Miriam Bernales-Kühni mit ihrem Kind auf dem Rücken.
Roland Juker
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Miriam Bernales-Kühni

Reiseleiterin zur Hoffnung

Gewalt, Drogen, Armut: Kein Tourist, nicht einmal ein Polizist, besucht freiwillig den Slum von Ventanilla in Lima. Doch ausgerechnet dort ist die Schweizerin Miriam Bernales-Kühni hängen geblieben – und hat ein Hilfswerk aufgebaut, das der Not vor Ort nachhaltig begegnet.

Pascal Hügli
Pascal Hügli
10 min

Ein etwas mulmiges Gefühl hatten wir schon, als wir an diesem Samstagnachmittag unser Uber-Taxi in Lima bestiegen. Nicht etwa wegen Uber – der Online-Fahrdienst gilt auch in Südamerika als sicher und die Fahrer sind überaus freundlich. Vielmehr machte uns zu schaffen, dass die App große Mühe bekundete, eine Fahrgelegenheit zu finden, die uns aus der Stadt hinaus in die anliegende Grenzregion von Perus Hauptstadt bringen würde. War es die Distanz von bis zu einer Stunde, welche die Fahrer abschreckte? Oder doch eher der Umstand, dass wir in die heruntergekommene Slumgegend von Ventanilla wollten – ein Vorort Limas, der wie alle Armenviertel als gefährlich gilt und daher von Touristen, Polizisten und auch Uber-Chauffeuren für gewöhnlich gemieden wird? Wir wussten es nicht. Als uns die Applikation dann nach dem fünften Versuch endlich einen Fahrer zuteilte, hatten wir keine andere Wahl als einzusteigen. Denn in Ventanilla wurden wir bereits erwartet.

 Während unserer Fahrt entlang der Pazifikküste klärte uns der Fahrer über den eigentlichen Grund auf: Fahrten würden vor allem dann abgelehnt, wenn die Bezahlung nicht bar, sondern über die Kreditkarte erfolge. Obschon uns diese Antwort einleuchtete – immerhin verfügt man sofort über Bargeld und muss nicht tagelang darauf warten –, vermochte sie die Zweifel über unseren Ankunftsort nicht gänzlich aus der Welt schaffen. Denn mit jedem zurückgelegten Kilometer wurde die Gegend sichtlich ärmer.

In Ventanilla angekommen, wollte uns unser Uber-Fahrer nicht einfach auf die Straße stellen. So fragte er nach der ganz genauen Adresse, wo uns schließlich – zu unserer Erleichterung – ein vor einem eisernen Tor stehender junger Peruaner herzlichst in Empfang nahm.

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Alle Wege führen nach Lima

Ähnlich wie uns muss es Miriam Bernales Pinedo-Kühni ergangen sein, als sie die Slums von Ventanilla zum ersten Mal besucht hatte. Heute lebt die gebürtige Schweizerin bereits seit sieben Jahren als Entwicklungshelferin in diesem Armenviertel. Zusammen mit ihrem Mann Carlos hat sie die Estación Esperanza gegründet – ein Hilfswerk, das Menschen vor Ort praktisch hilft und damit mehr als nur Hoffnung spendet.

»Den Entschluss, mich in Peru für benachteiligte Menschen einzusetzen, fasste ich während meiner Bibelschule in Kolumbien«, sagt die heute 35-Jährige. Von klein auf hatte sie einen Wunsch: Missionarin zu werden. Während sich andere eine Stereoanlage oder eine Städtereise für die Konfirmation auf den Wunschzettel schrieben, wünschte sich Miriam Geld, um mit ihrem Vater eine Missionarin in Uganda zu besuchen. »Nach meinem Besuch in Afrika war für mich klar, dass meine Bestimmung die Mission sein wird«, erinnert sie sich: »Mich faszinierten ferne Länder – und ich hatte den Wunsch, Menschen von Gottes Liebe zu erzählen.«

Ihren ersten Abstecher in die Armenviertel von Lima machte Miriam, als sie nach Abschluss ihrer KV-Lehre bei einem Reisebüro für sechs Monate im US-amerikanischen Tourismusbereich arbeitete. In einem Kinderheim in Peru merkte sie vor allem eines: »Dort wird man gebraucht.« Noch wollte sie sich aber in Lima nicht niederlassen. Auf Ratschlag ihrer Eltern kehrte Miriam in die Schweiz zurück und absolvierte ein Studium in sozialer Arbeit an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW.

