Sebastian Purps-Pardigol
Digitale Technik, analoge Würde
Die digitale Transformation ist für viele Firmen eine Herkulesaufgabe. Nach über 150 Interviews und 30 Analysen von Unternehmen habe ich erkannt: Der Wandel gelingt nur, wenn mit dem Maß an Digitalisierung auch die Menschlichkeit zunimmt.
Manchmal geht es in Vorstandsetagen nicht anders zu als in dem Pixar-Film »Toy Story«: Ein neues, aufregendes Spielzeug gelangt ins Kinderzimmer und ruckzuck geraten die anderen in Vergessenheit. Die Rolle des »Buzz Lightyear« aus »Toy Story« kommt aktuell in vielen Unternehmen dem Chief Digital Officer (CDO), seinem Team oder der Digitalabteilung zu. Denn die Digitalisierung steht ganz oben auf der Agenda vieler Topexecutives. Das Muster lässt sich immer wieder in Firmen erkennen: In Phasen großen Erfolgs erhalten die Mitarbeitenden der Digitalabteilung aus der Führungsetage viel Bestätigung. Oftmals sind es Vorschusslorbeeren. Dem Rest der Mannschaft wird dadurch implizit oder sogar explizit vermittelt: »Ihr gehört zum alten Eisen.« Es entstehen offene oder unausgesprochene Rivalitäten. Die Motivation der Alteingesessenen sinkt. Sie blockieren das neue digitale Geschäft.
Fair behandelt zu werden, fühlt sich neuronal messbar besser an!
»Wir haben das auf subtile Weise zu spüren bekommen«, erinnert sich Peter Fregelius, Leiter TV & Entertainment bei der Swisscom, der mit seinem Team das digitale Blockbuster-Produkt Swisscom TV 2.0 entwickelt hat. »Meetings mit uns wurden verschoben. Einige langjährige Kollegen haben immer wieder ›vergessen‹, wichtige Dokumente an uns zu senden.« Eric Hofmann, der ehemalige Marketingdirektor des Online-Armes von Peek & Cloppenburg, erlebte ebenfalls eine Art Grabenkampf: »Manchmal kam es vor, dass die ›neuen Digitalen‹ die ›alten‹ Mitarbeitenden abwerteten. Denn die Neuen empfanden sich als besonders bedeutsam. Das hat schnell zu ausgesprochenen oder unausgesprochenen Spannungen geführt. Diese lösten sich erst auf, als die ›neuen Digitalen‹ begannen, die anderen Mitarbeitenden wertzuschätzen und ihren Beitrag zu würdigen.«
Das Hirn spricht immer Klartext
Was geschieht, wenn Mitarbeitende sich durch den Chef oder die digitalen Kollegen unfair behandelt fühlen, lässt sich neuronal messen. Stellen Sie sich vor, Sie wären eine Testperson in einem wissenschaftlichen Experiment und lägen in einem Hirnscanner. Ich lege 100 Münzen à 10 Cent auf den Tisch. Fünf dieser Münzen bekommen Sie, 95 erhält ein Kollege von Ihnen. Während Sie merken, wie Sie benachteiligt werden, kann ich in Ihrem Gehirn eine hohe Aktivität im Bereich Ihrer vorderen Inselrinde erkennen, der sich für gewöhnlich mit Empfindungen wie Schmerz, Stress, Hunger und Durst, aber auch Wut und Ekelgefühlen beschäftigt. Hätte ich die Münzen gerecht aufgeteilt, würde ich sehen, dass andere Bereiche Ihres Gehirns aktiv sind: Ihr ventrales Striatum, der ventromediale präfrontale Cortex und ein Teil der Amygdala. Diese drei Strukturen gelten in ihrer gemeinsamen Funktion als Teil des Belohnungssystems des Hirns. Kurz: Fair behandelt zu werden, fühlt sich neuronal messbar besser an!
