Tom Sommer
Sehnsucht nach Versöhnung
Ist es wirklich eine Utopie, sich für ein versöhntes Miteinander zu engagieren? Rein emotional neigt man dazu aufzugeben anlässlich kriegerischer Aggressionen. Aber etwas in uns wehrt sich dagegen. Frieden ist eine Sensation, nicht Gewalt.
Ein dauerhaft friedliches und versöhntes Leben gibt es nicht. Eher geht es um einen flüchtigen, zuweilen unverfügbaren Zustand, der beobachtet und gepflegt werden muss. Die Entwicklung Europas nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges zeigt dies deutlich: Warum haben sich Ost und West wohl falsch eingeschätzt und gewisse Faktoren zu wenig gewichtet, sodass es im Februar 2022 zum Krieg in Osteuropa gekommen ist? Allein um harte Fakten wie zum Beispiel einen Ressourcenstreit geht es kaum. Und mangelnde diplomatische Kontakte sind auch nicht zu beklagen. Aber dazwischen liegen »soft factors«, psychosoziale Aspekte, die ein friedliches und versöhnliches Zusammenleben entweder behindern oder fördern.
Was bleibt vom »Jahr der Versöhnung«?
Zu einem neuzeitlichen Bekenntnis für ein versöhnliches Zusammenleben der Menschen dieses Globus zählt das »Year of Reconciliation 2009«. Die Uno hatte jenes »Jahr der Versöhnung« proklamiert und weltweit aufgefordert, dieses Anliegen zu fördern und Antworten zu finden – auf zwischenmenschliche Entzweiung, Gruppenkonflikte, Zerrüttung. Oder auch »nur auf die geballte Faust, die es verunmöglicht, einen versöhnenden Händedruck zu wechseln«. Wie Recht hatte damit die indische Premierministerin Indira Gandhi – sie verwendete diesen bildhaften Ausdruck 1971 in einer Pressekonferenz in Neu-Delhi.
Nur schon Meinungsdifferenzen können die persönliche Versöhnungsbereitschaft arg strapazieren. Friedens- und Konfliktforschung weltweit beißen sich die Zähne aus, um zu einem friedlichen Miteinander von Individuen, Ethnien und Nationen beizutragen. Nicht umsonst räumt die UN-Agenda 2030 (SDG Nr. 16) für eine nachhaltige Entwicklung der Friedenssicherung beziehungsweise der Vermeidung von Gewalt höchste Priorität ein.
Am grünen Tisch scheint alles relativ einfach. Die Herausforderung liegt darin, Versöhnung persönlich zu leben und gesellschaftlich umzusetzen. Woher kommen die Motivation, die Energie und das Leitbild, hier einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten? Der international vernetzte Verein versoehnt.ch will auf breiter gesellschaftlicher Ebene für das Thema sensibilisieren und helfen, Versöhnungspotenziale zu entdecken, zu entwickeln und zu leben.
Psalm 85 in UN-Antrag
Der US-amerikanische Aktivist, Friedensforscher und Soziologe John Paul Lederach steht hierfür Pate. Er – und mit ihm viele Expertinnen und Experten – propagierte die tragende Rolle von »forgiveness, truth, justice and mercy« in den vielfältigen Beziehungen unter Menschen und für Friedensprozesse. Diese vier Begriffe sind dem Psalm 85 der Bibel entlehnt und als solche auch im erwähnten UN-Antrag für das Jahr der Versöhnung nachzulesen.
Glaubensgemeinschaften sind nicht per se davor gefeit, sich instrumentalisieren zu lassen und zu Brandbeschleunigern zu werden. Das bestätigt die Geschichte. Aber, wer ehrlich danach sucht, dem tiefen Bedürfnis des Menschen nach friedlichem Zusammenleben Raum zu geben, muss anerkennen, dass der Wanderprediger Jesus vor 2000 Jahren neue Lebensaspekte eingebracht hat, die zutiefst bedenkenswert sind. Könnte es sein, dass der Mensch geschaffen ist, etwas von Gottes Güte zu spiegeln? Hat Jesus nicht in seiner unerklärlichen Großzügigkeit den Gottlosen und seinen Feinden vergeben? Wer hat nicht schon selbst erlebt, dass ein solcher Akt entlastend wirkt?
Das englische »reconciliation« drückt es schön aus: Wieder zusammenzubringen, was entzweit ist. Das fördert eine Schalom-Kultur – Schritt um Schritt. Das ist keine Utopie.