Farina Schurzfeld
Seelentröster via Wi-Fi
Statt für die sichere Karriere entschieden sich Nora Blum, Kati Bermbach und Farina Schurzfeld dafür, mit ihrem Start-up Selfapy eine Schwachstelle in einem der besten Gesundheitssysteme der Welt zu beheben.
Die Gesundheitssysteme in Deutschland und der Schweiz gehören zu den besten weltweit: Freie Arzt- und Krankenhauswahl, Krankenversicherung nach Solidaritätsprinzip, hohe Versorgungsdichte. In einer Auswertung von ID Medical, einer britischen Jobagentur für medizinische Berufe, schnitt 2019 lediglich Japan noch besser ab. 11,3 beziehungsweise 12,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes werden in den beiden Staaten für den Gesundheitssektor ausgegeben. 5,6 Millionen Menschen arbeiten in der Bundesrepublik im Gesundheitswesen, das ist jeder achte Erwerbstätige. In der Schweiz ist die Quote mit rund 415 000 Beschäftigten vergleichbar.
Kati Bermbach, COO
Für Kati Bermbach war der Wunsch, Menschen zu helfen, gesund zu werden oder zu bleiben, die Antriebsfeder für ihr Psychologiestudium. Als wissenschaftliche Hilfskraft an der Berliner Charité prallte die Studentin aber schnell auf dem Boden der Realität auf. Eine ihrer Aufgaben war es, Therapieplätze abzulehnen und die Hilfesuchenden auf Monate zu vertrösten. »Das war so ein Scheißgefühl, den Leuten abzusagen und gleichzeitig zu versuchen, sie irgendwie aufzubauen. Ich fing an, mich zu fragen: Wofür studiert man denn Psychologie, wenn man effektiv nichts tun kann?« Entmutigt machte sich die Berlinerin wenig später auf den Weg zu einem Sommerkurs der berühmten Universität Cambridge im Vereinigten Königreich.
Das Problem
Jedes Jahr sind in Deutschland 27,8 Prozent der Erwachsenen von einer psychischen Erkrankung betroffen – 17,8 Millionen Bürger. Ein Großteil davon kämpft mit Depressionen - 5,3 Millionen Deutsche; Kinder, Jugendliche und Menschen über 79 Jahre nicht mitgerechnet. Zwar bilden Psychiater und Psychotherapeuten die Ärztegruppe, die in den vergangenen zehn Jahren am stärksten gewachsen ist – nämlich um rund 33 Prozent. Dennoch beträgt die Wartezeit von Betroffenen bis zum Beginn einer Richtlinientherapie heute im Durchschnitt immer noch 19,9 Wochen.
Die Wartezeit von Betroffenen bis zum Therapiebeginn beträgt 19,9 Wochen.
Nora Blum, CEO
Sie lernte die Herausforderungen des Therapeutenberufs bereits im Kindesalter kennen. Täglich sah Nora Blum die Frustration der Mutter, wenn die Psychotherapeutin den Anrufbeantworter abhörte und den Hilfesuchenden absagen musste. Trotzdem schlug die Musterschülerin den gleichen Berufsweg ein. Das Psychologiestudium führte sie über York nach Cambridge, wo sie im Sommer 2014 in derselben Vorlesung saß wie Kati Bermbach. Schnell stellten die beiden Gleichaltrigen fest, dass sie ein großer Wunsch verband: Im Zeitalter der Digitalisierung psychologische Hilfe für jeden einfach zugänglich zu machen.
