Rainer Flohr
Loslassen will gelernt sein
Dr. Rainer Flohr wollte nie ein Unternehmen besitzen. Dann kauft er eine Firma und führt das Geschäft aus dem drohenden Ruin zum Erfolg. Flohrs Leben ist ein Lehrstück im Loslassen. Und zeigt, warum der Job nie an erster Stelle stehen sollte. Nicht einmal für den Chef.
Es ist selten gut, wenn der Chef am Freitagnachmittag überraschend in sein Büro bittet. Dann kann es passieren, dass alles zusammenbricht, was bisher selbstverständlich war, dass Zukunftspläne bersten und Ängste hervorbrechen. So ging es Rainer Flohr an einem Freitag vor zwanzig Jahren. Gerade eben hatte er noch ein gutes Einkommen beim Büromaterialhersteller Herlitz in Berlin, hatte die Fertigung nach der Wende neu organisiert, eine Zweigstelle in Polen aufgebaut, war verantwortlich für 800 Mitarbeiter. Dann rief der Chef und sprach die Kündigung aus; Firmenausweis, Laptop, Schlüssel musste Flohr abgeben und sich vom Pförtner vor das Werkstor geleiten lassen. Eine Situation, so surreal wie man es sonst nur aus amerikanischen Filmen kennt. »Dem Unternehmen ging es nicht mehr gut, Kündigungen treffen dann auch mal das Management«, erzählt Flohr, und seine ruhigen Worte scheinen kaum zu dem Satz zu passen, den er hinterherschiebt: »Eine Kündigung traumatisiert.«
Drei Kinder hatte er zu versorgen, er war Alleinverdiener, eine Kündigung – trotz mehrmonatiger Kündigungsfrist – ging an die Existenz. Noch zwei weitere Male sollte ihn ein Chef in sein Büro rufen und die Kündigung aussprechen. Noch zwei weitere Male spürte Flohr dieses Gefühl des Scheiterns. Und doch war es im Nachhinein das Beste, was ihm passieren konnte. Jede Kündigung brachte ihn seinem Ziel näher. Und half ihm, als er schließlich vor der größten Entscheidung seines Lebens stand.
Rainer Flohr ist der jüngste Spross einer Unternehmerfamilie. Sein Vater leitete mit zwei Brüdern die Firma in einer Kleinstadt nahe Nürnberg, die der Urgroßvater einst gegründet hatte. Als Kind gurkte er mit dem Gokart durch die Werkshalle, atmete Staub und den Geruch von frischem Holz. Als Vierjähriger steckte er Schrauben in die Verkleidung neuer Bauwagen, die ein Arbeiter dann festzog. Eine Stunde pro Tag, 50 Pfennig Lohn, davon kaufte er sich ein Eis und war stolz auf seinen ersten Job. Das Familienunternehmen übernahm später der ältere Bruder. Flohr wollte Entscheidungen treffen, Verantwortung tragen, ein Unternehmen managen. Aber keines besitzen. Denn er wollte sich nicht mit Haut und Haar einer Firma verschreiben. Eigentlich.
Er studierte Maschinenbau und Fertigungstechnik in München, lernte seine Frau Vera im Posaunenchor kennen, beide fahren leidenschaftlich gern Ski, glauben an Gott, wünschten sich eine Familie – da gab es genug Gemeinsamkeiten und bald das erste Kind. Mit fünf Jahren Erfahrung als wissenschaftlicher Mitarbeiter für verschiedene Industrieprojekte, einem Doktortitel, seiner Frau und inzwischen drei Kindern zog Flohr ins frisch wiedervereinte Berlin, wurde Vorstandsassistent bei Herlitz. Briefumschläge, Geschenkpapier, Glückwunschkarten waren nun seine Welt. Es war der Beginn der klassischen Managerkarriere, in einer spannenden Zeit zwischen Systemzweifeln und Aufbruchsstimmung. Als die Subventionen für Maschinen nach der Wende wegfielen, stellte Flohr die Produktion von einer Schicht auf drei Schichten um, verkaufte überflüssige Maschinen.
Selbst wenn die Situation aussichtslos scheint, kann doch noch ein Großauftrag reinkommen.
