Miri Fenske
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Johanna Schirmer

Heilsame Neuanfänge

Johanna Schirmer ist mit 21 Jahren Geschäftsführerin eines Familienunternehmens geworden – ein großer Einschnitt in ihrem Leben. Heute ist sie sich sicher: Neuanfänge sind ein wichtiger Teil unserer Weiterentwicklung.

Johanna Schirmer
Johanna Schirmer
8 min

Mein erster Neuanfang kam etwas unerwartet, fast so, als wäre ich unabsichtlich an den Resetknopf gekommen. Plötzlich stand meine Welt auf dem Kopf. Das war dieser schicksalhafte Tag im Jahr 2017, an dem ich morgens als Studentin aufstand und abends als Stiftungsvorstand und Geschäftsführerin ins Bett ging: der größte und schnellste Karrieresprung meines Lebens. 

Mein eigenes Ding drehen

Aber der Reihe nach: Ich stamme aus einer Unternehmerfamilie. Das bedeutet: Meine gesamte Kindheit über begleiteten mich Themen rund um den Familienbetrieb. Ich bin quasi in der Firma aufgewachsen. Als trotzige Jugendliche hatte ich überhaupt keine Lust darauf, dieses Unternehmen einmal selbst zu steuern. Ich wollte mein eigenes Ding drehen: bloß raus aus der Kleinstadt, studieren, in einer WG leben, neue Menschen kennenlernen, Party machen – und außerhalb meiner Heimatstadt eine Karriere in einem Konzern starten. Ich wollte den Traum meiner Großeltern, den Gründern unseres Familienunternehmens, nicht weiterträumen.

Über Nacht wurde ich Chefin und war nicht annähernd qualifiziert dafür.

Meine Zukunftspläne sahen anders aus: 2014 wagte ich den Schritt und zog etwa 300 Kilometer weiter in eine Großstadt, um dort ein duales BWL-Studium zu beginnen. Diese Entscheidung führte mich zu einem der weltweit führenden Konsumgüterproduzenten – ein Unternehmen, von dem ich schon immer geträumt hatte. Ich bewarb mich und konnte mir den begehrten und hart umkämpften Studienplatz sichern. Nach meinem Studium hatte ich dann den Luxus, aus mehreren verlockenden Jobangeboten zu wählen, von denen keines den Familienbetrieb einschloss. Und ich bin sicher: Wäre dieser schicksalhafte Tag nicht eingetreten, hätte ich diesen Weg weiterverfolgt.

Heute Studentin, morgen Boss!

Unser Familienunternehmen – ein Lebensmittelgroßhandel – ist heute eine Unternehmensgruppe mit Familienstiftung, Besitz- und Betriebsgesellschaft. Seit der Gründung unserer Familienstiftung 2014 wurde meiner Großmutter zunehmend bewusst, dass ihre Gesundheit nicht mehr ausreichte, um dauerhaft als Stiftungsvorstand und Geschäftsführerin der Besitzgesellschaft tätig zu sein. Als sich ihr siebzigster Geburtstag näherte, leitete sie daher einen Nachfolgeprozess ein, den ich als Studentin und Mitglied des Stiftungsrats aus der Zuschauerrolle verfolgte. Doch dann entschied sich die ursprünglich vorgesehene Person, aus dem Nachfolgeprozess auszusteigen. Statistisch betrachtet nichts Besonderes: Jede zweite Nachfolge scheitert. Als mich diese Nachricht erreichte, ging ich in Sekunden, die sich wie Stunden anfühlten, in mich: Unser Familienunternehmen beschäftigte damals rund 160 Mitarbeitende. Ein traditioneller Haushalt besteht aus drei Personen. Das bedeutet, indirekt tragen wir die Verantwortung für das Wohlergehen von 400 bis 600 Menschen – und das in einer strukturschwachen Region. Vor allem aus einem starken Verantwortungsbewusstsein gegenüber unseren engagierten Mitarbeitenden heraus entschied ich mich deshalb mit 21 jungen Jahren Hals über Kopf, die Position des Stiftungsvorstands und der Geschäftsführung der Irene Gantz GmbH & Co. KG zu übernehmen.

Resets gehören zur Tagesordnung

Als ich die Nachfolge antrat, lief das alles andere als reibungslos. Ich war über Nacht und nicht ganz freiwillig auf diesem Posten gelandet, für den ich – so ehrlich kann ich heute sein – nicht annähernd qualifiziert war. Natürlich mussten sich auch unsere Mitarbeitenden erst einmal an den Gedanken gewöhnen, dass der Dreikäsehoch von damals jetzt das Sagen hat. Vor allem fehlte es mir aber an ganz grundlegenden Erkenntnissen und Erfahrungen, die man in keinem Leadershipseminar lernen kann.

Ich habe eine Menge Fehler gemacht – und noch mehr dabei gelernt.

Seit ich Geschäftsführerin bin, sind Neuanfänge darum fast zur Routine geworden. Anfangs habe ich mir ziemlich oft eine blutige Nase geholt. Ich wusste einfach viel zu wenig darüber, wie man ein Unternehmen auf operativer und strategischer Ebene führt. Die ersten Jahre bezeichne ich gerne als »Learning by Burning« – ich habe eine Menge durch meine Fehler gelernt. Die Fehler selbst waren in dem Moment schmerzhaft und anspruchsvoll zu bewältigen. Doch sobald mein Team und ich die Situation gemeistert hatten, kam das erhellende Aha-Erlebnis: Dieser Fehler wird sich nicht wiederholen. Und so geht es mir in vielen Situationen auch heute noch: ausprobieren, Fehler zulassen, daraus lernen und es beim nächsten Mal besser machen. 

Als junge Chefin viel verpasst

Ich habe schon früh mein Leben voll und ganz der Karriere gewidmet und als so junge Geschäftsführerin ganz alltägliche Dinge verpasst: Mit Freunden Nächte durchfeiern, Spaß haben und das Leben in vollen Zügen genießen? Hobbys ausleben? Dafür gab es keinen Slot in meinem Terminkalender. Es gab eine Zeit, in der ich auch zweifelte und mich fragte: Wofür mache ich das eigentlich?

Es hat etwas gedauert, bis ich feststellte: Das alles lag auch an mir selbst. Natürlich habe ich als Geschäftsführerin viel zu tun. Ich muss ein Unternehmen führen. Ich schaffe es nicht immer, Hobby, Familie, Freunde, Haushalt und noch Quality time für mich neben dem Beruf unter einen Hut zu bekommen. Aber wenn ich mir nicht selbst die Zeit dafür nehme – wer macht es dann? In vielen Situationen sind wir selbst dafür verantwortlich, unsere Work-Life-Balance wieder geradezurücken. 

Nicht immer erkennen wir von selbst, wann es an der Zeit ist für einen Reset. Mir persönlich hat mein Coach sehr dabei geholfen, mich und meine Bedürfnisse besser kennenzulernen und zu verstehen. Ich habe gelernt, mir klare Ziele zu setzen. Früher dachte ich, meine Hauptaufgabe als Geschäftsführerin bestünde darin, irgendwie das tägliche Chaos zu beherrschen. Heute suche ich nach passenden Lösungen für meine beruflichen Herausforderungen und habe eine klare Strategie entwickelt, der ich folge. Durch das Coaching konnte ich mein Selbstvertrauen stärken und lernte, besser mit Rückschlägen umzugehen. 

Mit der Zeit habe ich noch einen weiteren Neuanfang gefunden – neben meiner Rolle als Geschäftsführerin: Ich halte Vorträge, in denen ich meine Erfahrungen mit anderen jungen Führungskräften teile. Dabei spreche ich über die vielen Fehler, die ich gemacht habe – und immer noch mache. Von all den Fettnäpfchen, in die ich getreten bin. Von den kuriosen Situationen, die ich als junge Chefin erlebe, die oft zum Lachen und manchmal auch zum Haareraufen sind. Aus denen ich täglich lerne und die ein schöner Impuls für andere junge Führungskräfte sind! Denn ich bin mir sicher: So wie es mir als 21-jähriger Chefin erging, so ergeht es vielen jungen Nachfolgerinnen und Führungskräften. Wir reden nur viel zu selten darüber. Die Speaker-Tätigkeit ist für mich immer wieder eine Chance, Situationen und Themen zu reflektieren – und so mit einem neuen Blickwinkel, mental neu anzufangen.

Heilsame Auslandsreisen

Doch nicht alles darf sich für mich um Arbeit drehen. Sie nimmt ohnehin schon einen großen Teil in meinem Leben ein. Und auch wenn ich mittlerweile wirklich Spaß dabei habe: Wie jeder Mensch benötige auch ich mal eine richtige Auszeit – weit weg vom Auf und Ab des Unternehmertums. Getrennt vom Videocall-Wahnsinn mit Kunden, Partnern und Journalisten. Abgeschirmt von den täglichen E-Mail-Tsunamis. Nicht erreichbar für die Wirtschaftswelt da draußen. Zeit, in der ich einfach die Privatperson Johanna bin. 

Ich liebe es zu reisen. Atemberaubende Regionen zu durchwandern, trainiert nicht nur meine Beine, sondern befreit auch meinen Kopf. Denn manchmal sind wir gefangen in Routinen, Verpflichtungen und Stress, der uns den Blick auf das Wesentliche vernebelt. Wir sehnen uns nach einem Neuanfang, vergessen aber, dass das auch das Loslassen von Altlasten bedeutet. 

Während meiner Reisen durch Lateinamerika und Südostasien konnte ich alles Negative, das sich angestaut hatte, abschütteln und Dinge zu Ende denken. Die endlosen Wanderwege boten die perfekte Kulisse, um zu entscheiden, was wirklich wichtig war. Ich begann, die Dinge aus einer neuen Perspektive zu sehen. Von den majestätischen Anden über die dichten Regenwälder bis hin zu den paradiesischen Stränden – die Schönheit der Natur dort ist überwältigend. Sie erinnerte mich auch daran, wie wichtig es ist, die Natur zu schützen und zu bewahren. 

Eingefahrenes überdenken

Auf Reisen finde ich nicht nur meine innere Ruhe, sondern auch neue Inspiration. Irgendwo im Nirgendwo habe ich die Freiräume, um mich in neue Themen einzuarbeiten, Projekte zu planen und neue Ideen zu entwickeln. Dieses Mindset ist der perfekte Nährboden für Kreativität und frische Ideen. Beispielsweise habe ich unterwegs die Vorgehensweise zur Implementierung unseres Strategieprozesses erarbeitet. Zur Wahrheit gehört aber auch: Mit ein paar Tausend Kilometern Abstand ist es leichter, dumme Ideen in die Tonne zu schmeißen. Meine Reiseerfahrung lehrte mich etwa, ein wichtiges Projekt komplett neu aufzuziehen. Ich hatte es initiiert, der Projektauftrag war geschrieben, all die Workshops waren vorbereitet. Beim Wandern merkte ich: Das klappt so nicht, egal wie viel Arbeit ich bereits investiert habe. Also: alles zurück auf null. Zurück vor ein leeres Blatt Papier, zurück in die Recherchephase und eine komplett neue Vorgehensweise erarbeiten. Es ist wichtig, sich nicht dogmatisch an Konzepte zu klammern. Wir müssen auch bereit dazu sein, diese loszulassen und nochmal von vorne zu beginnen. Das Reisen hilft mir, solche Dinge aus der Distanz zu betrachten und zu reflektieren.

Neuanfänge zulassen

Die Zeit unmittelbar vor einem Neuanfang kann schwer sein. Wir fühlen uns unsicher oder zweifeln an unserem Können. Allerdings sind diese Phasen notwendig, denn sie führen zu einem wichtigen Wendepunkt: dem Drücken des Resetknopfs. Das hat etwas zutiefst Befreiendes und eröffnet neue Perspektiven und Möglichkeiten. So können Neuanfänge eine heilende Wirkung entfalten. Wir sollten sie nicht fürchten, sondern als eine willkommene Gelegenheit zur persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung begrüßen. Jeder Neuanfang ist ein Schritt nach vorne, ein Lernprozess, der uns reifen und wachsen lässt. 

Johanna Schirmer

Johanna Schirmer

Johanna Schirmer übernahm mit 21 Jahren Hals über Kopf die Nachfolge des Familienunternehmens – einem Lebensmittelgroßhändler im hessischen Korbach – sowie den Vorstand der Familienstiftung. Die heute 27-Jährige lernte im Schleudergang, was es heißt, ein mittelständisches Unternehmen zu führen. Über die Höhen und Tiefen als junge Chefin und Nachfolgerin erzählt sie regelmäßig in ihren Vorträgen.