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Éric-Emmanuel Schmitt

Monsieur Ibrahim und sein Wunder

Inmitten der Sahara erlebt der Bestsellerautor Éric-Emmanuel Schmitt einen »Moment blinden Vertrauens«, der sein Weltbild auf den Kopf stellt. Nach dreißig Jahren kann er darüber sprechen.

Jo Berlien
Jo Berlien
7 min

Vielleicht ist es vermessen, von Gottes Plan zu reden. Seien wir also so vermessen, und reden einen Augenblick vom Plan, den Glauben einzupfropfen in einen jungen Mann, der sich mit Philosophie beschäftigt und eigentlich Theaterstücke schreiben will. Stattdessen sollte er plangemäß seinen Glauben an die Öffentlichkeit tragen. Dächte sich ein zeitgenössischer Schriftsteller diese Geschichte aus, würde er die Gotteserfahrung des jungen Mannes in einem Bahnhofs-WC verorten, in einem Bordell oder auf stürmischer See, in einem Flüchtlingsboot.

Durchbruch in Windeseile

Tatsächlich aber trug sich die Geschichte wie das Damaskus-Erlebnis des Apostels Paulus in der Wüste zu. Darauf kommen wir gleich zurück. Nach jener Nacht in der Wüste lehrte unser junger Mann, den seine Eltern atheistisch erzogen hatten, als promovierter Philosoph noch eine Weile an der Universität. Bald schaffte er es binnen fünf Jahren zum erfolgreichsten Bühnenautor seines Landes. Heute ist er, wie er auf seiner Website selbstgewiss schreibt, »einer der weltweit meistgelesenen und meist gespielten französischsprachigen Schriftsteller«. Der Plan ist zur Hälfte aufgegangen: Éric-Emmanuel Schmitt hat den Durchbruch geschafft – auch im deutschsprachigen Raum. Seine Stücke werden in fünfzig Ländern aufgeführt, regelmäßig heimst er Auszeichnungen ein. 2004 erhielt er den Publikumspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, 2005 in der Schweiz den Prix Chronos. Gewiss, er musste auch einstecken. Die Literaturkritik lässt ihn als Literaten ungern gelten, mokiert sich über sein »chronisches Sendungsbewusstsein«, nennt seine Prosa »Erbauungsliteratur« und staunt gleichzeitig über Schmitts Gabe, große Themen leicht anzugehen. Das prädestiniert ihn, wie die Tageszeitung »Die Welt« schreibt, zum »konsensfähigen Publikumsliebling«.

Doch Schmitt ist keiner, der mit seinem Glauben hausieren ginge. »Ich bin nicht ansteckend! Ich will nicht, dass alle so denken wie ich, auf gar keinen Fall!«, sagt er. Das klingt so kokett wie amüsant und weist Schmitt nebenbei als guten Erzähler aus, der ohne Erweckungserlebnis womöglich am Philosophischen Seminar der Universität von Chambery versauert wäre.

Zwischen Felsen und Geröll

Schmitt war 28 Jahre alt, als er sich am 4. Februar 1989 im algerischen Ahaggar-Bergland, 2000 Kilometer südlich von Algier, inmitten der Sahara, von seiner Reisegruppe absonderte. Zwischen Felsen und Geröll verlief er sich und brachte die bitterkalte Nacht in einer Sandkuhle zu. Er war sicher, er würde sterben. »Aber«, sagt er, »es kam ein anderer Moment. Ein Moment absoluten Vertrauens – in Leben und Tod.«

Alles wollte ich durch den Verstand beherrschen. Bis ich mich plötzlich unendlich schwach fühlte.

