Basil Stücheli
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Ruedi Josuran

Die Kunst der richtigen Frage

Er moderiert und präsentiert live auf Knopfdruck vor der Kamera. Aber es geht ihm nie um sein eigenes Sendungsbewusstsein. Stets rückt der Moderator die Biografien anderer ins Zentrum. Dabei hat er selbst fast keinen Schicksalsschlag ausgelassen.

Stephan Lehmann-Maldonado
Stephan Lehmann-Maldonado
8 min

Bahnhofperron, Zürich Stadelhofen. Gedankenversunken wartet Ruedi Josuran auf seinen Zug. Da rempelt ihn einer an. »Du bist der größte Heuchler unter der Sonne. Gott lässt dich doch auch im Stich«, schreit ihm ein Mann ins Ohr. Josuran riecht den Alkohol in seinem Atem.

Ruedi Josuran ist es gewohnt, dass Leute ihn ansprechen, besonders häufig in der Bahn. Er könnte solche Begegnungen vermeiden, wenn er – wie viele Prominente – aufs Privatauto ausweichen würde. Aber zu sehr schätzt er es, »Brücken zu Mitmenschen zu bauen«, wie er es ausdrückt. Josuran verkörpert seit über zehn Jahren das Gesicht der TV-Sendung »Fenster zum Sonntag«, die übers Schweizer Fernsehen unzählige Schweizer Wohnzimmer erreicht. Viele Menschen begleitet er über Radio und TV seit ihrer Kindheit: mit seiner samtweichen und doch klaren Stimme und seinem Feingespür, seinen Gästen den Puls zu fühlen. Darüber hinaus haben viele Menschen an den privaten Schicksalen des Moderators teilgenommen. Depressionen, Herzinfarkt, Nierentumor – nichts schien ihm erspart geblieben zu sein. 

Weshalb denken Sie, dass ich heuchle?

Aber wie nun reagieren? Josuran entscheidet sich, das zu tun, was er instinktiv fast immer tut: das Gespräch starten, Fragen stellen. »Ich bin nicht der Typ, der Menschen abweist, bloß weil er seine Ruhe sucht«, sagt er. So landet das ungleiche Paar bald in einem Café. »Weshalb denken Sie, dass ich heuchle? Was hat Ihnen Gott angetan, dass Sie ihn so hassen?«, will der Moderator von seinem Gegenüber wissen. Dieses beruhigt sich mit jedem Wort, relativiert seine Kritik, lässt eigene Verletzungen durchschimmern. Die Sendung sei schon okay, aber es störe, dass »immer« der Faktor Gott ins Spiel komme. Die Episode bildet die Ausnahme. Nie zuvor hat es Josuran erlebt, dass ihn jemand beleidigt, nur weil er eben er ist. Doch gerade seine Reaktion in dieser Situation zeigt, wie tief das Interesse an seinen Mitmenschen in ihm verankert ist. Es ist mehr als eine Attitüde. »Wenn jemand durchdreht, gibt es immer eine Ursache dafür. Was hat den Nerv lahmgelegt? Ich möchte zu dieser Erfahrung vordringen – und zwar, indem ich die richtigen Fragen stelle«, erklärt Ruedi Josuran. Den Dingen auf den Grund gehen, nichts anderes mache er in seinem Beruf.

Zwischen Palmen und Palazzi

Wenn Josuran inzwischen den Vorzeige-TV-Mann fürs Feinfühlige verkörpert, reichen die Anfänge auch bei ihm weit zurück. Aufgewachsen ist er zwischen Palmen, Palazzi und der Seepromenade in Lugano, der Stadt mit Rio-de-Janeiro-Ambiente. Kaum war die Schule aus, schlich sich der kleine Rodolfo, so sein früherer Rufname, in die Bar seiner Mutter. Hier pulsierte das Leben, trafen sich verschiedenste Menschen, herrschte Betrieb bis in die Nacht hinein. »Es war ein Kommen und Gehen. Diese Stimmung hat sich in mir eingraviert. Seit meiner Kindheit bin ich ein Gemeinschaftsmensch. Das größte Unglück wäre für mich, niemanden mehr um mich zu haben«, sagt Josuran. »Von klein auf musste ich lernen, einen Draht zu den Menschen zu finden – auch zu solchen aus anderen Kulturen. Das hilft mir bis heute.«

Eine Feuerprobe für diese Gabe stand bald an. Als Ruedi Josuran zwölf Jahre alt war, wurde er aus seinem Umfeld gerissen. Seine Familie zog vom italienischsprachigen Lugano in die Deutschschweiz, in die Umgebung von Zürich. Ein Kulturschock. Ruedi stand vor einer kommunikativen Herkulesaufgabe. »In der Schule verstand ich kein Wort. Ich fühlte mich wie ein Ausländer.« Wie sollte er den Draht zu diesen Menschen finden? Ruedi Josuran tat, was er stets gern tut. Er beobachtete sein Umfeld genau und hörte aufmerksam zu. »Ich lerne Sprachen durchs Gehör und muss dafür im Sprachgebiet leben können. Pauken hilft mir nicht weiter«, meint Josuran. Seine Methode funktionierte, auch zum Erstaunen der Lehrerin. Während er um Mathe lieber einen Bogen machte, sprudelten die Ideen bei Aufsätzen. »Dir fällt immer etwas ein. Schreib doch übers Liebesleben der Ameisen«, lobte ihn die Lehrerin. »Für mich war das ein Aha-Erlebnis«, erklärt Josuran. Bis heute genügt ihm ein Stichwort und – Achtung, fertig, los! – das Kino in seinem Kopf startet.

Schawinski förderte und forderte mich extrem.

Fantasieren, schreiben, reden: Das konnte er. Weshalb also das nicht zum Beruf machen? »Schnell war mir klar, dass ich Reporter werden wollte. Vor allem, weil ich dann kostenlos bei Fußballspielen dabei sein könnte.« Josuran schmunzelt. Er, der sonst dazu neigt, alles zu hinterfragen und sich selbst anzuzweifeln, war sich sicher, dass er das Zeug dazu hat, beim Radio einzusteigen. Noch heute bleibt es sein Lieblingsmedium. Dabei ging er nach dem Motto »wo ein Wille ist, ist auch ein Weg« vor. Der Wunsch verdrängte alle Ängste vor dem Versagen. »Ich war stets hoch motiviert, holte alles mit Fleiß auf, was ich in der Schule verschlafen hatte. Denn meine Konkurrenten waren im Gegensatz zu mir Hochschulabsolventen.« 

Von der Knochenarbeit zum Traumjob

Der Rest ist Schweizer Mediengeschichte. Ruedi Josuran startete bei Radio Zürisee, wechselte dann zu Radio 24, um beim Schweizer Fernsehen und Radio SRF zu landen. Bis die Anfrage von ERF kam, ob er die Sendung »Fenster zum Sonntag« moderieren könnte. Das Medienhaus ERF liefert diese pfannenfertig ans Schweizer Fernsehen. 

Zwei Medienpioniere haben Ruedi Josuran besonders inspiriert. Da war der Medien-
Zampano Roger Schawinski, der das erste Schweizer Privatradio »Radio 24« und den ersten Schweizer Privatfernsehkanal »TeleZüri« gegründet hatte. Schawinski heuerte Ruedi Josuran an. »Er fördert seine Leute extrem – und fordert sie extrem«, sagt Josuran. »Schawinski stellte mich von der Ersatzbank direkt aufs Spielfeld. Aber dann musste ich liefern. Denn dieser Trainer hat kein Verständnis, wenn man sich schont.«

Lernen von Larry King

Gut, dass Ruedi Josuran manche Eigenschaften zugutekamen, die er sich auf dem Fußballplatz angeeignet hatte. »Meist war ich einer der kleinsten Spieler auf dem Rasen, stürzte mich aber umso wütender in die Zweikämpfe – vermutlich aus schierer Verzweiflung«, sinniert Josuran. Sobald der friedliebende Ruedi den Ball vor sich sah, mutierte er zum bissigen Angreifer. Auf seine Platzverweise ist er nicht stolz. »Aber immerhin habe ich gelernt, dass man mit Willen und Einsatz viel erreichen kann.«

Seinen zweiten Schulmeister kennt Ruedi Josuran nur vom Bildschirm. Stundenlang analysierte er das Verhalten des US-Talkmasters Larry King. Dieser stellte kurze, offene Fragen. Und er sagte etwas, das sich Josuran zu Herzen nahm: »Um als Talkmaster erfolgreich zu sein, musst du du selbst sein.« Sobald man versuche, anderen etwas vorzugaukeln, verliere man die Glaubwürdigkeit. Josuran: »Vor der Kamera muss ich mich nicht verstellen. Gesichter und Geschichten sind meine Leidenschaften. Ich bin endlos neugierig auf Menschen.«

Sich selbst blieb Josuran sogar in den Momenten treu, in denen er in seinen Sendungen den Sunnyboy mimte, obwohl er privat immer tiefer in die Krise schlitterte. »Mir fällt es leicht, in den Überlebensmodus umzuschalten. Selbst wenn ich mich vor Schmerzen krümme, raffe ich mich auf und gehe weiter. Darin liegt für mich ein Geheimnis, denn diese Kraft kommt nicht von mir. Gott ist für mich eine Person, mit der ich alles teilen kann. Darauf gründet meine Hoffnung.« Als ihn Schlafstörungen plagten und sein Akku zusehends aufgebraucht war, ignorierte Josuran die körperlichen Warnanzeigen allerdings zu lange. Zu wichtig schien ihm sein Job. Bis ihm ein Arzt den Stecker zog: Erschöpfungsdepression. 

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Diagnose Herzinfarkt

»Gott verwandelt Wunden in Perlen«, sagte einst die Benediktiner-Äbtissin Hildegard von Bingen. Ein Satz, den Ruedi Josuran gern zitiert. Sein Burn-out verarbeitete er im Bestseller »Mittendrin und nicht dabei«. Und um anderen zu helfen, die keine Farbe im Leben mehr wahrnehmen, absolvierte er eine Ausbildung zum Coach, Schwerpunkt: Burn-out-Prävention. Seine Geschichte hilft anderen, sich mit Josuran zu identifizieren. »Wer sich stark zeigt, schreckt andere ab. Offenbare ich Schwächen, reiße ich Barrieren herunter«, meint Josuran. Dennoch begleitet er Menschen nicht monatelang. Er erledigt die Arbeit, die er auch sonst erledigt: Er stellt Fragen, präzise Fragen. Damit Menschen die Ressourcen aktivieren können, die in ihnen schlummern – und erkennen, welche nächsten Schritte dran sind.

Keinen Schritt mehr machen konnte Ruedi Josuran 2009. In einem Lebensmittelgeschäft brach er zusammen. Diagnose: Herzinfarkt, Überlebenschancen: sechzig Prozent. Der Moderator wähnte sich wie als Zuschauer im eigenen Film. Zugleich drang er in der Ambulanz in eine neue Dimension ein. Eine Nahtoderfahrung? Josuran verneint: »Plötzlich umgab mich eine himmlische Geborgenheit. Ich erlebte die völlige Umhüllung von Liebe, einen Frieden ohne Ende. Es fühlte sich an, als ob man mich mit Geschenken überschüttet hätte. Jegliche Angst war verschwunden.« Josuran erholte sich übernatürlich schnell. Kein Drehtermin musste verschoben werden. Bis heute hat er das Gefühl, das er kaum in Worte fassen kann, nicht mehr gehabt. Auch dann nicht, als er sich vor zwei Jahren zwei Nierentumoren entfernen lassen musste. Trotz aller Rückschläge wächst die Hoffnung, die Josuran antreibt. Sie reicht weiter als positives Denken. »Billige Durchhalteparolen widerstreben mir. Leid und Schmerzen gehören zum Leben. Aber sie stellen nicht das ganze Bild dar«, sagt Josuran. »Auch wenn alles schiefläuft, gibt mir Gott die Gewissheit, dass ich mit meinen Sorgen nicht allein bin.« Josuran orientiert sich an einer Formulierung aus der benediktinischen Spiritualität: »Alles, was dir geschieht, jedes Gefühl, alles, was dich beschäftigt – sobald du es vor Gott legst, bekommt es die Chance, dass etwas damit geschieht.«

Spiegel der Seele

Wer ist »schuld« an diesem Glauben? Die italienische Großmutter von Ruedi Josuran. Sie schleppte sich bis ins hohe Alter regelmäßig in die Kirche. »Für mich begann da ein roter Faden, der sich bis heute durch mein Leben zieht.« Aber es sei nicht die institutionalisierte Religion, die ihn fasziniere, sondern Jesus, der den Glauben hier auf Erden erfahrbar gemacht habe. »Mit Gott ist es für mich ähnlich wie mit Menschen: Spannend ist der Austausch.« Was aber, wenn andere seinen Glauben kritisieren wie der anfänglich erwähnte Querschläger? »Ich bin nicht Gottes Rechtsanwalt. Er kann sich selbst verteidigen«, winkt Josuran ab. »Je näher ich zu dem stehe, der mir das Leben geschenkt hat, desto mehr werde ich zum Spiegel für andere Menschen.« Mehr muss auch ein professioneller Sprecher nicht sagen. 

Ruedi Josuran

Ruedi Josuran

Er ist das charmante Gesicht der Schweizer TV-Sendung »Fenster zum Sonntag« – trotz privater Schicksalsschläge: Burn-out, Depressionen, Herzinfarkt, Nierentumor. Er ist seit über vierzig Jahren verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern.