Roland Juker
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Marcel Hager

Greenland in Sicht

Firmenübernahme, Neubau, Umsatzrückgang: Plötzlich schien Marcel Hager, Co-Geschäftsführer von Coachingplus, alles über den Kopf zu wachsen. Er stürzte in eine Depression – und hielt doch an seinen Träumen fest.

Stephan Lehmann-Maldonado
Stephan Lehmann-Maldonado
9 min
Roland Juker
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Marcel Hager legte sich auf den Boden seines Hauses, streckte die Arme aus, atmete tief ein und aus. Frau und Kinder waren außer Haus. Das Jahr neigte sich dem Ende zu. Hager genoss den Moment der Stille. Er schloss die Augen, ließ sein Leben Revue passieren, reflektierte das Erreichte. 

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Das starke Tandem hinter den neuen Räumen für Begegnung und Inspiration von Coachingplus: Jens von Grünigen (links) und Marcel Hager. In ihrem Co-Working-Space finden bis zu hundert Leute zum Miteinander.

»Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr erfüllte mich eine tiefe Dankbarkeit für alles, was Gott mir bisher geschenkt hatte«, erinnert sich Hager. So sei er zum Punkt gekommen, an dem er bereit war, alles loszulassen. »Der Erfolg, der mich oft antrieb, hatte für mich stark an Reiz verloren. Ich empfand ihn je länger desto mehr als leer, nicht sinnstiftend. Ich sehnte mich nicht mehr danach, auf der großen Bühne zu stehen. Vielmehr war ich bereit, alles, was ich besaß, loszulassen. Meine Prioritäten hatten sich verändert.«

Ich stürzte in eine tiefe Depression. Ich will das nicht schönreden.

Der Wertewandel kam nicht wie aus heiterem Himmel. Hager hat »die größte Krise seines Lebens und das intensivste Jahr« hinter sich. Er durchlitt eine Erschöpfungsphase, stürzte in eine Depression, musste Medikamente schlucken. »Ich möchte das nicht als Burn-out schönreden«, sagt er, der bis dahin als Senkrechtstarter galt.

Mit fünfzehn Jahren lernte Hager seine Frau kennen, mit 25 leitete er die Freikirche ICF Rapperswil, mit dreißig machte er sich als Coach selbstständig, baute die Männerbewegung »Der 4te Musketier« Schweiz auf, schrieb Bücher und mit knapp vierzig übernahm er die Firma Coachingplus. Jetzt war er kurz davor, mit seinem Geschäftspartner Jens von Grünigen neue Räumlichkeiten in Affoltern am Albis zu beziehen. Zusätzlich zu den Schulungsräumen von Coachingplus und den Büros sollte ein Co-Working-Space mit regionaler Ausstrahlung entstehen.

Alarmwert auf Stressskala

Was war der Auslöser, der Marcel Hager den Boden unter den Füßen wegzog? »Es war nicht ein einzelnes Ereignis, sondern die Summe des Ganzen«, meint er. Die amerikanischen Psychiater Dr. Thomas H. Holmes und Dr. Richard H. Rahe wiesen 1968 nach, dass Stress Krankheiten auslösen kann. Sie erstellten eine Stressskala und ordneten verschiedenen Lebensereignissen jeweils eine Punktzahl zu – von Gewohnheitsänderungen bis zum Tod eines Ehepartners. »Als ich den Test für mich gemacht habe, bin ich auf eine addierte Punktzahl gekommen, bei der ein Krankheitsausbruch garantiert ist.«

Rollen wir die Ereignisse auf. Ende 2020 schien die Welt von Marcel Hager perfekt. Er hatte eben Coachingplus von dessen Gründer übernommen – und damit eine Menge neuer Aufgaben. »Die Übernahme hat mich mehr belastet, als ich es erwartet hatte. Hinzu kam: Meine Leidenschaft ist es, Menschen zu unterrichten und zu begleiten. Die Administration und das Management liegen mir weniger.«

Was würdest du machen, wenn du eine Million Euro gewinnen würdest?

Gut, dass Marcel Hager seinem Schwager Jens von Grünigen, der selbst eine schwierige berufliche Situation durchlebte, nebenbei eine herausfordernde Frage gestellt hatte: »Was würdest du machen, wenn du eine Million Euro gewinnen würdest?« Ohne groß zu überlegen, antwortete dieser: Er würde seine damalige Führungsposition in einem großen mittelständischen Unternehmen an den Nagel hängen. Diese Antwort löste ein solches Umdenken aus, dass er sich auch ohne Million zu einem Neustart entschied. Kurz darauf war Jens von Grünigen als Geschäftspartner mit an Bord bei Coachingplus. »Jens ist ein Frachtschiff. Bei ihm kannst du Container um Container abladen. Ich bin eher ein Katamaran, schnell und wendig – aber nicht sehr belastbar«, musste Marcel Hager über sich selbst auf die harte Tour lernen.

