Claudine Etter
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Bruno Roche & Jay Jakub

Gibt es wirklich Geld im Überfluss, Herr Chefökonom?

Über 100 Jahre Erfolg, 100 Prozent in Familienbesitz, 110 000 Mitarbeitende – das ist das Unternehmen Mars. Sein Chefökonom Bruno Roche und dessen Programmdirektor Jay Jakub halten die rein finanzielle Gewinnmaximierung für veraltet. Sie werben für eine »Wirtschaft der Gegenseitigkeit«.

Stephan Lehmann-Maldonado
Stephan Lehmann-Maldonado
8 min

Milky Way, Wrigley’s, M&Ms: Welcher Typ sind Sie?

Jay Jakub: Eine meiner frühsten Kindheitserinnerungen ist, dass meine Großtante für mich jeweils eine Schüssel mit M&Ms füllte, wenn ich sie besuchte. Bei Mars schloss sich für mich dieser Kreis.

Bruno Roche: Ich mag M&Ms ebenfalls, vor allem wegen ihres sozialen Aspekts: Man kann sie so einfach mit anderen teilen. Es ist schwierig, eine Packung M&Ms allein zu essen.

Schon König Salomo hat erkannt, dass man mit der Mentalität, Besitz um jeden Preis zu erhalten, nicht unbedingt am besten fährt.

Die Marken von Mars kennt jedes Kind. Über das Unternehmen und die Familie dahinter ist sehr wenig bekannt.

Roche: Mars pflegte jahrzehntelang eine Kultur, die gegenüber innen sehr offen ist, nach außen jedoch eher verschlossen. Das Unternehmen gehört immer noch vollständig der Gründerfamilie. Und diese legt viel Wert auf Diskretion. Sie will sich nicht in den Vordergrund stellen, sondern ihre Produkte. In den letzten Jahren hat Mars jedoch begonnen, sich gegenüber der Öffentlichkeit vermehrt zu öffnen. Der Grund: Heute wollen viele Konsumenten und künftige Mitarbeitende wissen, wer hinter Produkten steht und welche Werte diese Leute vertreten. Auch unsere Arbeit gehört zu diesem Öffnungsprozess.

Mars ist im Süßigkeitsgeschäft wie beim Tierfutter die Nummer eins im Markt. Das Unternehmen dürfte hochprofitabel sein …

Roche: Die Firma arbeitet seit jeher sehr langfristig orientiert. Das zeichnet die Familie Mars und die Mitarbeitenden aus. Schon vor über einem halben Jahrhundert hielt das Unternehmen schriftlich fest, dass es für alle Anspruchsgruppen einen Mehrwert generieren wolle. Diese ganzheitliche Denkweise hat sich bewährt, auch finanziell. 

Dazu passt, dass sich Mars seit über fünfzig Jahren den Thinktank Catalyst leistet. Mit diesem haben Sie den Ansatz »Economics of Mutuality« lanciert. Wieso?

Roche: Angeregt durch den Verwaltungsratspräsidenten warf das Management 2007 eine Frage auf, die viele herausforderte: »Was ist das richtige Maß an Gewinn?« Das verbreitete Shareholder-Value-Denken lehrt nur die Maximierung der Eigenkapitalrendite. Es geht auf den Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman zurück. Dieser schrieb Anfang der Siebzigerjahre, die einzige soziale Verantwortung eines Unternehmens bestehe darin, den Gewinn für die Aktionäre zu maximieren. Mich faszinierte die Komplexität der gestellten Frage mit ihrem wirtschaftlichen und ethischen Aspekt. Schon vor Tausenden Jahren schrieb etwa der weise König Salomo im biblischen Buch der Sprüche: »Einer teilt aus und hat immer mehr; ein anderer nimmt mehr als er soll und wird doch ärmer.« Salomo hat erkannt, dass man mit der Mentalität, Besitz um jeden Preis zu erhalten, nicht unbedingt am besten fährt. Leider hat sich jedoch die betriebswirtschaftliche Forschung nie ernsthaft mit der Thematik befasst.

Jakub: Die Wertschöpfungskette eines Unternehmens ist lediglich so stark wie jene des schwächsten Glieds. Erwirtschaftet man also zu viel Gewinn auf Kosten eines Glieds, könnte sich das langfristig für das ganze Unternehmen nachteilig auswirken. Das Management von Mars ist sich dieses Zusammenhangs bewusst.

Ihnen blieb nichts anderes übrig, als selbst über das Thema nachzuforschen?

Roche: Genau. Wir haben die Beziehung zwischen den verschiedenen Formen der Gewinnerzielung und der Geschäftsentwicklung über zehn Jahre lange erforscht, unter anderem anhand von Pilotprojekten in den weltweiten Betrieben von Mars. Dazu arbeiteten wir mit der Said Business School der Oxford University und mit Professoren anderer Universitäten zusammen. Entstanden ist unser Wachstumsmodell »Economics of Mutuality«, zu gut Deutsch »Wirtschaft der Gegenseitigkeit«. Beim Namen haben wir uns von der Firmengeschichte inspirieren lassen: Forrest Mars Senior hat schon 1947 geschrieben, der »Gesamtzweck« des Unternehmens bestehe darin, Leistungen zum gegenseitigen Nutzen von allen – Konsumenten, Mitarbeitenden, Lieferanten, dem Staat und den Aktionären zu erbringen.