Die Besitzerin und Chefin der gleichnamigen Buchhandelskette hat in einer Allianz mit anderen den E-Reader tolino lanciert. »Die Digitalisierung birgt für viele Unternehmen das Risiko einer Spaltung. Bei uns habe ich jedoch den Eindruck, dass wir heute enger und besser zusammenarbeiten als je zu-vor.«
Der Leiter TV & Entertainment des Telekommunikationsunternehmens Swisscom hat mit seinem Team das digitale Blockbuster-Produkt Swisscom TV 2.0 entwickelt. »Zu Beginn war es schon komisch für uns, dass unsere Mitarbeitenden weiterhin gute Ergebnisse lieferten, auch wenn wir uns als Chefs nicht ständig einbrachten.«
Karsten Ottenberg, CEO von Bosch-Siemens-Hausgeräte, war es wichtig, die Digitalisierung rasch voranzutreiben – aber er reflektiert: »Nur weil die digitale Transformation gerade ein Fokusthema ist, dürfen wir den anderen Mitarbeitern für das, was sie bisher erreicht haben, nicht den Stolz nehmen. Es ist eine wichtige Führungsaufgabe, immer wieder darauf zu achten, dass es kein ›wir‹ und ›die‹ gibt. Wir wollen keine neuen Silos aufbauen.
«Nina Hugendubel, Eigentümerin der gleichnamigen Buchhandelskette, hat dieses Prinzip bei der Einführung des E-Readers tolino besonders beherzigt. Die Unternehmen Thalia und Hugendubel wollten dem Amazon-Konkurrenten Kindle die Stirn bieten. Manche der Mitarbeiter in den Buchläden sahen dem neuen Produkt mit gemischten Gefühlen entgegen: Schließlich kann jeder tolino-Nutzer bequem von zu Hause aus seine E-Books bestellen. Schlimmstenfalls kommt er danach nicht mehr in den Laden – und den Buchhandlungen geht Umsatz verloren.
Ich verstand die Ängste meiner Mitarbeitenden gut. Das geplante Produkt löste gemischte Gefühle aus.
Nina Hugendubel nahm die Sorgen dieser Menschen ernst. Sie reiste unermüdlich durch ihre Filialen, um Angestellte persönlich zu treffen. »Uns war von Anfang an klar: Wie es bei vielen großen Veränderungen der Fall ist, so erfordert auch dieses Thema einen längeren begleitenden Prozess.« Filialleiterin Ute Bauer ergänzt: »Ich konnte die anfänglichen Ängste meiner Mitarbeiter gut verstehen. Was wir uns immer vor Augen geführt haben: Wenn wir dem interessierten Kunden keinen tolino verkaufen, holt er sich vielleicht einen Kindle.«
Besserer Zusammenhalt als je zuvor
Das persönliche Engagement hat sich gelohnt. Branchenexperten nehmen überraschend wohlwollend zur Kenntnis, dass der tolino dem Amazon-Pendant massiv Marktanteile abgenommen hat. Auch im Unternehmen selbst hat die Menschen zugewandte Haltung gewirkt: »Die Digitalisierung birgt für viele Unternehmen das Risiko einer Spaltung. Bei uns habe ich jedoch den Eindruck, dass wir bei Hugendubel heute enger und besser zusammenarbeiten als zuvor«, sagt die Eigentümerin stolz.
Effizienzgewinne fair teilen
Auch die Hamburger Hafen Logistik AG (HHLA) begann den digitalen Wandel mit einer Wertschätzung aller Mitarbeiter, die ihr in der Vergangenheit geholfen hatten, dorthin zu kommen, wo sie heute steht. Im Mai 2017 erhielten Betriebsratschef Thomas Mendrzik vom Container Terminal Altenwerder (CTA) und HHLA HR-Direktor Arno Schirrmacher tosenden Applaus nach einer Präsentation vor Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern in Paris. Die Deutschen hatten einen Tarifvertrag mit einer darauf aufbauenden Absichtserklärung vorgestellt, die den Arbeitnehmern
am CTA Unterstützung und weitreichenden Schutz während der Phase der digitalen Transformationen zusichert. »Die neuen Verträge sind eine Würdigung der zusätzlichen psychischen Belastungen, die wir in der heutigen Arbeitswelt erleben«, erzählt CTA-Betriebsrat Thomas Mendrzik.
Was war geschehen? Bereits bevor die digitale Transformation begann, hatte die Führungsetage ihren Mitarbeitern zugesichert, dass jeder Produktivitätsvorteil zur Hälfte an sie weitergereicht werden würde. Ein Beispiel: Während früher sogenannte »Checker« mit einem Fahrzeug an Zügen entlangfuhren und die Beschriftungen der Container manuell erfassten, geschieht das heutzutage vollautomatisch. Doch von der täglichen Dreißig-Minuten-Produktivitätssteigerung profitieren nicht nur die Chefs. Vielmehr erhalten die betroffenen Mitarbeitenden nun jeden Tag fünfzehn Minuten mehr Pausenzeit für sich.
