Dani Haupt
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Sebastian Stricker

Sankt Martin reloaded

Sebastian Stricker hat dem Wert des Teilens mit seinen Start-ups »ShareTheMeal« und »share« einen modernen Dreh gegeben. Wer heute Essen oder Einkaufen geht, kann dabei ohne Aufwand Gutes für bedürftige Menschen tun. Auf diese Weise haben bereits Millionen von Menschen Hilfe erhalten.

Simon Jahn
Simon Jahn
8 min

Leicht ungläubig, aber mit großer Genugtuung betrachtete Sebastian Stricker das Bild. »Ich liebe es zu sehen, wenn aus Spinnereien Realität wird.« sagt er spitzbübisch. »Am Anfang war das nicht mehr als ein simpler Gedanke auf einem weißen Blatt Papier.« In den sozialen Medien machte ein Foto die Runde. Darauf zu sehen: König Charles III. mit Gattin Camilla im ICE der Deutschen Bahn sitzend. Ein feines Detail, das viele vermutlich kaum beachteten: Vor dem britischen Monarchen steht auf dem Tisch eine Flasche share-Mineralwasser.  

Er führt ein Leben zwischen Kundenterminen, Nobelhotels und Urlauben.

Dass Sebastian Stricker, Gründer von Share-TheMeal und share, lapidar von Spinnereien spricht, sagt viel über ihn aus. Er nimmt sich selbst nicht so wichtig, ist keiner, der mit seinen Erfolgen hausieren geht. Ein bodenständiger Typ, der sich und das, was er tut, auch selbst hinterfragt. Immer wieder scheint in seinen Sätzen sogar eine gewisse Unsicherheit durch. Ob seine Projekte objektiv nun wirklich so erfolgreich seien, könne man diskutieren. Andere Organisationen erzielten einen weitaus größeren Impact. Und ob er sich als Weltveränderer bezeichnen würde? »Ich wäre gern einer.« 

Die Fakten kann man auch anders werten: Die App ShareTheMeal wurde über zehn Millionen Mal heruntergeladen und erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Bis heute hat sie rund 190 Millionen Tagesrationen für von Hunger betroffene Menschen ermöglicht. Und durch share wurden über 115 Millionen Hilfeleistungen an Bedürftige ermöglicht. Damit ist die Firma eines der erfolgreichsten Social-Impact-Start-ups in Deutschland. Woher rührt also die Bescheidenheit des Gründers?

Fasziniert vom Teilen

Das Logo von share zeigt nicht mehr als die fünf Buchstaben, in der Mitte des Worts durch eine Lücke in zwei gleich große Hälften geteilt. Auf simpelste Art wird so der Kern des Unternehmensprinzips symbolisiert: Kaufst du ein Produkt, spendet share dasselbe oder eine äquivalente Leistung an einen bedürftigen Menschen. Dieses Prinzip fasziniert und überzeugt Sebastian bereits als Kind. Immer wenn er bei den jährlichen Lampionumzügen die Geschichte von Sankt Martin hört, weiß er: Seinen Mantel mit dem Bettler zu teilen, das ist genau die richtige Reaktion. 

Nach der Schule weiß Stricker nicht, was er werden will und schiebt die Entscheidung auf. Als er aus dem Urlaub kommt, sind die Einschreibefristen an der Wiener Uni für die meisten Fächer verstrichen. So entscheidet er sich für Wirtschafts- und Politikwissenschaften, da ihm das solide vorkommt. Im Rückblick ein Fehler, wie er resümiert: »Als ich mich nach dem Studium bei einer Unternehmensberatung bewarb, gab es ein Buch zur Vorbereitung auf das Vorstellungsgespräch. Daraus habe ich mehr gelernt als in meiner gesamten Studienzeit.«

Ein intensives Leben

Die Boston Consulting Group (BCG) stellt ihn als Unternehmensberater ein. »Davon träumt jeder Wirtschaftswissenschaftler, aber nur ein Prozent der Absolventen schaffen es.« Der neue Job pusht Strickers Ego, er entwickelt ein Elitebewusstsein, führt ein Jetset-Leben zwischen Kundenterminen, Fünfsternehotels und ausgedehnten Urlauben. Aber die Arbeit ist auch hart und fühlt sich für Stricker von Anfang an nicht richtig an. »Schon in den ersten Monaten fing ich an, nach anderen Jobs zu googeln«, erinnert er sich. Trotzdem schafft er den Absprung erst nach knapp vier Jahren.  