Die Vorzeichen für die Liebe standen schlecht.

Bereits eine Woche nach Semesterstart wurde die junge Frau erneut mit Peru konfrontiert: Die Studierenden erhielten die Möglichkeit, ein Praktikum in Lima zu absolvieren. »So landete ich ein Jahr nach Beginn des Studiums wieder in der südamerikanischen Großstadt und arbeitete in einem von der Hochschule vermittelten Projekt«, erklärt Miriam. 

Der Hahn kräht und die Liebe ruft

Dies war auch die Zeit, als sie ihren heutigen Ehemann, den Peruaner Carlos, kennenlernte. Er wurde ihr empfohlen, als sie in der Jugendgruppe ihrer Kirche in Lima nach jemandem fragte, der die Begleitung eines Straßenjungen übernehmen könnte, nachdem Miriam zurück in der Schweiz sein würde.  

»Zu Beginn war Carlos vor allem Mittel zum Zweck«, sagt Miriam. »Vier Jahre lang kommunizierten wir über das Internet, damit ich den Kontakt zu den Straßenkindern halten konnte.« Sie hatte keine Ahnung davon, dass Carlos schon damals davon träumte, Miriam einmal zu heiraten. Seinen Freunden erzählte er jeweils, dass er nach Hause müsse, um mit seiner zukünftigen Frau zu telefonieren, wie ihr Carlos später beichtete. Bei Miriam funkte es erst, als sie vor dem Antritt ihrer Bibelschule in Kolumbien auf der Durchreise die ihr ans Herz gewachsenen Straßenkinder in Lima erneut besuchte. Doch standen die Vorzeichen vorerst erdenklich schlecht. Nicht nur wurden die ersten Gefühle zwischen den beiden durch den mehrmonatigen Bibelschulaufenthalt in Kolumbien unterbrochen. Auch die Tatsache, dass Miriam bereits einen Rückflug in die Schweiz für die Zeit nach der Bibelschule gebucht hatte, deutete wenig auf eine gemeinsame Zukunft hin.

Der Aufenthalt in Kolumbien erwies sich dann aber als wegweisend. Miriam beeindruckte, dass Carlos von einem Besuch bei ihr absah und anstatt um sie zu kämpfen, sein Vertrauen vollends auf Gott setzte, wie er es sagte. Eines Morgens las sie in der Bibel die Geschichte von Petrus. Dieser leugnete dreimal, dass er zu Jesus’ Anhängern gehörte – und als Warnzeichen krähte jeweils der Hahn.

Genau als Miriam diese Textstelle las, hörte sie ebenfalls einen Hahn krähen. »In diesem Moment war mir klar: Wenn ich nicht nach Lima in die Mission gehen würde, dann würde ich meine Bestimmung genauso verleugnen«, erinnert sie sich. Diese Begegnung bestärkte sie in ihrer Entscheidung, sich auf Carlos einzulassen und in Lima zu wohnen.

Naemi Hügli
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Von der Goldküste in die Slums

Die ambitionierte Schweizerin tauschte also ihren schönen Wohnort Stäfa an der Goldküste des Zürichsees gegen das feuchte und neblige Armenviertel in Ventanilla. Auch ihren gut bezahlten, sicheren Job ließ sie hinter sich, um in den unsicheren, korruptionsgetränkten Slums von Lima Hoffnung zu säen. Aber sie weiß: »Heute bin ich an dem Ort, wo Gott mich haben möchte. So viel ist sicher.«

Als wir die verschiedenen Standorte von Estación Esperanza in den Slums besuchten, durften wir erleben, wie Miriam und Carlos konkret für Hoffnung sorgen. Mit dem Auto fuhren wir in einen Ortsteil namens »Mi Peru«, wo samstagnachmittags gerade das Kinderprogramm mit Dutzenden von Kindern aller Altersklassen stattfand. Nach anfänglicher Vorführung mit Unterhaltungscharakter und Bibelhintergrund wurden die Kinder dem Alter nach in Gruppen aufgeteilt. Danach spielten, malten und aßen sie gemeinsam.

