Hemdat Sagi
Roboterautos und Raketenalarm
Tel Aviv zieht nicht nur Raketen, sondern auch Talente beinahe magnetisch an. Die Zukunft des deutschen Automobils wird da geschrieben, wo deutsche Gründlichkeit auf israelische Improvisationskunst trifft. Das zeigt uns Hemdat Sagi, Managing Director der VW-Tochter Konnect, eindrücklich. Auch unter Beschuss.
Auf einem Testgelände in Tel Aviv in Israel steht ein Volkswagen, der so aussieht, als käme er aus der Zukunft. Die Fenster sind mit einer hauchdünnen Solarfolie überzogen, die den Innenraum kühlt. Im Innern sorgen Sensoren dafür, dass das Baby im Kindersitz richtig angeschnallt ist. Das Steuerrad erkennt über die Hautoberfläche, ob der Fahrer nüchtern ist. Die Kommunikation zwischen Mensch und Fahrzeug läuft über eine KI-gestützte Akustikblase, die Umgebungsgeräusche filtert und Gespräche punktgenau steuert. Der Anspruch: Das Auto der Zukunft sieht besser als jeder Mensch und steuert in jeder Situation fehlerfrei. Zahlreiche Entwickler und Ingenieure werten auf dem Testgelände die Daten aus. Diese Truppe hat Hemdat Sagi, Managing Director bei Konnect, zusammengewürfelt. Konnect, der Innovationshub der Volkswagen Gruppe, ist eine schlanke neunköpfige und hundertprozentige VW-Tochtergesellschaft in Tel Aviv. Israels Wirtschaftsmetropole ist die viertgrößte Mobilitätsdrehscheibe der Welt.
Hemdat Sagis Job: Unter den siebentausend Start-up-Unternehmen – darunter mehr als siebenhundert Firmen im Mobilitäts- und Automobilsektor – die richtigen Erfinder und Entwickler zusammenzutrommeln und deren israelische Technologie in deutsche Autos zu bringen.
Wenn die Luftschutzsirene heult
»Wir holen die Ideen der Zukunft ins Heute – mit einem Tempo, das in Deutschland oft als gefährlich gilt«, sagt die zweifache Mutter, während ein weiterer Raketenalarm auf dem Handy aufblinkt und draußen die Sirenen losheulen. Kommen die Angriffe aus dem entfernten Iran oder aus dem Jemen, haben die Leute höchstens zehn Minuten Zeit, um einen Schutzraum aufzusuchen.
Seit dem 7. Oktober 2023 ist nichts mehr wie zuvor in Israel. Das Leben wird seit bald zwei Jahren immer wieder, insbesondere nachts, unterbrochen. Angriffe der Hamas, Raketen aus dem Libanon, Beschuss der Hutis und der Iraner – Tel Aviv ist zum Brennpunkt geworden, auch abseits der Schlagzeilen.
Die Mitarbeiter von Konnect verloren damals am Nova-Festival Angehörige und arbeiten heute mal aus dem Schutzraum, mal aus dem Homeoffice, oft im Hybridmodus. Sagis Mann ist Spitalarzt und oft unterwegs, die Kinder schlafen in der Nähe des »Safe Room«, des Schutzraums in der Wohnung. Und wenn heute die Handys die Raketen ankündigen, wenn die Sirenen heulen, lehnt sich ihr Vater in seinem Wohnzimmersessel zurück. Er würde es nicht rechtzeitig in den Schutzraum schaffen. Und Sagi legt die Arbeit nieder, um sich per WhatsApp einmal mehr zu erkundigen, ob ihre Eltern den Angriff auch diesmal überstanden haben.
»Wir leben mit einem Grundrauschen aus Unsicherheit«, sagt sie, »aber wir funktionieren trotzdem. Vielleicht sogar gerade deshalb.« Ihre Stimme bleibt ruhig, fast kontrolliert. Keine Klage, kein Pathos. Stattdessen: Haltung und ein unbändiger Stolz auf die Geheimdienste Schin Bet und Mossad, die nach ihren kläglichen Fehleinschätzungen rund um das Massaker vom 7. Oktober ihre Reputation wieder hergestellt haben. Zum Beispiel mit der kühnen und minutiös vorbereiteten Pageraktion im September 2024, die im Libanon nahezu die gesamte feindliche Führung der Hisbollah ausgeschaltet hatte, oder mit präzisen Luftschlägen im Iran, welche das »atomare Juden-Vernichtungsprojekt des Mullahstaates« zurückwarf. Fakt ist: Israels Technologie verblüfft die Welt.
Wir leben mit Unsicherheit – aber mit Leidenschaft.
