Simone Fürst
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Kira Geiss

Keine Schönheitskönigin

Kira Geiss wurde vor einem Jahr als »Miss Germany« bekannt. Dennoch ist sie alles andere als eine Schönheitskönigin. Sie sieht sich als Botschafterin für Authentizität und Vermittlerin zwischen den Generationen. Dazu pflegt sie sogar Kontakte in die Bundespolitik.

Anna Lutz
Anna Lutz
9 min

Das hier ist dein Reminder, dass Ungeschminktsein völlig okay ist, dass rote Flecken und Unreinheiten auf der Haut und Pickel und müde Augen völlig normal sind, auch wenn wir es nicht immer bei Social Media sehen.« Kira Geiss lächelt in die Kamera, wischt sich über die müde aussehenden Augen und das Make-up-freie Gesicht. So zeigt sich die Anfangzwanzigjährige vor Hunderttausenden, manchmal sogar mehreren Millionen Nutzern auf ihrem Instagram-Account. Dabei war sie noch bis vor wenigen Wochen die amtierende »Miss Germany«, ein Titel, der lange Zeit vor allem eines suggerierte: Das ist die schönste Frau Deutschlands. Pickel und Augenringe passen da schwerlich ins Bild. Doch der Wettbewerb hat sich gewandelt und Kira Geiss ist anders als viele ihrer Vorgängerinnen: Sie versteht sich als Botschafterin einer Generation, will statt Perfektion Authentizität transportieren und mit christlichen Werten überzeugen. 

Ich bin so früh so kaputt gewesen.

Junge Menschen fördern

Ein Jahr zuvor. Es ist der 4. März 2023, jener Tag, der Kira Geiss’ Leben für immer verändern wird. Sie steht auf einer Bühne im Europapark in Rust. Die Stühle vor ihr sind gefüllt mit Hunderten geladenen Gästen, die Tische festlich gedeckt. Irgendwo ganz hinten sitzen Geiss’ Eltern, die Scheinwerfer sorgen dafür, dass sie sie kaum erkennen kann – im Gegensatz zur prominenten Jury des »Miss Germany«-Wettbewerbs, unter anderem besetzt mit Modelcoach Bruce Darnell und TV-Moderatorin Ruth Moschner. Kira Geiss ist eine der letzten zehn Kandidatinnen. Die Zwanzigjährige tritt an diesem Abend gegen Frauen wie Audrey Boateng an, die sich für die Black-Lives-Matter-Bewegung starkmacht. Oder die Transfrau Saskia von Bergen, die sich für die LGBTQI-Bewegung einsetzt. Kiras kurze Vorstellung klingt dagegen geradezu brav: Die damals noch angehende Gemeindepädagogin sagt, sie erwarte von der Demokratie, »junge Menschen so zu fördern, wie ich gefördert worden bin«. Sie erzählt von einer christlichen Jugendgemeinde, die sie in Magdeburg mitgegründet hat. Das ist ihr Thema an diesem Abend: Jugendarbeit. Denn der »Miss Germany«-Wettbewerb sucht laut den Veranstaltern seit 2019 nicht mehr das schönste Gesicht Deutschlands. Stattdessen ehrt er Frauen, die sich für relevante Themen einsetzen und unterstützt sie danach zwei Jahre dabei, ihre Ziele zu verwirklichen. 

Schon als Teenager muss sie sich neu finden.

Knapp zwei Stunden dauert die Veranstaltung, am Ende wird es ernst: »Kira Geiss«, ruft Moderatorin Frauke Ludowig ins Mikrofon und hinter ihr, ganz links auf der Bühne, bricht die Siegerin zusammen. Sie schlägt die Hände vors Gesicht, geht in die Knie, wedelt sich selbst Luft zu. »Ich habs nicht kommen sehen«, sagt sie heute, wenn sie an diesen Abend zurückdenkt. Noch bei der Generalprobe sei ihr nicht einmal ihr Alter mehr eingefallen. Und niemals habe sie gedacht, dass sie mit dem Thema Jugendarbeit und dann auch noch als bekennende Christin so einen Preis gewinnen könne. 

Vielleicht war sie an jenem 4. März trotz einem eigentlich wenig populären Thema auch deshalb erfolgreich, weil die Jugendarbeit nicht einfach irgendein Anliegen für sie ist. Es ist kein bloßes Hobby, das sie 2022 eine Gemeinde gründen ließ. Keine reine Leidenschaft, die sie Abende und Wochenenden mit Teenagern und jungen Erwachsenen über Gott und die Welt sprechen lässt. Ihr Einsatz speist sich aus eigener Lebenserfahrung. Denn es war jene christliche Jugendarbeit, die Kira Geiss vor ihrer Teilnahme bei »Miss Germany« neue Hoffnung gab. 

So jung, so kaputt

»Ich bin so früh, so jung, so kaputt gewesen«, beschrieb sie ihr Leben als Teenager einmal in einem Interview. Kaputt, was heißt das? Wenn man Geiss heute diese Frage stellt, beschreibt sie es so: »Ich war abhängig von Dingen, die mir nicht gut getan haben.« Dazu zählt sie Alkohol, Zigaretten, Meinungen von Menschen, die sie für ihre Freunde hielt, eine ungesunde Beziehung zu einem Jungen. 

Dabei hatte sie eigentlich die besten Voraussetzungen: Geiss kommt aus einem, wie sie es beschreibt, gesunden Elternhaus. Die Mutter übernahm die Care-Arbeit zu Hause, der Vater arbeitete als Pädagoge. Von Anfang an erzogen sie ihre Tochter zu Selbstständigkeit und ermutigten sie dazu, sich kreativ auszuleben. »Meine Eltern haben mich immer sehr, sehr fest geliebt«, sagt sie und lächelt, bevor sie nachdenklich hinzufügt: »Vielleicht zu sehr.« Denn sich geliebt zu fühlen, sei für sie eine Art Normalzustand gewesen. Wo immer sie diese Anerkennung nicht spürte, habe sie versucht, sie sich zu erarbeiten. »Ich war es einfach gewohnt, die wertvolle, tolle, geliebte Kira zu sein, dass ich nicht damit umgehen konnte, wenn ich mich mal nicht so gefühlt habe.« 

Diese Sehnsucht macht ihr das Leben in der Pubertät schwer. Sie wechselt die Schule, kapselt sich, wie die meisten Teenies, von den Eltern ab – und findet ihre erste große Liebe: den einige Jahre älteren Schülersprecher. Ihre beste Freundin ist viel allein zu Hause, trinkt schon Alkohol. Sie lässt sich mitziehen. Ein normales Wochenende sieht für Geiss so aus: Sie übernachtet bei ihrer Freundin, die Clique kommt dazu. Die Teenies spielen Flaschendrehen, trinken Cocktails, rauchen. Bekannte besitzen einen Bauwagen mitten im Wald, auch dort steigen oft Partys. »Wir haben uns einfach nur betrunken, viel gesprochen wurde da eigentlich nicht«, erinnert sie sich. Ältere Geschwister der Freunde versorgen sie mit Alkohol, die Nächte sind oft so wild, dass Geiss sich am nächsten Morgen an wenig erinnert. Sonntag gilt als »der Ausnüchterungstag«, es heißt, klar im Kopf und den Alkohol und Zigarettengeruch loszuwerden. Einmal riecht die Mutter trotzdem etwas, als Geiss nach Hause kommt. »Ich habe einfach die wildeste Lügengeschichte erzählt«, sagt Letztere und kann heute darüber schmunzeln. »Irgendetwas davon, dass ich die Kippe eines Freundes gehalten habe oder so.« 

Mit sechzehn merkt Geiss mehr und mehr, dass weder das Betrunkensein noch die Freundschaften sie glücklich machen. Niemand ist für sie da, wenn es ihr schlecht geht. Da ist keine emotionale Nähe in ihrem Freundeskreis, nur die Sehnsucht nach dem Rausch. An einem Silvesterabend kommt es zum Streit mit ihrem damaligen Freund. Er wird laut, schubst sie weg. Geiss ist vorsichtig mit dem Wort Gewalt, aber übergriffig erscheint ihr das Verhalten auf jeden Fall. »Ich fragte mich plötzlich: Sind das Menschen, die mir guttun?« Die Antwort gibt sie sich selbst: Nein. »Ich dachte, ich bekomme Liebe durch Kleidung, Alkohol und passendes Verhalten«, sagt sie und beschreibt genau jene Lüge, vor der sie die heutigen Teenies in ihren Social-Media-Videos warnt.

Ein Neustart mit sechzehn

So kommt es, dass Geiss sich schon als Teenager neu finden muss. Sie trennt sich von ihrem Freund und der Clique, zieht von zu Hause aus und beginnt eine Ausbildung als Gestalterin. Die ist anfangs anstrengend, genauso wie das Leben ohne die Eltern. Geiss ist völlig allein. Am Wochenende sitzt sie einsam auf der Couch, statt feiern zu gehen. »Ich habe viel geweint damals«, erinnert sie sich. In dieser Zeit begegnen ihr regelmäßig zwei alte Klassenkameradinnen. Im Bus auf dem Weg zur Arbeit unterhalten sie sich über dies und das. Immer wieder laden die beiden Geiss in ihren Jugendkreis ein. Die junge Frau lehnt jedes Mal ab. Mit Christen hat sie keinerlei Erfahrung, ihre Eltern haben sie nicht konfessionell erzogen. Das Bild in ihrem Kopf ist eindeutig: Kirchen sind kalt, trist, langweilig, es gibt Orgelmusik und eine kaum verständliche Sprache. Monate später sagt sie schließlich doch zu. Eine dreitägige Freizeit steht an und: Was hat sie schon zu verlieren? 

Im tiefsten Winter kommt sie mit dem Bus an der Unterkunft an. Mitten im Schneesturm, steht da der Jugendpastor, lächelt sie an, und sagt: »Kira, es ist so schön, dass du da bist!« Sie erinnert sich daran, als wäre es gestern gewesen. »Das war die Liebe, nach der ich mich all die Zeit gesehnt hatte! Niemanden dort interessierte, ob und wie viel ich trinke, wie ich in der Schule oder im Job bin, was ich anziehe. Die wollten einfach ihr Leben mit mir teilen.« Der Jugendpastor, zu dem sie sofort Vertrauen knüpft und der sie in den Monaten danach und bis heute begleitet, arbeitet mit ihr ihre wilde Jugendzeit auf. Er bietet ihr einen sicheren Ort fernab von Zuhause, Arbeit und Freundeskreis. Und er gibt ihr Raum für Kreativität. Gemeinsam mit ihrer Jugendgruppe baut sie die Jugendräume der Gemeinde um. 

Die Zeit in der Kirche gibt ihr Identität. Sie ist das erste Mal ganz bei sich. Doch nicht alle dunklen Flecken von früher verschwinden: Sucht sie heute, wo sie so oft im Mittelpunkt steht, noch nach Anerkennung? »Manchmal«, gibt sie zu. Doch sie habe einen gesunden Weg gefunden, damit umzugehen. Ein enger Kreis von Mentoren begleitet sie. »Ich weiß, diese Menschen lieben mich«, erklärt sie. Deshalb nimmt sie ihr Lob und auch ihre Kritik ernst, während sie die Worte der meisten anderen an sich vorbeigehen lässt. Diese Gruppe ist ihr Safe Space, während um sie herum die Socia-Media-Welt und die Medien brausen. 

Ausgabe 30

No Filter – Just Botox?

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Der Miss-Germany-Stempel

Und die toben bis auf Weiteres laut und deutlich. Denn Geiss ist auch nach dem Jahr als Siegerin von »Miss Germany« gefragt. Sie tritt als Speakerin zu den Themen Jugend und Digitalisierung auf. Für ein Projekt arbeitet sie sogar mit dem Bundesfamilienministerium zusammen, ist regelmäßig zu Gast im Bundestag. Sie ist Jugendbeauftragte eines kirchlichen Gemeindeverbands, wird aber auch von Unternehmen eingeladen, die von ihr hören wollen, wie die Zusammenarbeit zwischen der sogenannten Generation Z und den älteren Babyboomern gut funktionieren kann. Spricht man sie darauf an, sprudeln die Ideen aus ihr heraus: Begegnungsräume, Betriebsfreizeiten, Kommunikationsapps, Nachhaltigkeitsgremien, Feedbackkultur im Arbeitsalltag. Wo andere einen Generationenkonflikt sehen, sieht sie Chancen auf gegenseitige Bereicherung. 

Trotz der Ideen, dem Engagement und der Expertise trägt sie gelegentlich den Stempel des hübschen Dummchens. Das verdankt sie auch dem Image von »Miss Germany«, das sich erst langsam ändert. Nach einer Veranstaltung, bei der sie jüngst einen sechzigminütigen Vortrag hielt, kam etwa ein älterer Herr zu ihr und sagte: »Sie sind so hübsch, Sie müssen doch gar nicht für so große Inhalte stehen.« Geiss biss sich auf die Zunge. In den Monaten in der Öffentlichkeit habe sie unter anderem gelernt, sich zurückzuhalten und nicht jede Diskussion auszutragen. Sie ist sich allerdings sicher: Jeder sollte für die eigenen Ideen einstehen. Egal, ob Mann oder Frau, Christ oder nicht, alt, jung, groß, klein, dick, dünn, blond oder schwarzhaarig. Sogar dann, wenn die Augen mal müde sind, die Haut unrein ist oder ein Pickel auf der Nase wächst.

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Kira Geiss

Kira Geiss

Sie gewann 2023 den Wettbewerb »Miss Germany« und ist seitdem als Speakerin zu den Themen Jugendarbeit und Digitalisierung in Unternehmen, Schulen und Kirchen unterwegs. Geiss hat die Jugendgemeinde »Eastside« in Magdeburg mitgegründet und ist Jugendbeauftragte des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes. Nach einer Ausbildung zur Gestalterin für visuelles Marketing begann sie ein Studium der Religions- und Gemeindepädagogik, das derzeit ruht.