David Vogt
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Manfred Lütz

Sind wir alle vom Burnout bedroht, Herr Chefarzt?

Macht uns unsere Arbeit zunehmend krank? Nein, sagt der Bestsellerautor und Psychotherapeut Manfred Lütz. Der Burn­out sei vor allem ein lukratives Geschäft, aber keine Krankheit. Im Interview plädiert er für mehr Vertrauen in die Eigenkompetenz, die alten Mütterchen und den Glauben.

Simon Jahn
Simon Jahn
7 min

Herr Dr. Lütz, macht Ihnen Ihre Arbeit als Chefarzt Spaß?

Ich empfinde sie als sinnvoll. Zufälligerweise macht sie mir auch Spaß, doch das ist ein Privileg. Manchmal behaupten Patienten, ihr wesentliches Problem sei, dass die Arbeit ihnen keinen Spaß macht. Dann weise ich darauf hin, dass 80 Prozent der Deutschen ihre Arbeit keinen Spaß macht. Deswegen wird sie ja bezahlt. Ansonsten müsste man Vergnügungssteuer zahlen.

Spaß mag die eine Sache sein, aber mehr als die Hälfte der Bundesbürger schläft sogar schlecht aufgrund der Arbeit. Was läuft da falsch?

Gar nichts. Arbeit ist eben anstrengend.

Manchmal behaupten Patienten, ihr wesentliches Problem sei, dass die Arbeit ihnen keinen Spaß macht.

Laut der Studie einer Krankenkasse fühlt sich jeder zweite Deutsche vom Burnout bedroht – etwas, das es Ihrer Meinung nach so gar nicht gibt. Sind wir alle verrückt geworden?

In der internationalen Klassifikation psychischer Krankheiten ist Burnout als Krankheit gar nicht vorgesehen. Das ist dort eine Z-Kategorie, ähnlich wie soziale Probleme. Burnout ist inzwischen ein ­Marketingbegriff unter dem sogenannte Therapien von sogenannten Therapeuten für sogenannte Patienten angeboten werden.

Untersuchungen der WHO haben gezeigt, dass die Zahl an Depressionen weltweit rasant ansteigt …

Alle seriösen Fachleute sind sich darüber einig, dass die schweren psychischen Erkrankungen nicht zugenommen haben. Das Problem ist, dass auch durch naive Medienkampagnen irgendwelche Befindlichkeitsstörungen, die aber gar keinen Krankheitswert haben, zu Krankheiten hochgejazzt wurden – und es für die wirklich kranken Patienten deswegen keine Therapieplätze mehr gibt. Bei uns in Deutschland ist das System derart verkorkst, dass es Anreize gibt, möglichst Gesunde zu behandeln. Das ist eigentlich ein Skandal, aber die schwer psychisch Kranken haben leider keine Lobby. Wenn sich jemand im Beruf überfordert, dann ist er deswegen nicht gestört, sondern eben überfordert. Und wenn eine Frau plötzlich von ihrem Mann verlassen wird, kann das schlimmer sein als eine schwere Depression, aber es ist keine Krankheit, sondern eine gesunde emotionale Reak­tion auf eine schreckliche Situation. Eine solche Frau braucht keine Bahandlung bei einer Psychotherapeutin. Was ihr hilft, ist eine gute Freundin, die im besten Fall selber schon mal so etwas durchmachen musste. 

Wird die Psychotherapie heute überschätzt?

Ganz sicher. Psychotherapeuten können sehr gut psychische Störungen behandeln. Aber sie haben nicht mehr Lebenserfahrung als ­andere Menschen. In einer Lebenskrise würde ich nie zu einem Psychotherapeuten gehen, sondern eher zu einem alten Mütterchen aus der Eifel, die schon mal Schweres bewältigen musste.

In unserem Internet-Zeitalter sprießen Lebenscoaches wie Pilze aus dem Boden. Sie sagen aber, dass man eigentlich selbst am kompetentesten für sein Leben ist. Ist der ganze Lebensberatungstrend nur Geldmacherei?