Die zweite Haut: Resilienz
Man versteht Sagis Haltung besser, wenn man ihr zuhört, wie sie über ihre Familie spricht. Ihre beiden Großeltern überlebten die Konzentrations- und Todeslager der Nazis, ihre Eltern flohen unabhängig voneinander aus Rumänien. Der Vater kam 1947 als kleiner Junge nach Israel – in einem Boot, das von Zypern aus illegal ins damalige britische Mandatsgebiet fuhr. Die Mutter emigrierte 1972 aus den USA. Hemdat Sagis Familie ist ein Kompendium jüdischer Überlebensgeschichten. »Diese Geschichten sind kein Trauma, das wir verstecken. Sie sind Teil unseres Alltags«, sagt Sagi, »sie lehren uns, wie man weitermacht, wenn man eigentlich stehen bleiben möchte.« Vielleicht ist es genau diese innere Gefasstheit, die sie zur idealen Brückenbauerin zwischen israelischem Erfindergeist und deutscher Industrieskepsis macht.
Chuzpe versus Trägheit
Während in Deutschland der Spurhalteassistent im Seat Alhambra von 2019 bestenfalls auf der Autobahn zuverlässig funktioniert, testen israelische Start-ups längst Lösungen für Level-5-Autonomie – wo kein Lenkrad, keine Pedale und kein Fahrer mehr nötig sind und das Auto alle Verkehrssituationen auch bei Schnee und Regen bewältigt. Die großen deutschen Hersteller haben den Umbruch zur softwarebasierten Mobilität verschlafen. Tesla war schneller, China flexibler.
Während Deutschland über die Klimarettung debattiert, baut Israel. »Wie schnell solche Autos im Verkehr anzutreffen sein werden, hängt von der Akzeptanz der Gesellschaften und von den Regulatorien der vielen Länder ab. Technisch sind sie längst Realität«, sagt Sagi. Die deutsche Autoindustrie habe große Kompetenzen – aber auch große Beharrungskräfte, erklärt sie diplomatisch. Und doch ist klar, was sie andeutet: Die deutsche Wirtschaft braucht die Innovationen aus Israel wohl dringender als umgekehrt.
In Israel will jeder wissen, wieso du wie entscheidest.
Das Team von Konnect identifiziert Technologien, welche die Modelle radikal verändern oder gar ablösen können – in Bereichen wie Batteriemanagement, Sensorik, Fertigungsoptimierung, Materialnachhaltigkeit oder Fahrerlebnis. So werden diese disruptiven Technologien in den VW-Marken – Audi, Škoda, Porsche, Seat – implementiert und verbaut. Dazu gehören Solarfolien zur Temperaturregulierung (siehe Seite 26), KI-gesteuerte Interieursysteme, recycelte Textilien für Autoteile oder Algorithmen für vorausschauende Wartung. Manchmal geht es auch einfach um bessere Freisprechanlagen. Oder um ein Kindersitzsystem, das nicht nur schützt, sondern kommuniziert.
Tel Aviv als Labor
»Israel ist ein Ökosystem, kein Land«, sagt Sagi, »hier geschieht Innovation nicht auf Anordnung, sondern aus Notwendigkeit. Wir improvisieren, iterieren, brechen Regeln.« Der Standort Tel Aviv gleicht dabei einer Versuchsanordnung, wie sie sich kein deutscher Konzern ausdenken würde. Der Innovationshub ist ein Co-Working-Space im dreistöckigen »Townhouse« mit Testgarage, einem Wohnzimmer für Techvisionen und einem Maschinenraum für Konzerntransformation. Sagi hat ihn mit aufgebaut – gemeinsam mit der heutigen Leiterin für Innovation, Stephanie Reimann Izhak. Die Idee: die deutsche Gründlichkeit und die israelische Chuzpe zusammenführen.