Auf zu neuen Ufern

Gemeinsam beschlossen die beiden, mit Coachingplus zu Neuland aufzubrechen. Bis dato galt das Unternehmen als Synonym für einen zehntägigen Grundkurs in angewandtem Coaching. Rund 2500 Personen hatten die Ausbildung durchlaufen. Die Schulungsräumlichkeiten befanden sich in der Nähe des Flughafens Zürich. »Jens und ich leben hingegen auf dem Land. Wir wünschten uns einen Raum in unserer Umgebung.«

Nach einer Standortanalyse entdeckte das Coachingplus-Team eine Location in Bahnhofsnähe in Affoltern am Albis. Der Vertrag war aufgesetzt. Doch einen Tag vor der Unterzeichnung vergab der Besitzer die Räumlichkeiten anderweitig. Hager und von Grünigen gaben nicht auf. In der gleichen Ortschaft stießen sie auf ein vielversprechendes Bauprojekt – mit nur einem Haken: »Die vorgesehene Fläche bedeutete für uns einen Quantensprung«, erzählt Hager. Der Vermieter beruhigte, es gebe noch zwei weitere Mieter, die an einer Teilung der Liegenschaft interessiert seien. Aber beide Kandidaten sprangen nach Kurzem ab. Was nun? 

Ein Zeichen von oben

»Gemeinsam mit unseren Ehefrauen haben wir gebetet und bewusst versucht, auf Gott zu hören«, sagt Hager. Und dieser schien zu sprechen. Beide erhielten den Eindruck, dass die Liegenschaft eine grüne Fläche darstellte – und sie diese ausbauen sollten. »Grüne Fläche« stand sogar wörtlich in der Vermarktungsbroschüre. Doch Marcel Hager reichte dies nicht. Er verlangte vom »Allerhöchsten« ein deutlicheres Zeichen: »Gib es mir schriftlich, was wir unternehmen sollten, lieber Gott.« Kaum hatte er die Bitte ausgesprochen, griff er zum Rucksack seiner Frau, um etwas hineinzutun – und las an dessen Innenboden in großen Buchstaben: »Greenland«.

Hager und von Grünigen beschlossen, den Glaubensschritt zu wagen und die »grüne Fläche« zu übernehmen. Doch wiederum kam es anders als erwartet. Nachdem der Vertrag unterschrieben war, brach der Umsatz von Coachingplus stark ein. »In der Covidzeit absolvierten viele Leute eine Online-Ausbildung. Nun aber fielen die Schutzmaßnahmen weg, während der Krieg in der Ukraine tobte. Wir bekamen die Verunsicherung der Menschen in der Kasse zu spüren«, erklärt Hager.

Für diesen Quantensprung nach vorn verlangte ich von Gott ein Zeichen.

Es war für Hager wie die letzte Zutat zu einem explosiven Cocktail: die Übernahme von Coachingplus, die Raumsuche, ein privater Umbau, hohe Investitionen respektive finanzielle Verpflichtungen – und der Umsatzeinbruch. »Ich schaffte es nicht mehr, das Geschehene zu filtern. Das führte zu Schlafstörungen und Angstzuständen«, sagt er. In dieser Zeit weinte Marcel Hager oft. Nicht nur seine Frau, auch seine Kinder erlebten das hautnah. Und sie reagierten einfühlsam, liebevoll. »Ich bin meiner Frau enorm dankbar, dass sie mir immer zur Seite stand. Und für mich gleicht es einem Wunder, dass ich ein so gutes Verhältnis zu meinen Kindern im Teenageralter habe.« Als seinen höchsten Wert bezeichnet Hager die Ehrlichkeit, die Authentizität. »Ich möchte niemandem etwas vorspielen. Meine Kinder sollen Schmerzen wie auch Wunder sehen. Einen Streit mit meiner Frau mitbekommen, aber auch die Versöhnung. Transparenz stärkt das Vertrauen – und jede Beziehung.«

Trotz der Mischung aus Überlastung, Depression und Ängsten unterrichtete Marcel Hager weiterhin und begleitete andere Menschen. Er brauchte dazu kein Pokerface aufzusetzen. Denn Schulungen sind seine Leidenschaft. Aber er musste sich mehr Zeit nehmen, um sich auf Menschen, Themen und Projekte einzulassen. Und seine Regeneration dauerte länger. »Ein Coach ist nicht der abgeklärte Weise, der dich über die Brücke ruft und verrät, wie du in das verheißene Land kommst. Er geht zwar den Weg mit dir, aber er ist nicht besser. Mit Menschenkenntnis, Fragetechniken und echtem Interesse hilft er seinem Gegenüber, die eigenen Ressourcen hervorzubringen und eine Lösung zu entwickeln«, formuliert Marcel Hager sein Coachideal.

