. Der Eifer zahlt sich schon zwei Jahre später auch monetär aus, als Mayer erstmals Geld für Auftritte

einstreicht. Von da an öffnet sich dem Jungen eine neue Welt. Er investiert all seine Freizeit ins Musizieren – auch am Klavier und an der Blockflöte – und wird Teil zahlreicher Orchester und Ensembles. Mit einer Aufnahme ins Bayerische Landesjugendorchester erreicht er mit vierzehn Jahren schon die Spitze dessen, was musikalisch im Jugendalter möglich ist. Das Ensemble, mit dem er die folgenden Jahre regelmäßig auf Tournee geht, wird für ihn eine Art Zuhause, das er so nie kannte. Er gewinnt an Selbstbewusstsein und reift in seiner Persönlichkeit.  

Mit neunzehn wird er unter großem Beifall der Mitglieder schließlich zum Vorstand des Orchesters gewählt. Von Euphorie getragen, hält er spontan eine minutenlange Rede vor seinen Mitmusikern – ohne jegliches Stocken. Es ist für Mayer der Moment der Wende vom selbstzweifelnden Stotterer zum gestandenen Musiker, der etwas zu sagen hat.   

Wenn mich etwas interessiert, kann ich es nicht unangetastet lassen.

Kämpferischer Weg zum Welterfolg

Die steile Erfolgskurve wird nach der Schule jedoch erst einmal abgebremst, als Mayer zum Wehrdienst eingezogen wird. Widerworte bei für ihn nicht nachvollziehbaren Vorgaben bescheren ihm ebenso Strafaufgaben wie so mancher heimliche abendliche Ausflug, um Konzerte zu spielen. Als er das Kasernenkorsett endlich wieder abstreifen kann, winkt mit dem Musikstudium in Hannover endlich wieder Freiheit. Doch der in der fränkischen Heimat etablierte Oboist muss schnell feststellen, dass er in Niedersachsen nur einer unter vielen ist und sich seinen Stand im neuen Revier erst hart erarbeiten muss. Das erste feste Engagement nach Abschluss der Musikhochschule führt Mayer nicht nur zurück in seine Heimatstadt. Er kann als Solo-Oboist direkt bei einem der renommiertesten deutschen Orchester anheuern – den Bamberger Symphonikern. 

Nur ein Jahr später erfährt er davon, dass bei den Berliner Philharmonikern die Stelle des Solo-Oboisten neu zu besetzen ist. Mayer rechnet sich zwar keine Chancen aus, befindet er sich doch gerade einmal am Anfang seiner Karriere. Hunderte erfahrene Oboisten aus aller Welt gehen ins Rennen. Dennoch bewirbt er sich pro forma. Die Einladung zum Vorspiel will er eigentlich absagen, lässt sich dann aber doch dazu überreden. Er übernachtet bei einem Freund, der ihm ohne Vorwarnung Haschkekse und Cannabistee serviert. Immer noch benebelt tritt er das Vorspiel an, schafft die zweite, dann auch die dritte Runde – und setzt sich am Ende gegen alle Mitbewerber durch. Damit ist Mayer endgültig in der obersten Liga angekommen. Einfacher sollte es damit aber nicht werden. 

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Seit 2009 spielt Albrecht Mayer eine Oboe, die er mit dem Instrumentenbauer Ludwig Frank selbst entwickelt hat.

»Man hat versucht, mich zu brechen. Und ich war schon kurz davor«, resümiert der Musiker seine ersten zwei Jahre in dem Weltklasse-Orchester. »Ich hätte gern darauf verzichtet.« Doch für Albrecht Mayer gibt es keinen anderen Weg. »Wenn mich etwas interessiert, kann ich es nicht unangetastet lassen«, beschreibt er sich selbst. Dieser Fokus, dieses Streben danach, sich immer weiter zu verbessern, lassen ihn zwei Jahre durchstehen, in denen seine Mitmusiker ihn fortwährend kritisieren und auf die Probe stellen. Mayer ist dabei keine Ausnahme – allen Neuen ergeht es in ihrer Probezeit damals so. Er kenne einige, die sich davon nie richtig erholt hätten, erzählt er. Doch die Möglichkeiten, die sich dem Oboisten in Berlin eröffnen, wiegen die Schmach offenbar auf: Hochkarätige Musiker kommen für Kooperationen auf ihn zu, Instrumentenbauer buhlen um ihn, zudem kann er unter den bedeutendsten Dirigenten spielen. 