Derweil versammelten sich viele Mütter der Kinder um einen Tisch. Carlos vermittelte ihnen Erziehungstipps. Wie verkörpere ich glaubwürdige Autorität? Wie gehe ich gleichzeitig liebevoll mit meinen Kindern um? Und wie agiere ich als Vorbild für sie? Praktische Themen, die vielen im Westen als selbstverständlich erscheinen, werden von Carlos und Miriam regelmäßig gelehrt. Ihre Devise: Kinder lernen zu lernen – und ihre Eltern auch. »Durch die Elternarbeit mit Estación Esperanza verbessern wir das familiäre Umfeld zu Hause, was wiederum mehr Lebensqualität für die Kinder bedeutet«, sagt Miriam.

Kinder und Eltern sollen lernen zu lernen.

Stattgefunden haben das Kinderprogramm und Elterncoaching in einem halbfertigen Rohbau, der zu einem Kindergarten und Schule mit Seminarräumen, Unterkünften und Garten werden soll. Bis jetzt stehen ein erdbebensicheres Fundament, Säulen, Decke und eine rundum abgeschlossene Mauer. Letztere ist besonders wichtig, denn sie signalisiert nicht nur, dass das Landstück Estación Esperanza gehört, sondern bietet auch effektiven Schutz vor unrechtmäßigen Landbesetzern. Wie uns Bernales-Kühni berichtet, gibt es hiervon eine jede Menge, zumal sich Eigentumsrechte kaum durchsetzen lassen.

Erworben hatten Miriam und Carlos das Grundstück bereits 2019. Als sie jedoch mit der Umsetzung ihrer Pläne beginnen wollten, wurden ihnen etliche Steine in den Weg gelegt. Eineinhalb Jahre vergingen, ehe das Projekt von der Slum-Gemeindeverwaltung mit einem offiziellen Bauverbot belegt wurde. Doch die Estación Esperanza würde nicht Station Hoffnung heißen, wenn Miriam, Carlos und das gesamte Team nicht weiterhin gehofft hätten. Und siehe da: Nach etlichen Gebeten und Fastenzeiten kam urplötzlich der etwas unkonventionelle Durchbruch: Der damalige Gemeindepräsident erlag den Folgen von Corona und mit seinem unverhofften Ableben wurde der Bau auf einmal möglich. »Etwas später fanden wir heraus, dass der verstorbene Gemeindepräsident persönlich an unserem Landstück interessiert war und drauf und dran war, es sich unter den Nagel zu reißen«, berichtet Miriam.

Die Baumafia will »helfen«

Nur wenige Wochen später erhielten Miriam und Carlos eine offizielle Genehmigung, die sie zum Bau berechtigte. Doch in Ventanilla gilt: Nach der Herausforderung ist vor der Herausforderung. Bald einmal stand die Baumafia vor der Tür der Bernales. »Uns wurde die Forderung gestellt, Arbeiter der Baumafia bei unserem Projekt mitwirken zu lassen. Würden wir das nicht tun, müssten Unschuldige sterben«, entsinnt sich Miriam.

Einmal mehr waren Miriam und Carlos vor eine schwierige Entscheidung gestellt: Die Korruption dulden oder das Risiko von Waffengewalt in Kauf nehmen? Ausnahmsweise entschieden sich die beiden, der Baumafia Geld zu bezahlen, um keine Menschenleben zu gefährden. »Wir mussten weniger hinblättern, als ursprünglich angedroht. Und doch galt es, das Vertrauen zu erkaufen«, meint Miriam. Überhaupt habe sie in Peru gelernt, den Menschen nicht mehr zu vertrauen – was man in der deutschsprachigen Hochvertrauenskultur nur schwer nachvollziehen kann. 

Angesichts von Baumafia, fehlender Verbindlichkeit, Korruption und Willkür brennt uns eine Frage unter den Fingernägeln: Was motiviert Miriam Bernales-Kühni, ihrer Berufung treu zu bleiben? »Es sind die vielen ›kleinen‹ Situationen, die mir immer wieder Kraft geben. Zum Beispiel, wenn wir den Kindern mit unserer Arbeit ein Lächeln ins Gesicht zaubern können. Gelingt es uns, sie positiv zu prägen, können sie diese Prägung auch wieder weitergeben. So schaffen wir die nötige Kettenreaktion, um großflächig Veränderung zu bewirken«, antwortet Miriam.