Die Anfänge
Sie begannen, sich mit den digitalen Möglichkeiten vertraut zu machen und wälzten Fachliteratur und Studien. Da Therapeuten in Deutschland aufgrund des sogenannten Fernbehandlungsgesetzes nicht über Internet oder Telefon behandeln dürfen, landeten die beiden beim Ansatz der geleiteten Selbsthilfe. Der Betroffene erlernt dabei selbstständig Strategien der Verhaltenstherapie durch Texte, Übungen und Videos. Ein Psychologe unterstützt ihn durch Anregungen via Nachrichtenfunktion. Optional sind telefonische Feedbackgespräche möglich. Einige Online-Angebote gab es in dem Bereich bereits, doch die meisten Umsetzungen fanden Blum und Bermbach entweder für Laien zu schwer verständlich oder zu wenig professionell. So begannen sie, aus den vielen gesammelten Quellen einen eigenen Fragenkatalog für einen Onlinekurs in leicht verständlicher, lebendiger Sprache zu erarbeiten. Nach eineinhalb Jahren Forschungsarbeit stand das Konzept. Ein Testlauf im Januar 2016 lief so erfolgreich, dass die beiden beschlossen, ihre Jobs zu kündigen und das Start-up Selfapy zu gründen. »Wären wir Therapeutinnen geworden oder hätten Karriere in der Wissenschaft gemacht, würde sich an der untragbaren Versorgungslage ja weiterhin nichts ändern«, erklärt Blum.
Sie kündigten ihre Jobs, um Selfapy zu gründen.
Farina Schurzfeld, CMO
Auf der anderen Seite der Weltkugel hatte Farina Schurzfeld ihre Karriere steil gestartet. Sie baute in Australien zuerst das Rabattportal Groupon mit auf, danach Airtasker, einen Onlinemarktplatz für Minijobs. Später gründete sie den heute größten Co-Working-Space Sydneys. Die Sehnsucht nach mehr Sinnhaftigkeit und Menschlichkeit im Job brachte sie über Umwege in New York zurück nach Deutschland, wo sie eine Marketingfirma aufbaute. Nach einer schweren Krebsdiagnose bei ihrer Mutter wollte sie dieser einen Platz bei einem Psychotherapeuten organisieren – und bekam die Versorgungslücke am eigenen Leib zu spüren. Über einen Kontakt wurde sie auf das noch jungfräuliche Selfapy aufmerksam und schloss sich Blum und Bermbach nach einem gemeinsamen Treffen an. Mit ihrer unternehmerischen Erfahrung brachte sie eine wichtige Komponente mit, um das Start-up auf Kurs zu bringen.
Die Herausforderung
Anliegen von Selfapy ist es nicht, die klassische Psychotherapie zu ersetzen. Zumal das Angebot für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen gar nicht ausgelegt ist. Vielmehr ging es den Gründerinnen darum, Betroffenen zu helfen, die in der Warteschleife für ihre Behandlung hängen, und Leute, die den Gang zum Therapeuten scheuen, mit Onlinekursen zu erreichen. Allerdings: Im deutschen Gesundheitssystem Menschen zu überzeugen, für ein digitales Hilfsangebot einen Preis im dreistelligen Bereich zu zahlen, ist einigermaßen schwierig. Also mussten die drei an strategischen Partnerschaften arbeiten: Investoren finden, Kooperationen mit Ärzten schließen, die Therapieplätze absagen mussten, und – vor allem – Krankenkassen davon überzeugen, die Kursgebühren zu erstatten. Nur so würden sie im Markt psychologischer Beratungsangebote Fuß fassen und jedem, der psychologische Unterstützung benötigt, diese kostenfrei und flexibel anbieten können. Zuerst gelang es Selfapy, Stresspräventionskurse zertifizieren zu lassen und damit etliche Krankenkassen zur Kostenübernahme zu bewegen. Anfang 2018 schloss das E-Health-Unternehmen dann mit der SBK Siemens Betriebskrankenkasse den ersten Selektivvertrag zur Kostenerstattung des Therapieangebots. Es folgten dreizehn weitere Krankenkassen, sodass insgesamt achtzehn Millionen Versicherte Selfapys Programm kostenfrei erhalten können.
Der Pitch
Mit pochendem Herzen trat Farina Schurzfeld vor die Jury. Zwei Minuten hatte sie, um die Investorenjury des SevenVenture Pitch Day 2018 zu überzeugen. Um ein Drei-Millionen- Werbebudget einzustreichen. Dutzende Male übte die 31-Jährige den englischen Text. Die Zeit lief. Doch Schurzfeld sagte kein Wort. Stattdessen startete aus dem Off ein lautes Tuten, dann ertönte eine Mailbox-Ansage: »You have reached the voicemail of the psychological practise of Lea High. I currently have no treatment places, but I look forward to your message after the beep.« Nach dem Piep einmal durchatmen, dann trug die Gründerin mit leicht wackeliger Stimme ihre Sätze vor. »Ich wollte diese Situation, in der so viele Betroffene stecken, einfach nach außen tragen.« Als die Jury verkündete, dass sich Schurzfeld gegen die drei Mitbewerber durchgesetzt hatte, kamen ihr die Tränen. Nun würden sie unter anderem einen TV-Spot drehen und damit viel mehr Menschen erreichen können.