Die Jahre zuvor hatte er das Leben eines mitteleuropäischen jungen Mannes gelebt. Er war ein Grübler, las Nietzsche, Sartre und Freud, dann Descartes, Leibnitz und Pascal, wandelte sich vom Atheisten zum Agnostiker, setzte sich in seiner Dissertation mit Diderots Beschäftigung mit der Metaphysik auseinander. Was aber war da los in jener Februarnacht in der Sahara? In wenigen Interviews spricht Schmitt offen darüber: »Ich war ein Intellektueller. Jemand, der alles beherrschen wollte durch seinen Verstand.« In jener Nacht habe er sich von diesem Ego gelöst, sein Wesen sei aus der menschlichen Hülle herausgetreten und zu einer Macht geführt worden, die er später Gott genannt habe. »Plötzlich war ich unendlich schwach. Wenn ich nicht diese Schwäche gehabt hätte, wo hätte dann Gott eintreten können?«

Ich habe versucht, diese Nacht zu leugnen und sie auf ein psychologisches Phänomen zu reduzieren.

All das hat er viele Jahre für sich behalten. Frankreich ist ein laizistisches Land, Religion Privatsache. »Ich habe lange geglaubt, dies sei eine sehr persönliche und einmalige Erfahrung gewesen, die niemanden etwas angeht. Ich habe viel Zeit gebraucht, um dieser Gnade Raum zu geben. Es hat noch Jahre gedauert, bis ich der gläubige Mensch wurde, der ich nun bin.« Auch die Zeiten waren nicht danach: Nach 1989 kollabierte die Sowjetunion und schien Platz zu machen für eine Ära des ewigen Friedens. Der Balkankrieg war grausam und blutig. Aber in den unbeschwerten Neunzigern, mit DJ Bobo, Dr. Motte und DJ WestBam als charismatischen Anstiftern massenhafter Loveparade-Verzückung, dachte kein Mensch an eine neuerliche Frontstellung von Christen und Muslimen, wie sie 2001 dank medialer Verstärkung brutal losbrach.

Twin Towers 9/11

Éric-Emmanuel Schmitt schwieg. Bis zum 11. September 2001, dem Tag, an dem Terroranschläge das World Trade Center zerstörten. »Was mich letztlich in Schwung brachte, war die Gewalt, eine Welt voll Lärm von Dummköpfen, die im Namen Gottes töten, morden und vergewaltigen.« Also schrieb er an gegen die Dummheit, veröffentlichte Stücke und Bücher über die Weltreligionen, die gute Botschaft Gottes und darüber, wie alles gekommen wäre, hätte die Wiener Kunstakademie den Studenten Adolf Hitler nicht abgelehnt.

Credit: AF archive / Alamy Stock Photo
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Ungleiches Gespann: Zwi-schen dem jüdischen Jun-gen Moses und dem ara-bischen Händler Ibrahim – verkörpert durch Omar Sharif – entsteht eine Freundschaft. Der Film »Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran«, 2003, heimst Preise ein.

Atheismus wäre bequemer

Obschon ein Schriftsteller immer aus eigenem Erleben schöpft und für eine gute Geschichte im Zweifel die eigene Großmutter verkauft, veröffentlichte er erst 2017 »Die Nacht des Feuers«. Das Buch ist kein Roman, es ist die Schilderung von Schmitts Gotteserfahrung. Die Reaktionen darauf waren so, wie Gläubige sie gut kennen: Glaube wird nicht einfach hingenommen, geglaubt und respektiert.

Schmitt sagt: »Ich habe x-mal versucht, diese Nacht zu verleugnen und sie nicht als das zu sehen, was sie wirklich war, nämlich ein mystisches Erlebnis, eine Begegnung mit Gott. Ich habe versucht, meine Erfahrung auf ein natürliches oder psychologisches Phänomen zu reduzieren. Keiner dieser Einwände ist haltbar. Chemische oder naturwissenschaftliche Erklärungen genügen nicht. Und die psychologischen Erklärungsversuche stehen auf noch schwächeren Füßen.«

Über eine solche Erfahrung, sagt Schmitt, könne man nur Zeugnis ablegen. Aber bereits die Sprache tauge nicht, das Erlebte verständlich zu machen. »Die vorherrschende Sprache ist materialistisch, pragmatisch, rational. Sie beruht auf dem intellektuellen Vorurteil, dass der Glaube altmodisch sei. Dass der Fortschritt der Zivilisation darin bestehe, sich der Religion zu entledigen und auf eine wirklich atheistische Gesellschaft hinzusteuern. Diese Philosophie behauptet, dass es ein Zeitalter der Vernunft gegeben habe und dass die Moderne ein Zeitalter des Atheismus sei. Das erscheint mir als vollkommene Dummheit.«