Vertrauen vor Verstand

Die Belastungen forderten nicht nur physisch und psychisch ihren Tribut, sie stellten auch Hagers Glauben auf die Probe. »Ich haderte mit Gott, fragte und klagte: ›Lässt du mich im Stich? Wo ist deine schützende Hand?‹«, räumt Hager ein: »Doch der Glaube ist tief in mir verankert. Wenn ich mich davon abwenden würde, wäre ich wie ein rebellierendes Kind. Ich habe meine Entscheidungen selbst getroffen, darum muss ich die Verantwortung übernehmen. Die Schuld kann ich nicht Gott in die Schuhe schieben.«

Schließlich klammerte sich Hager an einen Vers aus der Bibel, in dem es heißt: »Verlasse dich nicht auf deinen Verstand, sondern vertraue voll und ganz dem Herrn.« »Hätte ich mich nicht an dem Unsichtbaren festgehalten, wären die Lasten für mich nicht tragbar gewesen«, vermutet er. So aber setzte er darauf, dass ihn Gott ins »grüne Land« führen würde. Mut gab ihm überdies eine Prophetie, die er vor Jahren von einer ihm unbekannten Person erhalten hatte. Sie sah ein Bild vor ihrem inneren Auge: »Ich ritt darin auf einem Pferd. Dann musste ich absteigen und eine sehr enge, dunkle Schlucht passieren. An deren Ende wartete eine grüne Wiese, auf der ich frei galoppieren konnte. Diese Symbolik hat sich für mich erfüllt.« In diesem Sinn hat sich ein Wort bei Marcel Hager eingebrannt. So sehr, dass er hierzu ein weiteres Buch schreiben will: »Zwischenzeit«. In jedem Leben komme es zu kleinen und großen Zwischenzeiten – von der Arbeitspause über Umzüge bis zu den großen Lebensereignissen wie der Geburt eines Kindes, der Hochzeit und der Pensionierung. Auch die von manchen belächelte Midlife-Crisis falle in diese Kategorie. »Ich habe selbst erlebt, dass es diese Not in der Lebensmitte gibt. Ich fragte mich: ›War das alles?‹ Diese Sinnkrise ist aber auch gesund. Sie kann der Ausgangspunkt sein für einen Perspektivenwechsel, eine Transformation und eine Neuausrichtung auf die zweite Lebenshälfte«, sagt Hager.

Jetzt bin ich mir sicher: Es gibt eine Midlife-Crisis.

»Danken« und »denken« sind verwandte Wörter, erklärt er weiter. »Unsere Gedanken haben Macht: Die Sorgen und Nöte entspringen oft unserer Vorstellungskraft. Aber wenn ich an das Gute denke, steigt Dankbarkeit in mir hoch«, erklärt er. Das sei nicht zu verwechseln mit »positivem Denken«. Dieses führe nur zum Selbstbetrug. 

Handwerk als Therapie

Als ursprünglich gelernter Fahrzeugbauer mag es Hager, praktisch Hand anzulegen. Das erdete ihn in den verzweifelten Momenten und half ihm, herunterzufahren. In wochenlanger Feinarbeit entwarf Hager verschiedene Möbel für den Neubau von Coachingplus, schnitt Bretter zu, schliff, hobelte, schweißte Metalle, strich Hölzer. Manchmal flankiert von Jens von Grünigen sowie den Ehefrauen der Geschäftspartner, die ebenfalls tatkräftig mitanpackten. Das Resultat ist augenfällig: Das Ambiente im Co-Working-Space ist geprägt von einer Kombination aus Industriechic mit hohen Decken, mit Holz verkleideten Wänden, langen Naturholztischen und Besprechungsboxen auf Rädern. Auf siebenhundert Quadratmetern finden hundert Leute ihren Platz. »Die Handarbeit wirkte sich wie eine Therapie auf mich aus«, sagt Hager im Rückblick. 

Anfang 2023 öffnete der neue Hub von Coachingplus in Affoltern am Albis seine Türen. »Wir wurden überrascht von der spontanen Nachfrage nach Co-Working-Arbeitsplätzen«, freut sich Marcel Hager. Zu den ersten Mietern zählt beispielsweise Andreas Wolf, jetziger Leiter der Bewegung 4M Schweiz, die Marcel Hager einst ins Leben gerufen hatte. »Damit schließt sich für mich ein Kreis. Schon in unserer Jugendzeit waren Andreas und ich befreundet. Wir träumten damals von einem Kompetenzzentrum.« Darüber hinaus hat Coachingplus sein Kursangebot ausgeweitet. Neu bietet das Schulungsunternehmen den Studiengang zum Coach auch auf Französisch an, führt eine Ausbildung zum diplomierten Trainer rund um das Persönlichkeitsmodell Enneagramm ein und startet mit dem Lehrgang Natur- und Erlebniscoach. Hager: »Coaching ist aus der Führung nicht mehr wegzudenken.« 

Marcel Hager ist sich bewusst, dass noch nicht alles im »grünen Bereich« ist. Aber mit einem Fuß ist er in Greenland angekommen.

Marcel Hager

Marcel Hager

Er war immer schnell unterwegs. Mit fünfzehn lernte Marcel Hager (41) seine Frau kennen, mit 25 leitete er eine Freikirche, mit dreißig machte er sich selbstständig und rief die Männerbewegung »4M Schweiz« ins Leben. Nebenbei schrieb er Bücher. Mit vierzig übernahm er Coaching-plus. Nach einer Sinnkrise hat er einen Co-Working-Space mit seinem Geschäftspartner Jens von Grünigen eröffnet. Hager ist verheiratet und Vater von drei Kindern.