Nun hätte sein Leben so verlaufen können wie viele Betriebskarrieren: Alle paar Jahre eine Beförderung, die Kinder gehen zur Schule und zum Sportverein, später zum Studieren, die Frau hält zu Hause die Stellung. Doch dann kam der Termin am Freitagnachmittag beim Chef.
In den Wechseljahren
»Ich bin danach direkt nach Hause gegangen und habe mit meiner Frau geredet«, erzählt Flohr. Sie kannte Veränderungen. Als Kind war sie mit ihren Eltern von Namibia nach Deutschland, dann nach Kanada, schließlich als junge Erwachsene wieder nach Deutschland gezogen. Sie sagte nur: »Wir kriegen das schon hin. Du warst dort doch sowieso nicht mehr zufrieden. Jetzt kommt etwas Besseres.«
Dass Krisen auch Geschenke bereithalten, hatte Flohr als Kind erlebt. Er erinnert sich an die Abende am Küchentisch, irgendwann Ende der 1960er-Jahre, als der Vater klagte, dass die Aufträge ausblieben, das Geschäft dem Ruin zuraste. Doch dann bebte in der Türkei die Erde, unzählige Menschen brauchten dringend eine Notbehausung, die Bundesregierung schickte Wohncontainer an den Bosporus, und die Firma Flohr (heute »Cadolto«) florierte wieder. »Das hat mich geprägt«, sagt Rainer Flohr, »selbst wenn die Situation aussichtslos scheint, kann doch noch ein Großauftrag reinkommen.«
Seinen Vater, den erfahrenen Geschäftsmann, konnte Flohr nach dem Rauswurf bei Herlitz nicht mehr um Rat fragen. Er war wenige Jahre zuvor gestorben. Stattdessen betete er. »Im Gebet kann ich meine Probleme ausformulieren, kann mir wieder Energie holen und nach vorn schauen«, erklärt er. Energie also für die Suche nach einer neuen Stelle und für eine der größten Herausforderungen, denen sich ein Familienvater stellen kann: den drei Teenagern zu Hause erklären, dass sie Freunde, Vereinskameraden und Mitschüler verlassen müssen. Denn eine neue Stelle fand Flohr in der Nähe von Bonn. Eine Zeit lang war er noch gependelt, stieg freitags in den Flieger nach Berlin, flog sonntags wieder zur Arbeit. Aber: »Ich hab nicht drei Kinder, damit ich sie nur am Wochenende sehe.«
Im Gebet kann ich meine Probleme ausformulieren, Energie holen und nach vorn schauen.
Es folgten Flohrs »Wechseljahre«, wie er sagt. Zehn Jahre voller Umbrüche. Abschiede kannten er und seine Familie schon. Er war oft auf Dienstreisen, flog nach Polen, Tschechien, China oder in die USA. Als seine Frau im Zimmer ihres Austauschschülers eine kleine Waage und weißes Pulver fand, konnte er sie nur am Telefon unterstützen. »Da war es schon blöd, dass ich nicht zu Hause war«, erinnert er sich. »Ich habe zu meiner Frau gesagt: Schmeiß alles ins Klo und spül es runter. Und sprich dann mal mit unserem Pfarrer darüber, was er in der Situation machen würde.«
Neben den kurzen Abschieden für Dienstreisen folgten wieder große Veränderungen. Von Bonn ging es fünf Jahre später zu einem Hersteller von Kupferlackdraht nach Niedersachsen, anderthalb Jahre später nach Bayern zu »Fränkische Rohrwerke«.
»Wenn mich einer fragt, wo bist du zu Hause, kann ich sagen: Wo meine Freunde sind.« Neue Freunde fanden Rainer und Vera Flohr im Posaunenchor, vor allem aber in der Kirche. »Egal, wo man hingeht, überall trifft man Christen«, sagt Flohr. »Man fängt nicht bei Null an, sondern hat direkt eine gemeinsame Basis.« Außerdem war jeder Neuanfang auch eine neue Chance. »Es macht Spaß, sich immer mal zu verändern und eingefahrene Muster zurückzulassen«, sagt er und spricht auch für seine Frau. »Wir konnten uns wieder neu entdecken.«
Dann waren sie also in Bayern. Hier wollte Flohr eigentlich bis zur Rente bleiben, hier trug er endlich die Verantwortung für den gesamten Betrieb, war Geschäftsführer einer Tochtergesellschaft dieses Familienunternehmens, in dem zehn Menschen, Cousins und Cousinen, Anteile hielten. Als die allmählich ihre Anteile verkaufen wollten, erlebte Flohr zum ersten Mal, wie das funktioniert, wenn so ein Unternehmen den Eigentümer wechselt. Wie wichtig diese Erfahrung sein würde, konnte er nicht ahnen. Und dann wurde ihm auch dort gekündigt.