Carlos ist in den Slums aufgewachsen. Das hilft.

Schon ganz am Anfang ihrer Tätigkeit nahm das Ehepaar drei Mädchen auf, mit denen sie nach all den Jahren sehr viel verbindet. Diese und ihren Sohn Mael, der im September 2021 zur Welt kam, erlebt das Paar als großes Geschenk. Bei den Mädchen sei der Fortschritt am augenfälligsten. »Anstelle von mehreren unehelichen Kindern, wie es ihre Mutter in ihrem Alter hatte, studiert die älteste unserer Mädels heute Psychologie und verbringt gerade ein Austauschjahr in den USA als Au-pair«, freut sich Miriam. 

Für die Zukunft haben Miriam und Carlos mit Estación Esperanza unentwegt ihre Vision vor Augen. Getreu ihrem Logo – einer grell scheinenden Sonne mit Zapfsäule in der Mitte – wollen sie die Menschen vor Ort mit Hoffnung und Perspektive auftanken. Konkret geht es ihnen darum, sie Eigeninitiative zu lehren, damit sie ihr Leben selbst gestalten können. »Der Schlüssel dazu ist Bildung. Bei ihr können wir ansetzen, weil Bildung in den Slums mit Prestige verbunden ist«, versichert Miriam. Das ist auch der Grund, weshalb sie dabei sind, eine eigene Schule zu sozialen Preisen auf die Beine zu stellen. Dabei hilft ihnen nicht zuletzt die Geschichte Carlos. »Mein Mann ist in den Slums groß geworden. Seine ältere Schwester hat ihm finanziell das Studium ermöglicht. Sein Beispiel ist der lebendige Beweis dafür, dass, wer in den Slums auf die Welt kommt, weder in der Kriminalität noch in den Drogen enden muss«, erklärt Miriam.

Der Mensch denkt – Gott lenkt

Als sich unser Tag in den Slums dem Ende zuneigt, sind wir beeindruckt von dem, was Miriam und Carlos mit ihrem Team im Armenviertel von Ventanilla aufgebaut haben. Klar, dass ein solches Vorhaben nicht ohne Finanzen möglich ist. »Begonnen haben wir mit einem Freundeskreis. In den ersten Monaten reichte das Geld kaum. Ich stand mehrmals kurz davor, aufzugeben«, erinnert sich Miriam. Zugleich wuchs ihr Gottvertrauen. Heute ist sie zuversichtlicher denn je: »Unser Gott versorgt und beschenkt uns immer wieder. Wie dürfen vorwärtsgehen.« Ermutigend ist für sie, »dass es oft ganz anders kommt als erwartet, aber trotzdem funktioniert«. Oft hat sie mit Estación Esperanza erlebt, dass wenn Plan A nicht funktioniert hat, Plan B aufging. Oder Gott überraschte sie mit Plan C.  »Es ist, wie es die Bibel prophezeit: Der Mensch plant seinen Weg, aber der Herr lenkt seine Schritte«, sagt Miriam und lacht.

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Im «go talk» mit Ruedi Josuran berichtet Miriam Bernales-Kühni von dramatischen Auseinandersetzungen mit der Mafia – genauso wie von bewegenden Momenten, in denen sie staunt, welche Wunder Liebe bewirken kann.
Miriam Bernales-Kühni

Miriam Bernales-Kühni

Als Reisekauffrau zog es Miriam Bernales-Kühni schon immer in die Ferne. Aber weniger, um am Strand herumzuhängen, als vielmehr, um etwas für die Ärmsten zu bewegen. Darum absolvierte sie auch ein Bachelorstudium als Sozialarbeiterin an der Fachhochschule für Soziale Arbeit, ZHAW, in Zürich und eine Bibelschule in Kolumbien. In Peru lernte sie ihren Ehemann Carlos Bernales kennen. Mit ihm zusammen gründete sie das Kinderhilfswerk »Estación Esperanza« bei Lima. Das Paar hat drei Pflegetöchter und einen Sohn.