Peter Widmer & Dorothée Widmer
Engel im Rotlichtviertel
Es war ein ungewöhnlicher Jobwechsel: vom Pfarramt in den Rotlichtdistrikt in Zürich. Seit über fünfzehn Jahren geben der Pfarrer Peter Widmer und seine Frau Dorothée den Prostituierten Hoffnung auf einen Neustart – und helfen konkret mit ihrem Verein »Heartwings«.
Die Langstraße, der Red Light District von Zürich, ist wohl nur nach Sonnenuntergang zu ertragen. Wenn die schmuddeligen Tags und Graffitis, grau wie die Katzen in der Nacht, mit den Mauern verschmelzen und die Lichtspiele an den Fassaden von den Flecken des Erbrochenen ablenken. Nachts pulsiert das Quartier und atmet etwas Weltgeist aus: Pizza, türkischer Kaffee, käufliche Frauen, mexikanisches Bier, nackte Haut, laute Männer, bezahlbarer Crack, Autokorso und viele Bremslichter. Im Red Light District glänzen nachts sogar die Glasscherben am Boden.
Viele müssen tief fallen, bis sie zum Ausstieg bereit sind. Dann ist Hilfe nötig.
Aber auf eine solche Nacht folgt an der Langstraße der Kater. Im Licht wird die andere Seite sichtbar: eine trostlose Häuserzeile, mit Kaugummis auf dem Boden und vielen verklebten Schaufenstern. Sichtschutz, Maskerade. Denn zu viel Einblick geben will man nicht. Da kann schon mal jemand brutal erstochen werden, wie Ende August ein Kellner der Lugano-Bar. Vermutlich ein Auftragsmord, aber wen interessierts? Nicht nur einmal stürzte sich eine verzweifelte Frau aus einem Etablissement hinunter und suchte den Tod auf dem Asphalt.
Kannst du rüberkommen?
An einem solchen trostlosen Mittag in der Langstraße sitzt die Prostituierte Maria (Name geändert) mit ihrer Kollegin an einem Bistrotischchen unter einer Balustrade und atmet die trockene Luft und etwas Feinstaub ein. Sie ruft aus ihrer Nische über die Baustelle hinweg: »Hi, kannst du mal herüberkommen?« Nachts hätte sie wohl an diesem Ort noch »Schatzi« hinzugefügt. Wie sie das oft bei Kunden tun muss. Nicht aber bei Peter Widmer, der gerade mit seiner Frau Dorothée unterwegs ist und von dem sie weiß, dass er einen heißen Draht zu Gott hat. Nachdem sich Peter und bald auch seine Frau zwischen den rotweißen Baustellenlatten zu Maria hindurchgekämpft haben, versichert sich Maria in gebrochenem Deutsch: »Du vom Heartwings? Du mir helfen, weg von Langstraße?«
Boutique und Nagelstudio
Vom 55-jährigen Pfarrer und Streetworker hat sie von Kolleginnen gehört. Der sei anders, obwohl er sich, wie viele andere im Quartier, gerne extravagant kleidet. Versace-ähnliches T-Shirt mit Glimmer und Glitter. Der Peter, vom gemeinnützigen Verein Heartwings, von der Langstraße und doch voller Zuversicht.
Es ist ein Moment der Spontaneität, ein Moment der Hoffnung auf Veränderung, der sich gerade auftut. Die Kollegin von Maria mischt sich kurz ins Gespräch ein: »Bitte bete auch für mich.« Peter nickt, spricht. Seine Stimme klingt butterweich und doch bestimmt. Dorothée verspricht Maria, sie könne einen Termin abmachen, sei herzlich willkommen: »Wir haben ein Nagelstudio, du kannst in unserer Boutique gratis Kleider auswählen oder einfach zu Kaffee und Kuchen kommen und reden.« Die beiden bauen Vertrauen auf, ohne Druck auszuüben und ermutigen Betroffene, dass Veränderung möglich ist. Auch dank des Vereins Heartwings, der dabei unterstützt. »Weißt du, die Menschen fallen manchmal sehr, sehr tief, bis sie wirklich bereit sind, aus dem Milieu auszusteigen. Ohne tatkräftige Hilfe schaffen es nur wenige«, kommentiert Peter.