»Ich habe mich öfter gefragt: Was soll denn das schon wieder, warum flieg ich jetzt da schon wieder raus?«, erinnert er sich, haderte mit Gott und sich selbst.
Aber nicht lange. Karriere, Umzüge, Dienstreisen – auch wenn sich vieles in Flohrs Leben um den Job zu drehen scheint, steht der doch erst an dritter Stelle. »Das Wichtigste in meinem Leben ist die Beziehung zu meinem Schöpfer und seinem Sohn Jesus«, sagt Flohr. »An zweiter Stelle kommen meine Frau und meine Familie.« Ein Glaube von Kindheit an, 35 Jahre Ehe – das sind bei allen Umbrüchen und Veränderungen die Konstanten in seinem Leben. Und da, betont er, fielen die Wechsel im Job letztlich nicht schwer.
Das Wichtigste in meinem Leben ist die Beziehung zu meinem Schöpfer und seinem Sohn Jesus.
Ein Wagnis und seine Folgen
Und dann ging alles ganz schnell: 2008 fing er bei einem mittelständischen Unternehmen in Wipperfürth als Geschäftsführer an. In den Fertigungshallen von HEW-Kabel werden Kupferadern mit Silikon oder Teflon umhüllt, robust und hitzebeständig; die Kabel verbinden in Arztpraxen Fingersensoren mit Pulsoximetern, führen am Auspuff von Autos entlang, überall wo es heiß und fettig ist, werden Kabel von HEW verbaut.
Nur einen Monat später gingen die Aufträge massiv zurück, die Wirtschaft hatte sich in der Lehman-Pleite verfangen. Spezialkabel für die Industrie, für Roboter-, Automobil- und Medizintechnik wurden plötzlich nicht mehr gebraucht. Der Eigentümer, ein US- amerikanisches Unternehmen, wollte die deutsche Firma loswerden, Rainer Flohr sollte einen Käufer suchen. Oder das Unternehmen selbst kaufen.
Selber kaufen? Wo doch sonst mitten in der Krise niemand Interesse an der Firma hatte? »Das war ein Wahnsinnsrisiko«, erinnert sich Flohr. »Es wusste ja keiner, wie lang die Krise noch dauern würde.«
Flohr tat, was er immer getan hat in schwierigen Momenten: Betete. Er sprach mit seiner Frau. Und handelte. Bei seinem letzten Job hatte er ja gelernt, wie ein Unternehmen verkauft werden kann. Er heuerte Rechtsanwalt und Wirtschaftsprüfer an, stellte ein Team aus Spezialisten zusammen. Er wusste, wenn er nicht kauft, wird die Firma entweder aufgelöst oder es findet sich doch noch ein Käufer, der vielleicht einen eigenen Geschäftsführer mitbringt. Es ging also auch darum, den eigenen Job zu retten. Und schließlich waren die Verhandlungen und Beratungen so weit fortgeschritten und trotz der Krise ein Kreditgeber gefunden, dass Flohr eines Abends zu seiner Frau sagte: »Wir machen es!« Da war er noch kein Jahr Geschäftsführer gewesen.
2008 verzeichnete die Firma noch 2,5 Millionen Euro Verlust, 2009 stand unter dem Strich schon eine schwarze Null. Dann ging es immer weiter bergauf. In den folgenden Jahren verdoppelte Flohr den Umsatz und die Zahl der Mitarbeiter. In der nächsten Krise – der sogenannten Flüchtlingskrise – ging er mit gutem Beispiel voran und beschäftigte Geflüchtete aus Syrien.