Erklären Sie uns Ihr neues Modell in Kürze.

Jakub: Wir erachten die »Economics of Mutuality« als eine »Werkzeugkiste« für das Management, um ein Unternehmen auf seinen Sinn und Zweck hin auszurichten. Hierzu gilt es, alle Interessensgruppen des geschäftlichen »Ökosystems« zu berücksichtigen. Die Aktionäre sind nur eine davon. Nun gibt es allerdings ein Problem: Man kann nur optimieren, was sich messen lässt. Üblicherweise messen Unternehmen lediglich ihre finanziellen Kennzahlen – allein das Geld zählt. Wir halten dieses Gewinnkonstrukt für veraltet. Darum haben wir neue Performance-Kennzahlen wie das Sozial-, Human- und Naturkapital definiert. Dabei fällt ins Gewicht, dass jeder Mensch ein Individuum mit Talenten ist und die natürlichen Ressourcen begrenzt sind. Konsequenterweise arbeiten wir mit neuen, breiter abgestützten Gewinnformen und neuen Anreizsystemen für Manager. So gelingt es, für das Unternehmen wie für die Gesellschaft und die Umwelt Mehrwert zu schaffen.

Das Geld ist heute nicht mehr knapp. Es mangelt aber vielerorts an Talent und natürlichen Ressourcen.

Schwingt da Kritik an unserem Finanzsystem mit?

Roche: In einem gewissen Sinn sind wir in der wirtschaftlichen Realität der Siebzigerjahre stecken geblieben. Damals galt das finanzielle Kapital als knapp, während man die Arbeitskräfte und die natürlichen Ressourcen für unerschöpflich hielt. Seither hat sich vieles geändert: Finanzielles Kapital ist heute in Hülle und Fülle vorhanden, die anderen Kapitalformen haben sich aber verknappt - und daher an realem Wert gewonnen. Wenn man dieser Tatsache nicht Rechnung trägt, führt dies zu suboptimalen Effekten. Die Wirtschaft beeinträchtigt dann die Umwelt und Gesellschaft, statt Werte für sie zu schaffen. Und dies umso mehr, als mittlerweile viele Konzerne über mehr Macht und Geld verfügen als ganze Nationalstaaten.

Wie kommen Sie darauf, dass das finanzielle Kapital reichlich vorhanden ist?

Jakub: Das lässt sich an verschiedenen Indikatoren ablesen. Der Finanzsektor, dessen ursprünglicher Zweck es war, der Realwirtschaft ausreichend Liquidität zur Verfügung zu stellen, hat sich zu einer Art Parallelsystem entwickelt. Gleichzeitig bewegen sich die Zinsen auf historisch tiefem, oft negativem Niveau. Noch nie haben die Notenbanken so viel Geld produziert wie in den letzten Jahrzehnten, insbesondere seit der Finanzkrise 2008. Derzeit befinden sich Anleihen von mehreren Billionen Dollar im Umlauf. Sie weisen den Wert des Bruttosozialprodukts mehrerer Industriestaaten auf, werfen aber eine garantiert negative Rendite ab. Ist es nicht paradox, wenn Schuldner für das Schuldenmachen sogar noch belohnt werden? Kurz: Knapp sind heute nicht die finanziellen Mittel, sondern Faktoren, die mit Talent und natürlichen Ressourcen zu tun haben.

Ist es nicht paradox, wenn die Schuldner fürs Schuldenmachen noch belohnt werden?

Stehen wir an einem Wendepunkt?

Jakub: Das Ende eines Zyklus’ zeichnet sich ab. Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 hat die Welt eingesehen, dass der Marxismus nicht funktioniert. Mittlerweile zweifeln viele am Finanzkapitalismus. Für uns ist er eine rudimentäre Form des Kapitalismus, die wir weiterentwickeln müssen. Die vierte industrielle Revolution stellt ganze Branchen auf den Kopf. Die Digitalisierung ist nicht finanzintensiv, aber sie erfordert viel Human- und Sozialkapital. Um dieses zu managen, braucht es ein neues Geschäftsmodell. Diese Lücke kann unsere Initiative »Economics of Mutuality« füllen. Wir haben fünf Jahre lang getestet, ob wir das Humankapital, das Sozialkapital und das Naturkapital ebenso zuverläßig und einfach messen können wie das Finanzkapital. Und gemäß unseren Daten ist das machbar.

Am Monatsende können Sie den Angestellten nicht sagen:
»Wir erwirtschaften viel Sozial- und Humankapital, haben aber kein Geld, um die Löhne zu bezahlen.«

Roche: Das ist der springende Punkt: Das eindimensionale monetäre Gewinnmaximierungsprinzip ist für eine Firma dysfunktional. Unser Modell verbessert die Kapitalallokation, was zu einer höheren Wertschöpfung und zu einer besseren Rendite führt - sogar kurzfristig.