Das erinnert an die ähnliche Geschichte von Lisa, die heute von ihren Erlebnissen mit Peter und Dorothée in den Medien erzählt und die den Ausstieg aus der Zwangsprostitution erst nach zwanzig Jahren geschafft hat, weil sie in einen Teufelskreis geraten war. Lisa kam nicht mehr aus der Schuldenfalle heraus und musste anschaffen, um die Wochenmiete von tausend Franken für ein schäbiges Einzelzimmer zahlen zu können. Und als sie glaubte, einem »Traummann« oder »Loverboy« vertrauen zu können, geriet sie noch stärker in die gewaltbereite Szene hinein und in die Abhängigkeit.
Opfer des Menschenhandels
Bis auch sie in der Langstraße Peter und Dorothée erblickte, denen der Ruf vorausgeeilt war, Hoffnung zu bringen. »Es war ein Zeichen Gottes«, wie Lisa sagt und ergänzt: »Ich betete um Hilfe in meiner Verzweiflung. Der 23. Dezember 2020 war mein Tag der Befreiung.« Die »Heartwingser« gingen mit Lisa zur Polizei, organisierten eine sichere Unterkunft, halfen ihr später bei der Stellenbewerbung und Schuldenberatung. Seither blüht diese Frau auf und ist für viele Weggenossinnen ein Beispiel, dass Umorientierung mithilfe von Heartwings möglich ist.
Keine Frau, die ich kenne, prostituiert sich freiwillig.
Seit 2008 arbeitet Peter (55) mit seiner Frau Dorothée (60) an der Langstraße. Die beiden gründeten den Verein Heartwings und bieten mit ihrem Team professionelle Ausstiegshilfen für Prostituierte an. Je mehr das Paar in die Welt des Nachtlebens eintauchte, desto offenkundiger wurde das Elend: der Dauerstress der Frauen, die endlosen Arbeitszeiten, die überteuerten Mieten von schäbigen Einzelzimmern und die dauernde Kontrolle der Zuhälter oder Aufpasserinnen. Frauen müssen auch dann hinhalten, wenn Schmerzen im Intimbereich auftreten, wenn Krankheit oder Schwangerschaft die »sogenannte freiwillige Sexarbeit« begleiten.
»Es ist keine schöne Vorstellung für eine Frau, wenn sie jeden Tag vielen alten, verschwitzten, besoffenen und gewalttätigen Männern hinhalten muss«, bemerkt Dorothée ziemlich nüchtern. Dann betäuben die Frauen ihren Körper und ihre Seele nicht selten mit Drogen und kapseln sich ab. Viele Afrikanerinnen sind Zwangsprostituierte und Opfer von nigerianischen Menschenhändlern, und es gibt offensichtlich auch weitere kriminelle Netzwerke. Lisa mit ihrer jahrzehntelangen Langstraßen-Erfahrung sagt: »Ich kenne keine Prostituierte, die in Zürich freiwillig anschafft.«
Der kurze Arm des Gesetzes
Prostitution ist in der Schweiz legal. Die Zuhälterei ist toleriert, solange die Täterschaft keinen Druck auf die Frau ausübt, was jeweils schwer zu beweisen ist. Die meisten Verfahren wegen Menschenhandel enden daher ohne Verurteilung. Die Opfer werden von den Tätern oft als unglaubwürdig und unzuverlässig dargestellt. Frauen, die ihre Aussagen nicht zurückziehen, erleben Strafaktionen im Heimatland mit roher Gewalt, Säureattacken, Brandanschlägen, wobei sogar ihre Kinder als Druckmittel eingesetzt werden.
So gehen Polizisten dem nach, was offensichtlich und einfach zu erledigen ist: Frauen büßen, wenn sie am falschen Ort anschaffen. Bis zu sechshundert Franken koste das dann, sagt Peter: »Wenn man will, dass Frauen nicht ausgenutzt werden, müsste man wie in Skandinavien die Freier bestrafen.« In Schweden gilt: Sexarbeit ist Gewalt an Frauen. Deshalb unterstützt der Staat dort Ausstiegshilfen und stellt die Freier, Schlepper und Zuhälter unter Strafe.