Jeden Tag ab acht Uhr morgens drehte er seine Runde durch die Fertigungshalle, entgegen dem Wertstrom, vom fertigen Kabel bis zur blanken Kupferader. Wie ein Arzt, der zur Visite von Patient zu Patient geht und Fieberkurven studiert. Er checkte Produktionszahlen und Berichte, gratulierte zu runden Geburtstagen, schüttelte Mitarbeitern die Hand, wenn sie nach langer Krankheit wieder da waren. Das war ihm wichtig: dass alle Mitarbeiter, von der Maschine bis zum Chefbüro, motiviert sind, Probleme ehrlich ansprechen, Ideen wagen. Dass sich alle mit der Firma identifizieren. So hatte er es von einem Chef und Mentor bei Herlitz gelernt, so wollte er auch seine eigene Firma führen. Obwohl er eigentlich nie geplant hatte, einmal eine Firma zu besitzen.
Ich habe die Firma verkauft, damit sie weiterentwickelt werden kann.
Rainer Flohr war zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen. Mit dem richtigen Wissen, das er all seinen vorherigen Jobs verdankte. Als sei sein bisheriger Berufsweg eine gründliche Ausbildung zum Firmeninhaber gewesen. Die Kündigungen, die Umzüge, die vielen Abschiede – hier in Wipperfürth fügte sich alles zusammen. »Es war für mich genau die Funktion, die mich total ausfüllt. Weil ich ein Mensch bin, der gern allein Entscheidungen trifft. Und auch gern Verantwortung übernimmt.«
Es geht weiter
Doch wer zupackt, muss auch loslassen können. Die Firma wuchs, die Aufträge kommen nun aus Übersee, aus China und den USA. Und sie soll weiterwachsen, aber Flohr nicht über den Kopf. Deswegen gibt er ab. Stellt wieder ein Team aus Wirtschaftsprüfer, Anwalt und anderen Experten zusammen – und verkauft das Geschäft, früher als es seine Mitarbeiter erwarten. Den Käufer wählt er sorgfältig aus: Er sollte alle Arbeitsplätze erhalten, den Standort Wipperfürth bewahren, aber auch neue Standorte aufbauen, das Unternehmen international aufstellen.
»Ich habe die Firma verkauft, damit sie weiterentwickelt werden kann«, sagt der Geschäftsmann. Zugegriffen hat ein solider österreichischer Finanzinvestor. Einer, so hofft Flohr, der HEW auch als die Perle erkennt, zu der Flohr es gemacht hat.
Wieder einmal traf Flohr eine Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt. Er hatte während einer Krise übernommen, und gibt kurz vor der nächsten die Firma ab.
»Ich sage jeden Tag mindestens einmal zu meiner Frau: Ich bin so froh, dass ich die Firma verkauft habe.« Er ist gerade aus Österreich zurückgekommen, wollte eigentlich Ski fahren. Nach zwei Tagen wurden er und seine Frau wegen der Coronakrise zurückgeschickt. Nun sitzt er in Quarantäne, hält Telefonkonferenzen, überprüft Auftragseingänge und Umsätze vom heimischen Computer. Der neue Geschäftsführer hat inzwischen übernommen, Flohr kümmert sich im Homeoffice um die Übergabe der Firma. Dann ist er raus. »Die Zeit nach Corona wird eine Mammutaufgabe werden«, sagt er und ist erleichtert, dass diese Verantwortung nicht mehr auf ihm lastet. Für ihn steht nun die Zeit nach dem Beruf an. Und damit mehr Zeit für die bald fünf kleinen Enkel, für Sport und Trompete. Für die Kirchgemeinde und für seine Frau. Was bisher an erster Stelle stand, bleibt auch dort. Da fällt es leicht loszulassen.
Rainer Flohr
Dr.-Ing. Rainer Flohr wurde im August 1960 als jüngstes Kind einer Unternehmerfamilie geboren. Er wuchs in Cadolzburg direkt neben der Fabrik seines Vaters auf. Flohr studierte, heiratete und bekam drei Kinder. Die Familie zog kurz nach der Wende nach Berlin, wo Flohr bei Herlitz als Vorstandsassistent arbeitete. Zehn Jahre später wurde ihm gekündigt. Wiederum zehn Jahre später, nach einigen Jobwechseln, kaufte er in einem Management-Buy-out die Firma HEW-Kabel und entwickelte sie aus der Wirtschaftskrise heraus zu einem florierenden Unternehmen.