Selbstsicherheit und Demut
»Wir müssen ständig übersetzen – nicht nur Sprache, sondern Kultur«, sagt Sagi. »Deutsche Prozesse sind strukturiert, aber langsam. Israelische Entscheidungen sind schnell und oft chaotisch. Wir verschmelzen beides – oder bringen es zumindest miteinander in Berührung.«
Hemdat Sagi ist seit der Gründung von Konnect dabei. Der Anschlag am 7. Oktober hat sie schließlich an die Spitze des jungen Unternehmens gebracht. Sie erklärt sich das ganz pragmatisch: »Die deutschen Mitarbeiter sind in der Kriegsphase in ihre sichere Heimat zurückgereist. Als Israeli bleibt man.« In der Führung setzt Sagi auf Transparenz und Autonomie. Nach dem einschneidenden Ereignis informierte sie ihr Team offen: »Ich werde in den nächsten zehn Tagen nicht voll präsent sein. Mein Mann ist im Dauereinsatz, ich muss Prioritäten setzen. Aber ich bin erreichbar – ohne Fassade.«
Sie glaubt nicht an Mikromanagement. »Menschen brauchen Verantwortung, nicht Kontrolle«, sagt sie. Und: »Ein Team sollte wissen, dass es mitdenken darf – ja, sogar muss. Ich sehe es als meine Aufgabe, Informationen nicht zurückzuhalten, sondern zu teilen.« In Israel sei Führung weniger hierarchisch, aber fordernder: »Man wird ständig hinterfragt. Die Leute wollen wissen, warum du entscheidest, was du entscheidest. Das braucht Selbstsicherheit – und Demut.«
Eine Brücke zwischen zwei Welten
Hemdat Sagi hat beide Seiten erlebt. Sie hat fünf Jahre lang als Diplomatin in der israelischen Botschaft in Berlin als Wirtschafts- und Handelsattachée gearbeitet und war später bei Axel Springer tätig. Sie kennt die deutsche Seele, mit ihren Ängsten, ihrer Gründlichkeit, ihrer Skepsis. Und sie kennt die israelische Seele – mit ihrer Improvisationskunst, ihrer Wehrhaftigkeit, ihrem Glauben, dass Technologie die Welt verbessern kann.
Wir halten das Leben hoch, weil es bedroht ist.
Können die Deutschen sich das Know-how und den Lifestyle der Israeli zunutze machen? Konnect hat seit der Gründung über zwanzig Trainees und Praktikanten beherbergt – Fachkräfte aus der VW-Gruppe und von Universitäten, die für drei bis sechs Monate ein Praktikum absolvierten. »Ich bin ein großer Fan dieses Programms«, erklärt Sagi und erzählt nebenbei, dass am 7. Oktober 2023 ein Praktikant von Audi aus dem Land geflohen ist und jüngst ein weiterer während des Irankriegs flüchtete. »Aber die Leute wollen immer noch zu uns nach Tel Aviv kommen und ein Praktikum machen.«
Dass ein Konzern wie Volkswagen auf dieses kleine Land mit seinen gerade einmal zehn Millionen Einwohnern angewiesen ist, sei weniger paradox, als es klinge. »Israel liefert nicht Masse, sondern Richtung«, sagt sie, »wenn wir etwas entwickeln, geht es uns nicht ums Geld, sondern um Bedeutung. Wir wollen, dass es wirkt.« VW ist kein Einzelfall. Von Apple bis Xiaomi: Jeder internationale Konzern, der sich eine Zukunft geben will, forscht in Israel. Silicon Valley war gestern.
Yes, we can!
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KaufenDoch Hemdat Sagi glaubt nicht an technologische Machbarkeit allein. Sie spricht oft davon, dass Technologie Werte transportieren muss. Dass sie Leben retten, Unfälle vermeiden, Ressourcen schonen, Gerechtigkeit fördern kann. Nicht als Ideal, sondern als Anspruch. »Wir halten das Leben hoch«, sagt sie, »vielleicht, weil wir es oft genug bedroht sehen.« Wenn sie über die Rolle von Technologie in Kriegszeiten spricht, bleibt sie vorsichtig. Zu viele Widersprüche, zu viele Grauzonen. Und doch ist da dieser Glaube, fast wie ein stilles Gelübde: dass man mit einem Sensor im Kindersitz, mit einem besseren Navigationssystem, mit einer faireren Lieferkette etwas bewirken kann.
Die Zukunft hat begonnen
Bis 2027, so hofft man bei Volkswagen, sollen Fahrzeuge mit israelischen Komponenten in Serie gehen – vom Solardach bis zum selbstkühlenden Innenraum. Am strategischen Fahrplan des Mutterkonzerns partizipiert Konnect direkt, »Mobilität für Generationen« mit dem Anspruch, die Transformation der Autoindustrie aktiv mitzugestalten. Aber es geht um mehr. Es geht um einen Kulturwandel, der nur gelingen kann, wenn er auch innerlich stattfindet. »Die wichtigste Transformation ist nicht technologisch, sondern mental«, sagt Sagi. Und vielleicht ist es kein Zufall, dass dieser Wandel aus einem Land kommt, in dem man immer schon gezwungen war, mit Unsicherheit zu leben – und trotzdem an die Zukunft zu glauben.
Hemdat Sagi
Sie studierte Jura und verdiente sich ihre Sporen auf der israelischen Botschaft in Berlin ab. Dann leitete Hemdat Sagi unter anderem die israelische Niederlassung von HY, einem Axel‑Springer‑Unternehmen, und half deutschen Firmen bei der Digitalisierung. Seit 2023 orchestriert sie die VW-Tochter Konnect, die sie seit 2018 mitaufgebaut hat. Hemdat ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern.