Steffen Roth
©

Jenifer Girke

Die Überwinderin

Ist es arrogant, sich als junge, erfolgreiche Karrierefrau zu bezeichnen? Mein Perfektionismus schwappte vom Beruflichen ins Private über. Das Resultat: Magersucht. Erst als ich aufgehört habe, mich ständig mit anderen zu vergleichen, bin ich wirklich gut geworden. Nicht besser.

Jenifer Girke
Jenifer Girke
6 min

Die strenge Erziehung meines Vaters hat mich früh gelehrt: Gut ist nie gut genug. Sei besser – besser als andere, besser als du selbst. Eine Zwei in Mathematik war nicht akzeptabel. Es musste eine Eins sein. Zahlenschwäche, Konzentrationsschwierigkeiten oder einfach eine natürliche Unsicherheit einer Siebenjährigen galten als faule Ausrede und waren Faktoren, die man schnellstmöglich aus dem Weg räumen musste. Elf Jahre später stand ich mit einem Einser-Abitur auf der Bühne in der Schulaula – auch dank meiner mündlichen Mathematikprüfung mit Bestnote.

Es ging weiter, und das bedeutete, es ging immer noch besser. Studium in Rekordzeit, ein Toppraktikum nach dem anderen, sofort in den Job. Doch irgendwann schwappte der Perfektionismus vom Beruflichen auf das Private über. Ich musste immer fitter sein, immer schlanker, immer angesehener. Mein Hilfsinstrument war ebenso banal wie gefährlich: Magersucht. Diese psychosomatische Krankheit kombinierte meine stärksten Seiten: Durchhaltevermögen, Disziplin und ständiges Vergleichen mit anderen. Außerdem gilt sie mittlerweile in dieser Gesellschaft als äußert trendy.

Magersucht, Depression, Burn-out

Fast zehn Jahre lang baute ich mir ein Geflecht aus Magern, Leisten und Glänzen auf. Von außen wurde ich um meine schwindenden Kurven und beruflichen Erfolge beneidet. Im Inneren war ich nicht viel mehr als ein langsamer, aber sicherer Verfall meiner selbst, ohne Wertschätzung, ohne soziale Kontakte, ohne Freude. Mit zwanzig war es dann so weit: lebensbedrohliches Untergewicht, Depression, Burn-out  ich konnte es nicht mehr verbergen. Das Besserwerden im Hamsterrad hatte einen bestimmten Preis angesetzt: mein Leben.

Irgendwann schwappte der Perfektionismus vom Beruflichen auf das Private über.

Nach einem dreimonatigen Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik und vier Jahren begleitender Therapie fragen mich andere Leute, wie ich heute mit Leistung und ihrem Druck umgehe. Das ehrt mich und gleichzeitig ist es der Beweis, wie unfähig unsere Gesellschaft geworden ist, Arbeit als etwas Wohltuendes und Selbstwert als etwas Selbstverständliches anzusehen.

Mein Dasein annehmen

Am Anfang stand eine Entscheidung. Ich entschied mich, dass der Leidensdruck zu groß geworden war und dass ich es nicht länger einfach als Alltagsnormalität hinnehmen wollte, ausgebrannt, unglücklich und energielos zu sein. Ich entschied, mein gesamtes Dasein mit all seinen fragwürdigen Werten und Überzeugungen anzunehmen und mich auf den Weg zu machen, meine eigenen Entscheidungen und Glaubenssätze zu verstehen. Erst, als ich akzeptierte, wer ich zu diesem Zeitpunkt war und an was dieser Mensch glaubte, gab ich mir die Erlaubnis, dieses Bild zu reflektieren und es zu verändern. Heute bin ich leidenschaftliche Journalistin bei Storymachine, arbeite viel und gerne, weiß meine Vorgesetzten wie auch meine Kollegen zu schätzen und beginne jeden Tag mit einem fünfzehnminütigen Gebet, um mich daran zu erinnern, dankbar zu sein.

Mut zum Scheitern

Ich bin also nicht aus unserer Leistungsgesellschaft ausgestiegen oder suche Alternativschauplätze wie Arbeit im Homeoffice oder das Leben eines digitalen Nomaden, um den ansteckenden Karrieremännchen und -frauchen besser aus dem Weg gehen zu können. Jeder, der sich für solche »Ausweichmöglichkeiten« entscheidet, hat mein vollstes Verständnis und darf sich darin völlig frei fühlen. Ich habe mich bewusst für das Gegenteil entschieden: Ich konfrontiere mich damit. Dabei bin ich mir meiner Fähigkeiten ebenso wie meiner Schwachstellen bewusst und weiß, mit beiden gut umzugehen.

Das Neuausrichten meines Denkens hat nicht in erster Linie verändert, was ich tue, sondern wie, warum und für wen. Diese Entwicklung, vor allem aber auch die Folgen dieser Entscheidungen habe ich in dem Buch »Parallelwelten – Und welche Rolle spielst du in deinem Leben?« aufgeschrieben. Mit jeder Seite wurde die Absurdität unseres Optimierungswettlaufes konkreter. Mit dieser Auseinandersetzung begab ich mich in die Lage, falsche Überzeugungen abzulegen und sie durch neue zu ersetzen.

Erfolg ist und bleibt ein wesentlicher Bestandteil unseres Arbeitsalltages. Es geht nicht darum, sich auf Erfolgen auszuruhen, sehr wohl aber darum, sie wahrzunehmen und wertzuschätzen. Meine Erfahrungen als Arbeitnehmerin bringen mich voran, jedoch brüste ich mich nicht damit, sondern lasse mich dadurch formen und nehme sie dankbar an. Um eine Tätigkeit, so auch einen Job, mit Leichtigkeit ausüben zu können, benötigt es Sicherheit. Sicherheit kommt mit Wiederholungen und Erfahrung. Doch jede Erfahrung braucht diesen ersten, wackeligen Schritt, manchmal etliche davon hintereinander, bevor man sicher weitergehen kann. Der größte Feind ist dabei Angst – konkreter: die Angst zu scheitern. Unsere Gesellschaft hat verlernt, richtig zu scheitern und eine Niederlage als Chance zu begreifen. Der Mut zu scheitern befähigt uns aber viel mehr dazu, Erfolg zu haben, als die Angst, ihn womöglich nicht zu erreichen.

Ich beginne jeden Tag mit einem fünfzehnminütigen Gebet, um mich daran zu erinnern, dankbar zu sein.

Rettung vor Egoismus

So gut es sich auch anfühlen darf, Lob und Anerkennung zu ernten, werden diese Faktoren zu gefährlichen Götzen, wenn wir uns alleine dadurch identifizieren. Neben noch so gut bezahlter Professionalität benötigt jeder Mensch ein Umfeld, in dem er albern, schwach, unperfekt, stinkig und launisch sein darf. Feste soziale Anker: Wohlfühlmenschen, Wohlfühlaktivitäten, Wohlfühlorte. Sie stellen ein notwendiges Gegengewicht dar und erinnern uns daran, dass es Menschen und Geschehnisse gibt, die sich nicht um uns oder unsere To-do-Liste drehen. Für mich ist das die tägliche Rettung vor Egoismus. Kümmere ich mich nicht auch um die Sorgen und Anliegen meiner Vertrauten, laufe ich Gefahr, Scheuklappen aufzusetzen, sozial abzustumpfen und emotional zu erkalten. »Hat nichts mit mir zu tun? Bringt mir nichts? Interessiert mich nicht!«, ist eine Denkweise, die nur wenige zugeben, aber die fast jeder von uns kennt.

Befreit vom emotionalen Müll

Das Beste zum Schluss: Mein Glaube. Ehrlich gesagt, möchte ich es keinem Menschen zumuten, die Lücken zu füllen, die so mancher Karrieredruck aufreißt. Niemand soll dazu verdonnert werden, meine Launen auszuhalten, wenn mich Selbstzweifel und Unsicherheit im Alltag schwanken lassen. Beziehungen zu Menschen sind mir zu wertvoll, um lediglich als emotionale Müllhalde benutzt zu werden. Bevor ich mit anderen über meine Gedanken, Probleme, Fragen rede, versuche ich, negative Gefühle abzuladen, um meinen Frust nicht an völlig Unbeteiligten auszulassen. Ich kenne jemanden, der mit beidem – Lob und Kritik – so viel besser umgehen kann als ich: Mein Glaube an einen liebenden und allwissenden Gott bewahrt mich davor, dass Kritik mich entwertet und dass Lob mich überbewertet. Er gibt mir meinen Wert. Er befreit mich von erfolgsbesessener Selbstfindung, weil ich mich von ihm bereits habe finden lassen. Mein Selbst ist in seiner Liebe begründet und damit durch und durch gut, ja durch und durch perfekt.

Mit meinem Job muss ich nicht beweisen, wie unentbehrlich ich bin. Meine Bemühungen gründen sich nicht in einem Willen, der sich an anderen ausrichtet, sondern nach meinem eigenen Selbstbild, Wertesystem und Glauben. Aus dieser Freiheit heraus kann ich leidenschaftlich arbeiten, intensiv Leistung bringen, effektiv entspannen. So verliere ich weder in Tief- noch in Hochphasen meine Standhaftigkeit und Sicherheit. Am Ende bin ich ziemlich gut – und ziemlich glücklich.