Bis heute halten manche Chefs das Motto »Nicht gemeckert ist gut gelobt« für »gute Führung«. Wertschätzung und Würdigung gehören nicht zum aktiven Wortschatz dieser Führungskräfte. Einige Unternehmen mögen zwar ihren Mitarbeitern ein anständiges Schmerzensgeld als Kompensation für schlechte Vorgesetzte zahlen – doch die Potenziale dieser Menschen entfalten sie damit kaum. Deren persönliches Engagement und ihre Ideen für das Unternehmen bleiben meist verborgen. Gehalt und bisweilen Bonuszahlungen für besondere Leistungen können für manche Menschen eine Form der Anerkennung sein. Jedoch löst eine persönliche Würdigung eine ganz andere Form der Dynamik bei Angestellten aus. Eine 2014 veröffentlichte Studie des Chipherstellers Intel mit 156 Mitarbeitenden beweist das eindrucksvoll: Zwar zeigten die Beschäftigten, die einen finanziellen Bonus anstatt eines persönlichen Danks des Chefs erhielten, kurzfristig mehr Leistung. Doch wenig später fiel die Produktivität dieser Menschen rapide ab – noch unter den Anfangswert. Die Mitarbeiter hingegen, die eine persönliche Wertschätzung für das Erreichte erhalten hatten, waren langfristig motivierter und erbrachten bessere Leistungen.
Mehr Spielraum, mehr Verantwortung
Dass ein neues Spielzeug zu Beginn aufregend erscheint, ist menschlich. Doch die gesteigerte Aufmerksamkeit darf nicht auf Kosten der übrigen Mitarbeitenden gehen. Das können die meisten Mitglieder der Digitalabteilung nachvollziehen. »Unser Chef, Karsten Ottenberg, hat uns zu Beginn sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt«, erinnert sich Bosch-Siemens-Hausgeräte-CDO Mario Pieper. »Inzwischen hat sich das relativiert. Es ist für alle Beteiligten besser, wenn wir nicht allzu sehr im Scheinwerferlicht stehen. Denn vieles, was wir tun, baut auf dem auf, was die 50 000 anderen Kollegen vor uns geleistet haben.«
Mitarbeiter, die persönliche Wertschätzung erhalten, sind langfristig motivierter.
Auch bei der Swisscom wurden mögliche Silos frühzeitig umschifft: Das Team von Peter Fregelius bescherte dem Konzern nicht nur zusätzliche Umsätze – es begann eine Art und Weise der Zusammenarbeit in dem Team, die vollkommen anders war, als man es im Unternehmen zuvor kannte. Fregelius berichtet, dass er Genehmigungsprozesse abgeschafft hat. Seine Mitarbeitenden erhalten mehr Spielraum, mehr Verantwortung. Es ist eine ganz andere Form der Würdigung: »Wie sollen wir als Vorgesetzte in kurzer Zeit etwas bewerten, womit sich andere Menschen im Austausch miteinander tage- oder gar wochenlang beschäftigt haben?« Der Erfolg gibt Fregelius recht und sorgt dafür, dass inzwischen über 1600 Kollegen im Unternehmen trainiert wurden, diese neue Form der Zusammenarbeit im beruflichen Umfeld umsetzen zu können. Einer der Protagonisten des Wandels berichtet: »Ich hoffe, dass die Kollegen – gerade in Führungspositionen – verstehen, dass es nicht nur um neue Methoden, sondern um ein neues Menschenbild geht!«
Sebastian Purps-Pardigol
Er lebt eine »Patchwork-Karriere«. Zur Jahrtausendwende baute Sebastian Purps-Pardigol für SonyMusic digitale Geschäftsfelder auf. Inzwischen ist er Keynote-Speaker, Neuromanagement-experte und Organisationsberater. Mit dem Neurobiologen Prof. Dr. Gerald Hüther gründete er 2010 die Non-Profit-Initiative »Kulturwandel in Unternehmen und Organisationen«. Seither erforscht er die Erfolgsfaktoren guter Unternehmenskulturen. Purps-Pardigol veröffentlichte die Bücher »Führen mit Hirn« und »Digitalisieren mit Hirn«, für die er über 300 Interviews geführt hatte.