Mittlerweile sensibilisiert Heartwings die Politik für Probleme im Rotlicht und informiert über die Mechanismen im Milieu. Rund hundert Verantwortungsträger aus Wirtschaft, Politik, Polizei und Gesellschaft habe er allein im Jahr 2022 sensibilisiert, sagt Peter Widmer. Die Organisation besucht mit Präventionsvorträgen Schulen, Firmen, Kirchen. Ihre eigene Geschichte ist ihr Schlüssel zu den Menschenherzen.
Zum Beispiel Dorothée. Sie hat selbst schweren sexuellen Missbrauch erlebt. Zunächst wurde mit Schlägen ihr Wille gebrochen, dann Übergriffe im Kinderzimmer, später durch einen Mann aus der Kirche, der sie im Teenageralter auf einer Parkbank missbrauchte und schließlich jahrelang durch einen Pastor. Dorothées Kindheit und Jugend waren ein Scherbenhaufen: »Jahrelang war ich gefangen in Schmerz, Scham, Hass, Wut und Leid und durfte unter Strafandrohung nicht darüber reden. Deshalb fühle ich den Schmerz der Frauen an der Langstraße, ich sehe ihn in ihren leeren Augen«, sagt sie.
Ich war selbst jahrelang gefangen in Schmerz und Scham, Wut und Leid.
Heute redet sie in entwaffnender Offenheit über ihre Vergangenheit und darüber, wie Gott sie befreit hat. Es war ein Wunder. Nach einem Selbstmordversuch und nach einem Stoßgebet rief sie: »Gott, wenn es dich wirklich gibt, hilf mir!« Gott begegnete ihr bildlich als Vater, wo sie in seinem liebenden Arm Schutz und Neuanfang erlebte: »Dorothée, du bist zum Leben bestimmt, nicht zum Sterben.«
Heilung nach Missbrauch
Wenig später drängte es sie, einen Gottesdienst zu besuchen. Ausgerechnet an diesem einen Sonntag sprach ein Gastredner über sein einst sexuell verpfuschtes Leben. Ein dicker Kloß schnürte Dorothées Hals zu. »Und plötzlich lief er auf mich zu und begann, für mich zu beten. Ich wusste nicht, wie mir geschah. All der Hass und die verletzten Gefühle stiegen in mir auf – und diese zentnerschwere Last fiel augenblicklich von meinen Schultern.« Heute malt Dorothée eindrückliche Bilder. Es sind Kunstwerke, die viel Gold enthalten. Sie verkörpern das Ewige, Wertvolle und Unvergängliche.
Auch Peter hat eine strube Geschichte hinter sich, die von Ablehnung und viel Einsamkeit in der Kindheit begleitet war. Sie wurde von einem dramatischen Unfall mit schwerer Verletzungsfolge ausgelöst. Peter wurde getrennt von den Eltern. »Ich konnte danach kein Vertrauen in die Menschen aufbauen, bis auch ich von Gott echte Annahme und Liebe erfahren habe«, sagt er.
Es begann in Afrika
Die erste Begegnung mit Frauen in der Prostitution hatten Peter und Dorothée vor dreißig Jahren in Daressalam in Tansania. Sie waren Mitarbeiter eines christlichen Hilfswerks und heirateten in Afrika. Während man sich dort traditionell um Waisenkinder gekümmert hat, sahen die beiden die Not der Frauen auf dem Straßenstrich. Sieben Frauen verhalfen sie zum Ausstieg, bevor das Paar wegen den inzwischen schulpflichtig gewordenen Kindern zurück in die Schweiz reiste. Peter bildete sich theologisch weiter und arbeitete fünf Jahre als Pfarrer. »Doch ich fühlte mich wie ein Fuß in einem Handschuh.« Dann habe es sie an die Langstraße »gespült«. Es war ein riesiger Schritt im Glauben, auch ins finanziell Ungewisse. »Wir wagten den Sprung ins Rotlichtmilieu, weil wir selbst Gewalt, sexuellen und religiösen Missbrauch erlebt haben und deshalb die Täter- und Opferstrukturen in diesen kriminellen Systemen verstehen«, sagt Peter.
An der Langstraße hat der Verein diverse Büroräume gemietet. Im Empfangszimmer gibt es Tee und Kaffee, dort an einer schwarzen Wand sind in Farbe die Träume verewigt, die Dutzende von Frauen hingeschrieben haben, welche Heartwings betreten haben. Heute beschäftigt Heartwings acht Fachpersonen und fünf Frauen im Integrationsprogramm. Das Budget des von Spenden abhängigen Vereins kratzt inzwischen fast an der Millionengrenze. Gut, dass unerwartet auch vom Kanton Zürich eine einmalige offizielle Zuwendung für die Arbeitsintegration von Aussteigerinnen eingetroffen ist.