Ja, weitgehend. Ich halte auch nichts von all den Glücksratgebern, in denen Autoren beschreiben, wie sie persönlich glücklich geworden sind. Am Ende bleibt der Leser traurig zurück – weil er nun mal leider nicht der Autor ist – und kann sich gleich das nächste Glücksbuch kaufen. Diese ganze Glücksindustrie funktioniert ja nur deswegen, weil sie eben nicht funktioniert. Wenn die Konzepte aufgehen würden, bräuchten wir keine Glückstees, -gurus und -seminare; dann wären wir alle glücklich. Ich glaube dagegen, dass es sieben Milliarden Wege zum Glück gibt, so viele wie Menschen. Wenn jemand sagt »Ich bin glücklich«, kann niemand genau verstehen, was er damit meint – noch nicht einmal seine Frau, ihr Mann oder die besten Freunde. Denn jeder Mensch verbindet dieses Wort mit bestimmten Melodien, Gerüchen, Menschen, Landschaften und Situationen, die niemand ganz genau so erlebt hat wie er.

David Vogt
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Ich halte nichts von all den Glücksratgebern. Am En-de bleibt der Leser traurig zurück.

Taugt denn die Bibel als Ratgeber für Führungskräfte?

Sie gibt viele Inspirationen. Inspiration bedeutet ja wörtlich, dass man von etwas begeistert wird. Aus der Bibel spricht der Heilige Geist, der sie geformt hat. Und dass dieser in Menschen, die dafür aufgeschlossen sind, kreative Wirkungen erzeugt, ist gar keine Frage. Ich kenne viele Manager, die sich von der Bibel inspirieren lassen und auf dieser Grundlage sehr gute Führungskräfte sind.

Sie sagen, das Leben ganz zu machen, vermag nur der Glaube, nicht die Therapie. Ist das auch Ihre persönliche Erfahrung?

So habe ich das nicht gesagt. Ich glaube vielmehr, dass Ganzheitlichkeit ein Begriff ist, der nicht in die Medizin oder Psychotherapie gehört, sondern zur Religion. Mit Körper, Seele und Geist ganz getragen ist man erst, wenn man sich in Gottes Hand weiß.

Mit Körper, Seele und Geist ganz ­getragen ist man erst, wenn man sich in Gottes Hand weiß.

Heute ist es regelrecht »in« unter Führungskräften, sich Auszeiten im Kloster zu nehmen. Bringt das wirklich etwas oder ist das eher ein nettes Alibi?

Wenn man es nur deshalb tut, weil es der Kollege auch macht, hat man wahrscheinlich nicht viel davon. Aber ich glaube tatsächlich, dass uns das Aussteigen aus Routinen eine neue Perspektive ermöglichen kann. Und der wirklich kreative Manager ist ja der, der Ideen entwickelt und nicht in festgefahrenen Strukturen verharrt. Aus der Bibel wissen wir, dass man einen Tag in der Woche nicht arbeiten sollte. Das ist aber nicht nur deswegen gut, weil es Gottes Gebot ist, sondern das hat zweifellos auch psychohygienische Effekte. Der kürzlich verstorbene katholische Philosoph Robert Spaemann hat mir einmal erzählt, dass man früher am Sonntag nicht Klavier üben durfte, man durfte nur Klavier spielen. Darin liegt ein feiner Unterschied. Am Sonntag sollte man das Leben genießen, wie es ist – auch im ­direkten Gegenüber zu Gott -, während man sich unter der Woche müht, das Geld zu verdienen, das es einem ermöglicht, am Sonntag auszuruhen.

Was ist Ihr persönliches Rezept gegen Stress?