Bequemer, sagt Schmitt, wäre es gewesen, Atheist zu bleiben. »Das war aber nicht mehr möglich. Das Problem einer Offenbarung ist ja, dass sie eine Revolution ist. Das Spiel ist zu Ende. Man muss die Karten neu mischen und neu lernen zu spielen.« Man lerne die andere Seite kennen und habe als einstiger Atheist und Agnostiker das gesamte Arsenal an Argumenten und Gegenargumenten parat. Für den zum Christentum bekehrten Philosophen Schmitt war es eine intellektuelle Freude, über den Glauben zu disputieren. »Leuten, die mir widersprachen, habe ich gesagt: ›Ihr wollt nicht zugeben, dass es möglich ist zu glauben? Ihr meint, dass das Leben des Geistes tot ist, dass man im spirituellen Leben keine Überraschungen mehr haben kann? Woher wisst ihr das? Und wenn ihr es nicht wisst, warum haltet ihr krampfhaft an dieser Illusion fest?‹«

Monsieur Ibrahim in Tel Aviv

Gleichwohl ist Schmitt zu klug, um sich auf Streitgespräche einzulassen, die nicht zu gewinnen sind. Als Autor hat er andere Möglichkeiten. Zwei Jahre nach dem 11. September 2001 startete die Roman-Verfilmung »Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran« in den Kinos: Ein jüdischer Junge schließt Freundschaft mit einem arabischen Ladenbesitzer, gemimt von Omar Sharif. Schmitt erklärte Roman und Film so: »Meine Absicht ist, Menschen verständnisvoller, offener zu machen. Wenn das Wort ›Islam‹ erklingt, fangen alle an zu zittern. Angst beruht auf Ignoranz. Romane bekämpfen Ignoranz.« Kurz darauf spielte ein Theater in Tel Aviv »Monsieur Ibrahim« abwechselnd einen Abend auf Hebräisch und auf Arabisch. Schmitt: »Literatur hat keinen Nutzen. Aber man kann sie benützen. Ich liebe die Weise, wie sie hier benutzt wurde.«

Unsere Zeit macht den Glauben schwierig – aber auch nötiger denn je.

Da blitzen sie wieder auf, die Eleganz und der Humor, die Schmitt zu einem viel gelesenen Autor machen und seine oft holzschnittartigen Antagonismen unterhaltsam abfedern. Nimmt man ihn beim Wort, verrichtet der Schriftsteller sein Tagwerk getreu dem alten Pfadfinder-Motto: Jeden Tag eine gute Tat. Seit 2001 hat er beinahe jährlich ein Buch veröffentlicht und zwischendurch ein Theaterstück. Und oft schimmert sein Glaube durch: »Unsere Zeit macht den Glauben schwierig, aber auch nötig. Jesu Lehren sind ein Bollwerk gegen eine materialistische Welt, die sich vor allem fürs Geld interessiert. Sie sind heute nötiger denn je.« Irgendwie ist der Plan doch noch aufgegangen.

Éric-Emmanuel Schmitt

Éric-Emmanuel Schmitt

Sein Vater war französischer Boxmeister, seine Mutter Läuferin. Éric-Emmanuel Schmitt (59) hat es mehr mit dem Denksport. Die Bücher des Doktors der Philosophie, der sich nebenbei zum Pianisten ausbilden ließ, liegen in 43 Sprachen vor, seine Theaterstücke werden in über 50 Ländern aufgeführt. Den großen Durchbruch schaffte er mit seinem Stück »Der Besucher« (1993). Rasch folgten weitere Werke – und unzählige Auszeichnungen aus verschiedenen Ländern. Zum Beispiel bei der Verfilmung seines Romans »Oscar und die Dame in Rosa« (2009) führte Schmitt auch Regie.