Die Bill Clinton Stiftung ist Kunde der BCG. Sie bietet Stricker einen Job als Manager ihres
Malariaprogramms in Afrika an. Zwar ist er sich nach wie vor unsicher, was er mit seinem Leben anfangen will, aber: »Die Aussicht, in einer der anerkanntesten NGOs in Afrika Malaria zu bekämpfen – das war ein faszinierendes Package.« Und so verschlägt es ihn Mitte zwanzig von den Kunden mit den dicken Portemonnaies zu den Ärmsten der Welt. Stricker arbeitet weiter hart, aber er kostet das neue Abenteuer auch voll aus: »Tolles Essen, neue Freunde, neue Romanze, rasende Motorradtouren durchs Niemandsland, Unfälle, schwere Krankheit – da war alles dabei.«

Nach wenigen Monaten wird er in einen Korruptionsfall verwickelt. Er fühlt sich überfordert, handelt ungeschickt und verschlimmert die Sache noch. Da trifft es sich gut, dass er zeitgleich von den Vereinten Nationen ein attraktives Jobangebot erhält. Stricker wechselt nach Rom und arbeitet fortan für das Welternährungsprogramm der UN in verschiedenen Positionen. Mittags geht er manchmal laufen, hört sich dabei Podcasts an. Eines Tages nistet sich dabei eine dieser »Spinnereien« in seine Gedanken ein.

Ich empfinde Verantwortung, die mir anvertrauten Dinge einzusetzen.

Vom Film zur App

Stricker hat sich kurz zuvor den Dokumentarfilm »Supersize me« angeschaut. Darin unterzieht sich US-Regisseur Morgen Spurlock einem Selbstversuch, bei dem er sich dreißig Tage lang ausschließlich von McDonald‘s-Produkten ernährt. Der Name des Films spielt auf die Option an, für einen geringen Aufpreis ein extragroßes Menü zu erhalten. »Ich dachte mir: Wäre es nicht genial, wenn man bei McDonald’s statt ›supersize my meal‹ auch sagen könnte ›share my meal‹?« Der Gedanke lässt ihn nicht mehr los und so versucht Stricker, seinen Job beim Welternährungsprogramm zu nutzen, um die Idee Realität werden zu lassen. Doch Stricker beißt bei der Fast-Food-Kette auf Granit. Er merkt: Um dieses geniale Modell zum Laufen zu bringen, braucht es mehr als das, was er hier nebenbei auf die Beine stellen kann. Und so gründet er mit Bernhard Kowatsch ein Start-up. 

Für ShareTheMeal will er eine App entwickeln, mit der man beim Restaurantbesuch unkompliziert jemand Bedürftigem eine Mahlzeit spenden kann. Vom ersten Step bis zum Launch der App vergehen zwei Jahre. 2015 geht sie mit einem Traumstart online. »Das klingt magisch: Am Vormittag bringt der Spiegel einen Artikel, am Abend berichten die RTL-Nachrichten. Aber das war kein Zufall, sondern monatelange Vorbereitung.« Nach den Abendnachrichten stürmt die App in den Download-Charts auf Rang drei. Wenig später ist sie weltweit erhältlich. Sie erhält zahlreiche internationale Auszeichnungen. Gründer Sebastian Stricker wird sogar ins Weiße Haus eingeladen und trifft dort Barack Obama. 

Das Unmögliche möglich machen 

Doch Stricker ruht sich nicht auf Erreichtem aus. Ist er irgendwo angekommen, sprudeln längst schon wieder neue Ideen in seinem Kopf. Er denkt stets groß, problematisiert nicht, sondern packt lieber an. »Ich empfinde eine hohe individuelle Verantwortung, die Dinge, die mir anvertraut sind, einzusetzen«, sagt er. Dabei reizt es ihn, das scheinbar Unmögliche möglich zu machen. 

In ihm reift der Gedanke, die Idee des Teilens noch umfassender und alltagsrelevanter aufzuziehen. Und so übergibt er ShareTheMeal 2017 in die Hände des Welternährungsprogramms. Parallel gründet er mit drei Freunden das Start-up share. Ihr Ziel: Produkte in den Einzelhandel bringen, bei deren Kauf automatisch eine äquivalente Leistung an bedürftige Menschen gespendet wird. Ein Jahr investieren die vier in die Vorbereitungen. Dazu führt Stricker auch Gespräche bei REWE und dm. »Die haben wir monatelang vorbereitet, um ihnen ein Angebot zu machen, das sie einfach nicht ablehnen können«, erinnert sich Stricker. Der Plan geht auf: Beide Unternehmen erklären sich bereit, die ersten drei share-Produkte ins Sortiment aufzunehmen: Nussriegel, Mineralwasser, Seife.  