Die Organisation gibt Deutschunterricht, verteilt Secondhandkleider, hat eine kleine Boutique an der Langstraße, wo sich die Frauen mit Kleidern eindecken können, und betreibt ein Nagelstudio. »Hier kommen wir mit den Frauen buchstäblich in Berührung, hier lassen sich erste vertrauliche Gespräche führen«, sagt Dorothée. Wenn eine Frau sich umorientieren will, vermittelt der Verein zuerst Praktika, dann fixe Anstellungen mit Arbeitsverträgen und Mietverträge für Wohnungen. Zudem werden die früher illegal Eingereisten offiziell angemeldet, erhalten eine Aufenthaltsbewilligung, Notgeld in Überbrückungssituationen und Schuldenberatung. Vorher verschwand die wahre Person mit dem Geburtsnamen hinter einem falschen Arbeitsnamen. Nun entstehen Würde und wachsendes Pflichtbewusstsein.
Das finanzielle Defizit ist ein menschlicher Gewinn.
Erfolgsmodell zieht weite Kreise
Im Frühling 2021 startete der Verein ein Reinigungsunternehmen im zweiten Arbeitsmarkt. Das Arbeitsintegrationsprogramm unter dem Namen »Employment for Freedom« für den Ausstieg aus der Sexarbeit ist ein Pionierprojekt in der Schweiz. Jeden Monat freuen sich die Frauen über ihren eigenen, branchenüblichen Lohn. Das Programm ist defizitär, denn die ganzheitliche Betreuung und Begleitung kostet pro Jahr und Aussteigerin 65 000 Franken. So hat es letztes Jahr ein Loch ins Budget gerissen: »Wir haben eine Frau zu viel in ein selbstbestimmtes Leben begleitet«, schreibt der Vereinsvorstand: »Ein finanzielles Defizit und zugleich ein menschlicher Gewinn.« Inzwischen kann Heartwings international Hilfe vermitteln, sodass die Opfer der Langstraße in ihre Heimatländer zu ihren Kindern zurückkehren können. Man betreibt Partnerschaften mit Schutzhäusern in Rumänien, Moldawien, Brasilien, Indien und Thailand und unterstützt ein Schutzhaus in Tansania direkt. Dort leben mittlerweile über siebzig junge Frauen mit ihren Kindern. Der Kreis schließt sich dort, denn die Hausmutter hat vor über 25 Jahren selbst den Ausstieg aus der Straßenprostitution durch Widmers erlebt. Derweil wächst die Warteliste bei den Heartwings: Vierzig weitere Frauen wollen aussteigen. Hierfür braucht der Verein »auch finanzielle Wunder« und eigene mehrstöckige Liegenschaften.
Grazia ist eine weitere der Frauen, die die Räume von Heartwings betreten und am Ausstiegsprogramm teilgenommen hat. Sie schreibt: »Ich kann mich ganz genau an den ersten Tag erinnern, als ich die magischen Türen von Heartwings durchschritt. Ich kam an, und Jael nahm mich in den Arm und setzte sich mit mir hin. Im friedlichsten Büro, das ich jemals in meinem Leben gesehen hatte. Das war das erste Mal nach meiner Laufbahn als Opfer eines brutalen Loverboys, wo sich jemand mit mir hinsetzte und meinen Worten zuhörte. Ihre Worte berührten meine Seele, die so schwarz war.«
Peter Widmer
Vor dreißig Jahren heiratete Peter Widmer (55) seine Frau Dorothée in Afrika. Und gemeinsam begleiteten die beiden dort Frauen aus der Zwangsprostitution heraus. Später wirkte Peter als Pfarrer, bevor er den Arbeitsort ins Rotlichtmilieu verlegte.
Dorothée Widmer
Mit ihrem Ehemann gründete Dorothée Widmer (60) den Verein Heartwings in Zürich. Nebst ihren Einsätzen an so verschiedenen Orten wie Bordellen und Schulen malt Dorothée mit Leidenschaft. Mit Peter hat sie zwei erwachsene Kinder.