Ihren Ansatz haben Sie in zahlreichen Businessprojekten getestet. Was war die größte Überraschung für Sie?

Roche: Zuerst haben uns die positiven Reaktionen auf unsere Projekte innerhalb von Mars überrascht. Weltweit fühlten sich viele Menschen ermutigt, als wir die »Economics of Mutuality« starteten. Zudem hilft unser Ansatz, das kreative Potenzial von Menschen freizusetzen. Schließlich war ich erstaunt, dass es viel weniger lange als erwartet gedauert hat, bis sich unser Modell ausbezahlt hat.

Wieso zahlt sich eine Wirtschaft der Gegenseitigkeit so rasch aus?

Roche: Unser Modell kommt der kopernikanischen Revolution in der Wirtschaft gleich: Bisher musste sich alles um das Unternehmen und seinen Profit drehen. Wir stellen den Sinn der Firma ins Zentrum des geschäftlichen Ökosystems. Wenn die Mitarbeitenden dies erkennen, wirkt dies sehr motivierend. Zudem schenken Führungskräfte dem Human-, dem Sozial- und dem Naturkapital eine höhere Beachtung. Das führt zu einer intelligenteren Ressourcennutzung.

Sie teilen Ihre Erkenntnisse mit anderen Unternehmen. Wer Firmengeheimnisse ausplaudert, wird normalerweise entlassen!

Jakub: Unser Management kam zur Auffassung, dass unsere Forschung mehr Wert schafft, wenn wir sie mit anderen teilen, als wenn wir sie als geistiges Eigentum für uns behalten. Je offener der Austausch mit anderen ist, desto mehr können wir selber dazulernen.

Nehmen wir an, eine Tabakfirma – mit eher zweifelhaftem Ruf – möchte mit Ihnen kooperieren. Wären Sie dabei?

Roche: Ich hätte kein Problem damit, ein solches Unternehmen zu begleiten und mich mit ihm auszutauschen – vorausgesetzt, es geht um eine Transformation des Geschäfts und nicht um Schönfärberei. »Die Kranken brauchen den Arzt, nicht die Gesunden«, hat Jesus gesagt. Wenn Unternehmen in heiklen Branchen mit unserem ganzheitlichen Ansatz arbeiten, sind die positiven Folgen umso tiefgreifender.

Auch Mars ist schon ins Visier von NGOs geraten, die die Lebensbedingungen von Kakaobauern anprangern.

Jakub: Mars produziert keinen Kakao, zählt aber zu den größten Käufern. Darum sieht sich das Unternehmen gegenüber den Kakaoproduzenten in der Verantwortung und versucht, eine Führungsrolle zu übernehmen im Kampf um lebenswerte Produktionsbedingungen für Kakaobauern.

Inwieweit gehört es für Unternehmen einfach zum guten Ton, seine Nachhaltigkeitsbemühungen herauszustreichen?

Roche: Manche Konzerne, etwa Mars mit dem Programm »Sustainable in a Generation Plan«, bemühen sich darum, ihre Prozesse nachhaltiger zu gestalten. Unser Modell »Economics of Mutuality« versteht sich aber nicht als Nachhaltigkeitsinitiative, sondern als Geschäftsmodell – das zu einer nachhaltigeren Wertschöpfungskette führt.

Sie blicken also zuversichtlich in die Zukunft?

Jakub: Ja. Früher oder später benötigen wir ein neues Wirtschaftsmodell. Die Frage ist, ob es uns gelingt, eine schrittweise Veränderung einzuleiten oder ob wir einen dramatischen Schock erleben müssen. Ich halte es da mit Winston Churchill: »Wir sind noch nicht am Ende, noch nicht einmal am Anfang vom Ende. Aber vielleicht schon am Ende des Anfangs.«

Bruno Roche

Bruno Roche

Bruno Roche (52) ist Chefökonom von Mars und leitet seit 2006 den Thinktank Mars Catalyst von Brüssel aus. 2007 hat er das Programm »Economics of Mutuality« lanciert, das sich im letzten Jahrzehnt vom Forschungsprogramm zum Geschäftsmodell entwickelt hat. Die Erkenntnisse daraus finden sich auch in seinem Buch »Completing Capitalism: Heal Business to Heal the World«. Roche ist Mitglied des World Economic Forum. Er studierte Mathematik, Wirtschaft und Finance. Der Nachkomme französischer Hugenotten ist verheiratet und hat mit seiner Frau vier Kinder. 

Jay Jakub

Jay Jakub

Jay Jakub (56) leitet die Forschungspartnerschaft von Mars Catalyst mit der Said Business School der Oxford University, wo er auch Gastdozent ist. Jay arbeitet am globalen Hauptsitz von Mars in McLean, Virginia. Er promovierte in Geschichte an der Oxford University und verfügt über einen M.A. der University of Lancaster und einen doppelten BA der American University in Washington. Zusammen mit Bruno Roche hat Jay Jakub das Buch »Completing Capitalism: Heal Business to Heal the World« geschrieben, das auch auf Chinesisch erschienen ist. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.