Nichts hat meine Welt so auf den Kopf gestellt, wie Vater zu werden.

Mit dem Launch der Marke share im März 2018 in den insgesamt 5000 Filialen der beiden Handelsunternehmen beginnt die zweite Gründungs-Erfolgsgeschichte um Sebastian Stricker. Bereits im ersten Jahr erreicht share einen Umsatz im hohen einstelligen Millionenbereich. Heute ist die Angebotspalette auf über hundert Produkte angewachsen und reicht vom Haferdrink über Putzmittel und Schreibwaren bis hin zu Klamotten. Kontinuierlich kommen neue Produkte und Partner hinzu. Dieses Jahr etwa ein Girokonto in Kooperation mit der ING DiBa sowie ein nachhaltiger Mobilfunktarif bei Congstar. Zu den Partnern zählen inzwischen neben weiteren Drogerie- und Supermärkten, Tankstellen und Fluggesellschaften auch IKEA und die Deutsche Bahn. Bei Letzterer entschied share die Ausschreibung für das Mineralwasser-Angebot in den Bordbistros für sich. »Ich bin überzeugt, wir haben in unsere Pitchvorbereitungen mehr investiert als alle anderen Bewerber zusammen«, erklärt sich Stricker den Erfolg gegen etablierte Getränkemarken. Und eine bessere Krönung als König Charles III. mit einem share-Mineralwasser in der Bahn kann man sich ja schwer vorstellen. 

Leben auf den Kopf gestellt

Stricker hat auch dieses Projekt zum Fliegen gebracht. Doch Mitte 2022 zog sich der bisherige Geschäftsführer aus dem operativen Geschäft zurück. Es gibt ein neues Projekt in seinem Leben – ein ganz anderes. »Nichts hat meine Welt bisher so auf den Kopf gestellt«, sagt Stricker. Er ist Vater geworden. »Dieses kleine Geschöpf ist so fröhlich und gleichzeitig so bedürftig«, schwärmt er. »Ich habe die letzten siebzehn Jahre im Schnitt 75 Stunden pro Woche gearbeitet – nicht selten auch bis zwei Uhr nachts. Das geht jetzt nicht mehr.« Er und seine Freundin sind mit dem Sohn von Berlin nach Wien gezogen, um sich ein Zuhause zu schaffen. Stricker hat der neue Lebensabschnitt auch ins Nachdenken über sein Leben und dessen Sinnhaftigkeit gebracht. 

Mit neuen Projekten ist er dennoch beschäftigt: Er arbeitet an einer Reportage zur Migration in Europa. »Ich finde es erschütternd, wie Leute im Mittelmeer ertrinken. Wie sie in Boote gesetzt und wieder aufs offene Meer hinausgezogen werden. Wie sie an Grenzkontrollen verprügelt, ausgezogen und ausgeraubt werden«, sagt er. Zudem setzt sich Stricker mit der Frage auseinander, wie Wirtschaft in Zukunft funktionieren sollte. Er berät auch wieder Firmen. Und er unterstützt seine Freundin dabei, ein Restaurant zu eröffnen.

»Ich wünsche mir, dass die Idee des Teilens in unserer Gesellschaft zur Normalität wird«, resümiert Stricker. Bis heute begleitet ihn die Geschichte des selbstlosen Soldaten, der seinen Mantel teilte. »Nach ihm hat mein Sohn seinen Zweitnamen erhalten.« Ein bisschen kommt es einem vor, als sei dieser Vierzigjährige mit seinem großen Herzen fürs Teilen selbst ein moderner Sankt Martin. 

Sebastian Stricker

Sebastian Stricker

Sein Karriereeinstieg bei der renommierten Boston Consulting Group machte ihn nicht glücklich, darum heuerte Sebastian Stricker (40) bei der Bill Clinton Stiftung als Manager deren Malariaprogramms in Afrika an. Danach arbeitete er für das Welternährungsprogramm der UN. Er entwickelte die App »ShareTheMeal« und gründete »share« mit, heute eines der erfolgreichsten deutschen Social-Impact-Start-ups. Mit Freundin und Tochter lebt er in Wien.