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Tom Sommer

Sehnsucht nach Versöhnung

Ist es wirklich eine Utopie, sich für ein versöhntes Miteinander zu engagieren? Rein emotional neigt man dazu aufzugeben anlässlich kriegerischer Aggressionen. Aber etwas in uns wehrt sich dagegen. Frieden ist eine Sensation, nicht Gewalt.

Tom Sommer
Tom Sommer
3 min

Ein dauerhaft friedliches und versöhntes Leben gibt es nicht. Eher geht es um einen flüchtigen, zuweilen unverfügbaren Zustand, der beobachtet und gepflegt werden muss. Die Entwicklung Europas nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges zeigt dies deutlich: Warum haben sich Ost und West wohl falsch eingeschätzt und gewisse Faktoren zu wenig gewichtet, sodass es im Februar 2022 zum Krieg in Osteuropa gekommen ist? Allein um harte Fakten wie zum Beispiel einen Ressourcenstreit geht es kaum. Und mangelnde diplomatische Kontakte sind auch nicht zu beklagen. Aber dazwischen liegen »soft factors«, psychosoziale Aspekte, die ein friedliches und versöhnliches Zusammenleben entweder behindern oder fördern.

Was bleibt vom »Jahr der Versöhnung«?

Zu einem neuzeitlichen Bekenntnis für ein versöhnliches Zusammenleben der Menschen dieses Globus zählt das »Year of Reconciliation 2009«. Die Uno hatte jenes »Jahr der Versöhnung« proklamiert und weltweit aufgefordert, dieses Anliegen zu fördern und Antworten zu finden – auf zwischenmenschliche Entzweiung, Gruppenkonflikte, Zerrüttung. Oder auch »nur auf die geballte Faust, die es verunmöglicht, einen versöhnenden Händedruck zu wechseln«. Wie Recht hatte damit die indische Premierministerin Indira Gandhi – sie verwendete diesen bildhaften Ausdruck 1971 in einer Pressekonferenz in Neu-Delhi.

Nur schon Meinungsdifferenzen können die persönliche Versöhnungsbereitschaft arg strapazieren. Friedens- und Konfliktforschung weltweit beißen sich die Zähne aus, um zu einem friedlichen Miteinander von Individuen, Ethnien und Nationen beizutragen. Nicht umsonst räumt die UN-Agenda 2030 (SDG Nr. 16) für eine nachhaltige Entwicklung der Friedenssicherung beziehungsweise der Vermeidung von Gewalt höchste Priorität ein.

Am grünen Tisch scheint alles relativ einfach. Die Herausforderung liegt darin, Versöhnung persönlich zu leben und gesellschaftlich umzusetzen. Woher kommen die Motivation, die Energie und das Leitbild, hier einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten? Der international vernetzte Verein versoehnt.ch will auf breiter gesellschaftlicher Ebene für das Thema sensibilisieren und helfen, Versöhnungspotenziale zu entdecken, zu entwickeln und zu leben.

Psalm 85 in UN-Antrag

Der US-amerikanische Aktivist, Friedensforscher und Soziologe John Paul Lederach steht hierfür Pate. Er – und mit ihm viele Expertinnen und Experten – propagierte die tragende Rolle von »forgiveness, truth, justice and mercy« in den vielfältigen Beziehungen unter Menschen und für Friedensprozesse. Diese vier Begriffe sind dem Psalm 85 der Bibel entlehnt und als solche auch im erwähnten UN-Antrag für das Jahr der Versöhnung nachzulesen.