Ich habe keins. Der liebe Gott schickt uns alle möglichen Menschen und Situationen auf den Lebensweg. Denen müssen wir begegnen und versuchen, da behilflich zu sein, wo wir mit unseren Kräften glauben, helfen zu können. Und so ist auch mein Leben gelaufen. Ich habe mir die Aufgaben nicht ausgewählt, sondern sie haben sich ergeben. Und wenn sie sinnvoll waren, habe ich sie angenommen und umgesetzt.

Wie kommt es, dass so viele Menschen hierzulande Arbeit so negativ wahrnehmen? Die Arbeitslosigkeit befindet sich auf einem historisch niedrigen Stand. Sollten wir nicht viel glücklicher sein, dass es uns so gut geht?

Ganz genau. Wenn ständig über Burnout geredet wird, bekommt man schnell den Eindruck, es sei das Schlimmste auf der Welt zu arbeiten. Viel schlimmer ist es aber, keine Arbeit zu haben und den Eindruck zu bekommen: Ich werde gar nicht mehr gebraucht. Es belastet ungemein, wenn die Sozialkontakte wegfallen, die man durch die Arbeit hatte. Natürlich ist es sinnvoll, sich die Arbeit so zu organisieren, dass man sich nicht überfordert. Aber so zu tun, als mache es schon krank, täglich pünktlich zur Arbeit gehen zu müssen und den Tag über in anstrengende Tätigkeiten eingespannt zu sein – das ist wirklich Quatsch.

Brauchen wir eine neue Arbeitsethik?

Nein. Jeder Mensch weiß vor seinem Gewissen, was er zu tun hat und sollte dem folgen. Was wir aber brauchen, ist mehr Sensibilität für ethische Überlegungen.

Wie sorgen Sie als Chefarzt dafür, dass Ihre Mitarbeiter nicht eine ähnlich düstere Meinung über ihre Arbeit haben?

Ich hoffe, dass sie sich ernst genommen und einbezogen fühlen. Mir persönlich ist das Subsidiaritätsprinzip der christlichen Soziallehre wichtig. Ich möchte nicht alles selbst bestimmen und die anderen nur als meinen verlängerten Arm ansehen. Das wäre keine besonders christliche Auffassung von Unternehmensführung, und es würde den Mitarbeitern auch gesundheitlich nicht guttun. In unserer Klinik ­lassen wir die Assistenzärzte ihre Arbeit machen. Und wenn sie nicht weiterkommen, können sie sich an die Oberärzte wenden. Kommen diese wiederum nicht zurecht, können sie mich als Chefarzt einschalten.

Schlimm ist es, keine Arbeit zu haben und nicht gebraucht zu werden.

Sie sind nicht mehr der Jüngste. Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht, welchen Stellenwert die Arbeit in Ihrem weiteren Leben noch spielen wird?

Im November gehe ich in Rente. Aber ich habe mir noch nicht viele Gedanken darüber gemacht, wie das dann sein wird. Mal sehen, welche Aufgaben der liebe Gott mir schickt. Ich halte ja noch viele Vorträge und schreibe Bücher. Ich fürchte, es wird mir nicht langweilig werden. 

Wird es also eher ein »Unruhestand« werden?

»Unruhig ist mein Herz, bis es ruhet in dir, oh Gott«, hat der heilige Augustinus gesagt. Und wo er recht hat, hat er recht.

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Manfred Lütz

Manfred Lütz

Manfred Lütz (64) schrieb Bücher über Gott, das Glück, die Kirche und die ­Psyche. Der Diplomtheologe ist Fach-arzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Als Chefarzt leitet er seit 1997 das ­Alexianer-Krankenhaus für Psychiatrie, ­Psychotherapie und Neurologie in Köln. Der Bestsellerautor ist Mitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben ­sowie des Dikasteriums für Laien, ­Familie und Leben. 1981 gründete er die in­tegrative Jugendgruppe »Die Brücke«, für die er sich weiterhin ehrenamtlich engagiert. Lütz ist verheiratet und hat zwei Töchter.