Der Dämpfer
2019 untersuchte die Stiftung Warentest sieben Online-Angebote für Menschen mit psychischen Problemen. Vier stuften sie als empfehlenswert ein, Selfapy gehörte nicht dazu. Die Tester kritisierten mangelhafte Datensicherheit durch lasche Passwortanforderungen sowie fehlende Evidenz. Das Passwortthema war schnell behoben. Aber Wirksamkeitsstudien sind kostenintensiv und lassen sich nicht so einfach aus dem Boden stampfen. »Wir haben das Thema einfach unterschätzt«, gibt Schurzfeld unumwunden zu. »Damals hatten wir zwar eine Studie, diese jedoch noch nicht publiziert. Wir dachten, die beste Evidenz sei, wenn wir die Wirksamkeit mit wissenschaftlichen Fragebögen von unseren Nutzern selbst abfragen.« Die drei ließen sich aber nicht entmutigen. Durch gute Öffentlichkeitsarbeit gewannen sie zunehmend mediale Präsenz und verschafften sich Gehör – bis in die Politik.
Der Durchbruch
So lud sie Gesundheitsminister Jens Spahn 2019 zum Austausch ein. Sein Anliegen, digitale Gesundheitsthemen voranzutreiben, führte schließlich dazu, dass er Selfapy und andere Akteure von Online-Angeboten mit in die Überlegungen zum Digitale-Versorgung- Gesetz einbezog, das er innerhalb weniger Monate auf den Weg brachte. »Dieses Gesetz ist ein Meilenstein im Gesundheitssystem – und ein Meilenstein für uns«, schwärmt Schurzfeld. Ende 2019 trat das Gesetz in Kraft. Damit kann jede Online-Anwendung oder Gesundheitsapp, die gewisse Kriterien erfüllt (Medizinzertifizierung, positiver Versorgungseffekt, Evidenz) und zertifiziert wurde, in die Regelversorgung aufgenommen und nach einem Probejahr dort fest verankert werden. Das bedeutet den Zugang zu knapp 72 Millionen Krankenversicherten. Im November soll Selfapy die Zulassung als digitale Gesundheitsanwendung erhalten. Anfang 2020 sicherte sich das Start-up zudem ein 6-Millionen-Investment. Finanziert werden damit unter anderem vier laufende Evaluationsstudien, unter anderem an der Berliner Charité, aber auch die Produkt-Weiterentwicklung. Bisher haben 30 000 Teilnehmer die Onlinekurse des Start-ups in Anspruch genommen, über fünfzig Mitarbeiter hat das Unternehmen dafür beschäftigt. Mit dem Zugang zur Regelversorgung werden beide Zahlen deutlich ansteigen – und viele Menschen mit psychischer Erkrankung während ihrer Wartezeit auf einen Therapieplatz Begleitung finden können. »Wir sind bereit dafür«, sagt Farina Schurzfeld.
Farina Schurzfeld
Bereits mit Mitte zwanzig baute Farina Schurzfeld bekannte Start-ups wie das Rabattportal Groupon und den digitalen Minijob-Marktplatz Airtasker in Australien mit auf und gründete den inzwischen größten Co-Working-Space Sydneys. Zurück in Deutschland fand sie 2016 ihre Leidenschaft für Themen im Gesundheitswesen im Gründerinnenteam von Selfapy, einem Berliner Start-up, das Onlinekurse für Menschen mit psychischen Problemen anbietet. Die 33-Jährige verhalf dem Unternehmen als CMO zu Millionen-Investments und beriet die Politik zum Digitale-Versorgung-Gesetz.