Glaubensgemeinschaften sind nicht per se davor gefeit, sich instrumentalisieren zu lassen und zu Brandbeschleunigern zu werden. Das bestätigt die Geschichte. Aber, wer ehrlich danach sucht, dem tiefen Bedürfnis des Menschen nach friedlichem Zusammenleben Raum zu geben, muss anerkennen, dass der Wanderprediger Jesus vor 2000 Jahren neue Lebensaspekte eingebracht hat, die zutiefst bedenkenswert sind. Könnte es sein, dass der Mensch geschaffen ist, etwas von Gottes Güte zu spiegeln? Hat Jesus nicht in seiner unerklärlichen Großzügigkeit den Gottlosen und seinen Feinden vergeben? Wer hat nicht schon selbst erlebt, dass ein solcher Akt entlastend wirkt?

Das englische »reconciliation« drückt es schön aus: Wieder zusammenzubringen, was entzweit ist. Das fördert eine Schalom-Kultur – Schritt um Schritt. Das ist keine Utopie.

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Jahr 1529
Aus einem Topf
Manchmal braucht es wenig, um Frieden zu stiften. Als 1529 katholische gegen reformierte Truppen bei Kappel am Albis antraten, reichten Milch und Brot, um die Eidgenossen wieder an den Verhandlungstisch zu bringen. Obwohl der gefeierte Friede nicht von Dauer war, dient das Ereignis in der Schweiz bis heute als Symbol einer pragmatischen Konfliktlösung und Mediation für eine friedliche Koexistenz.
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Jahr 1529
Aus einem Topf
Manchmal braucht es wenig, um Frieden zu stiften. Als 1529 katholische gegen reformierte Truppen bei Kappel am Albis antraten, reichten Milch und Brot, um die Eidgenossen wieder an den Verhandlungstisch zu bringen. Obwohl der gefeierte Friede nicht von Dauer war, dient das Ereignis in der Schweiz bis heute als Symbol einer pragmatischen Konfliktlösung und Mediation für eine friedliche Koexistenz.
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Jahr 1970
Kniefall statt Worte
Als der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt 1970 in die polnische Hauptstadt reiste, wich er spontan vom Protokoll ab. Am Denkmal für den Warschauer Gettoaufstand von 1943 fiel der Kanzler auf die Knie. Diese Geste der Betroffenheit löste in Bonn Kopfschütteln aus, berührte aber die Herzen der Gastgeber und der Welt. Denn sie wurde als Bitte um Vergebung für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs verstanden.
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Jahr 2003
Frauen in Weiß
Die Liberianerin Leymah Gbowee, Friedensnobelpreisträgerin 2011, half der Versöhnung im Bürgerkrieg mit etwas Druck nach. Hierzu vereinte sie Christinnen und Musliminnen. Mit ihren »weißen Frauen« betete sie für Frieden und organisierte Sitzstreiks. Zudem rief sie die Frauen zum »Sexstreik« auf – nach dem Vorbild des antiken Lysistrata-Themas, wo Männer durch permanenten Sexentzug zu einer pazifistischen Politik gezwungen wurden.
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Jahr 1963
Kampf ohne Gewalt
»I have a dream«, lautete die berühmte Rede des Bürgerrechtlers und Baptistenpredigers Martin Luther King. Der militärischen Weltmacht USA führte er vor Augen, dass der Kampf ohne Gewalt am wirkungsvollsten ist – und in der Feindesliebe eine besondere Stärke liegt. Bei seinem Einsatz gegen die Rassentrennung und Rassendiskriminierung in den USA betonte er: »Wir sollten nie vergessen, dass wir Gerechtigkeit und Versöhnung wollen, nicht den Sieg.«
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Jahr 2012
Royaler Handschlag
Über Jahrzehnte forderte die Irische Republikanische Armee (IRA) eine Wiedervereinigung Irlands. Seit 1922 ist das Land zweigeteilt: Das protestantische Nordirland gehört zur britischen Krone, die katholische Republik im Süden ist unabhängig. Der Nordirland-Konflikt kostete bis zum Karfreitagsabkommen von 1998 über 3000 Menschen das Leben. Vor rund zehn Jahren reichte Queen Elizabeth II. dem früheren IRA-Anführer Martin McGuinness, einst als Staatsfeind der Briten bezeichnet, die Hand.