Ein Star, der keiner sein will

Inzwischen ist Albrecht Mayer sein 31. Jahr Mitglied der Berliner Philharmoniker, spielt in zahlreichen Ensembles und Formationen, steht bisweilen am Dirigentenpult, unterrichtet Master Classes und gibt Solokonzerte rund um den Erdball an magischen Orten wie der Carnegie Hall in New York. Seine Aufnahmen haben es bis in die Popcharts geschafft, schon viermal wurde er mit dem Echo Klassik beziehungsweise dessen Nachfolger, dem Opus Klassik, ausgezeichnet. Mit dem erfahrenen Instrumentenbauer Ludwig Frank hat er sogar jahrelang an einer Oboe gefeilt, die sein persönliches Musikideal verkörpert. Viel mehr geht eigentlich nicht. Aber von Superlativen hält Albrecht Mayer nicht viel. Der Oboensuperstar, als den ihn viele sehen, will er nicht sein. »Hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen gibt es jemanden, der spielt noch tausendmal schöner als ich«, witzelt er ganz allürenlos. Zwar hat er auf seinen Reisen schon oft in Luxusautos gesessen, aber zu Hause in Berlin fährt er einen kleinen Peugeot. Zwar hat er eine Sammelleidenschaft für schöne Uhren, aber was das für eine teure Uhr ist, die er heute trägt, damit will er nicht prahlen. Zwar sind die Karten für seine Konzerte nicht die günstigsten, aber in der Coronapandemie setzte er sich, als ihm die Decke auf den Kopf fiel, einfach in Berliner Parks und spielte für die Vorbeischlendernden auf seiner Oboe. Eine Idee, die übrigens seiner Tochter kam, als sie merkte, wie ihrem Papa das Publikum fehlte. Denn: »Noch mehr als die Musik bedeutet mir das Publikum, Menschen zu entführen in verrückte Welten«, sagt der Ausnahmemusiker.

Noch mehr als die Musik bedeutet mir das Publikum.

Musik als Zugang zu Gott

Musik eröffnet Räume, Sphären. So erlebt Albrecht Mayer es selbst immer wieder – vor allem, wenn er in Kirchen spielt. Diese sind darum seine Lieblingsorte für Konzerte. Besonders faszinieren ihn dabei Johann Sebastian Bach, Mozart und Beethoven und ihre Spiritualität. »Wenn man Mozarts Requiem anhört, könnte man Gott nicht näherkommen – zumindest musikalisch. […] Dasselbe Gefühl überkommt mich, wenn ich Beethovens ›Missa solemnis‹ oder die ›Matthäuspassion‹ von Johann Sebastian Bach höre oder spiele«, schreibt er in seiner Biografie »Klangwunder«. »Obwohl sich viele Menschen von der traditionellen Institution Kirche entfernt haben, sind sie Gott im Herzen dennoch nicht fern. Die Schöpfung hat uns einen inneren Drang nach einer Gottessehnsucht in die Seele gebrannt«, so Mayer weiter. Besonders Bachs Glaube habe ihn geprägt. »Für mich spricht Gott durch Bach.« 

Das Höchste der Gefühle

Egal, ob Albrecht Mayer von seinen »drei Superstars« redet, über die Oboe oder von Zusammenarbeiten mit anderen außergewöhnlichen Persönlichkeiten aus der Branche: Geht es um die Musik, ist er ganz bei sich. Man kann dann nachvollziehen, was einmal einen Mann in Caracas dazu bewegte, dem Oboisten zu sagen »Sie sind kein guter Musiker. Sie sind die Musik!« – ein Kompliment, das Mayer als das größte bezeichnet, das ihm je gemacht wurde. Und es passt umso mehr ins Bild des Ausnahmeoboisten, der in keiner Schublade so recht Platz finden mag, dass ihm nicht nur das Publikum wichtiger ist als die Musik. Das Höchste der Gefühle sei für ihn gar nicht, Oboe zu spielen, sondern zu dirigieren. »Die erste Symphonie von Brahms oder die fünfte von Beethoven dirigieren zu dürfen, das ist schöner als das beste Essen, der beste Wein und die schönste Frau. Besser als der schönste Sex.« Kein Wunder also, dass es bei Mayer doch eine Schublade gibt – nämlich eine, in der er Taktstöcke der besten Dirigenten der Welt sammelt. 

Albrecht Mayer

Albrecht Mayer

Durch die Oboe überwand Albrecht Mayer (57) nicht nur das Stottern, sondern avancierte zu einem der gefragtesten Solisten an dem Instrument. Er ist seit 1992 Solo- Oboist der Berliner Philharmoniker, spielte in allen wichtigen Konzertsälen weltweit und unter den anerkanntesten Dirigenten wie Claudio Abbado und Daniel Barenboim. Für seine Musik wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, darunter dreimal mit dem Echo Klassik.