Frederik Bugglin
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Gerd Leonhard

Stehen wir an einem Wendepunkt, Herr Futurist?

Gerd Leonhard predigt den Wandel und verkörpert ihn selbst: Er hat Theologie studiert, in den USA als Musiker gearbeitet und Internet-Start-ups gegründet – bis ihn sein erstes Buch zum Futuristen machte. Als solcher verrät er hier, warum unsere Gesellschaft an einem Wendepunkt steht.

Stephan Lehmann-Maldonado
Stephan Lehmann-Maldonado
6 min

Herr Leonhard, Sie waren Musiker: Wie klingt der Sound der Zukunft?

Immer noch so wie der Soundtrack von Vangelis für den Film Blade Runner von 1982.

Das Lied ist in Dur?

Für mich legt der Sound eine positive Grundstimmung. Unsere Zukunft kann gut werden, wenn wir uns einig sind, wie sie ausschauen soll. Technologisch machen wir viele Fortschritte. Es gelingt uns, erneuerbare Energien immer effizienter zu nutzen. Und wir dürften Mittel finden, um den Krebs und andere Krankheiten zu besiegen.

Sie jetten um die Welt, beschäftigen 51 Partner. Die Zukunft scheint ein rentables Geschäft zu sein!

Klar, weil sich viele Leute von der Technologie überrollt fühlen. Die Veränderungen vom Smartphone über Virtual Reality bis zum Onlinedating erfolgen rasant und erfassen alle Lebensbereiche. Besonders verunsichert scheint die Generation Y, also Leute zwischen 23 und 35. Sie fühlen sich weder in der digitalen Welt noch in der Welt der Babyboomer ganz zu Hause.

In den nächsten zwanzig Jahren soll sich die Welt stärker verändern als in den letzten dreihundert Jahren, schreiben Sie in Ihrem Buch »Technology vs. Humanity«. Wieso?

Alles, was wir bisher erfunden haben, fand außerhalb von uns statt. Das gilt für die industrielle Revolution, die Medizin und sogar fürs Internet. Alle Technologien veränderten den Kern unseres Wesens nicht. Jetzt sind wir an dem Punkt angelangt, an dem wir uns selbst mit der Technologie verknüpfen. Psychologisch geschieht dies schon mit dem Smartphone, das unser Denken verändert. Doch Hirn-Computer-Schnittstellen und Gentherapie beeinflussen uns noch stärker. In zehn Jahren dürften sieben Milliarden Menschen vernetzt sein, doppelt so viel wie heute. In zwanzig Jahren verlinkt sich unser Hirn wohl direkt mit dem Internet. Wir könnten zu Mensch-Maschinen mutieren.

Sind Supermenschen keine schöne Vorstellung?

Wirtschaftlich dürften sich Supermenschen auszahlen: Mit der Automatisierung und Roboterisierung könnte eine einzige Person ein ganzes Warenhaus überwachen. Aber nehmen wir an, wir könnten 180 Jahre alt werden und mittels Gentechnik den Krebs heilen. Wer sollte dann davon profitieren – die reiche Elite oder alle Menschen? Lebensverlängernde Therapien müssten gratis sein, sonst wäre das ungerecht. Das würde aber das Ende des Kapitalismus bedeuten. So wirft die Science-Fiction-Welt viele Fragen auf: Was geschieht, wenn einer sich auf der Arbeit weigert, den Virtual-Reality-Helm anzuziehen und deswegen seinen Job verliert? Was macht eigentlich den Menschen aus? Kann er zur Maschine werden? Aus praktischen wie rechtlichen Gründen müssen wir darauf Antworten suchen.

Außerhalb von uns, im Internet, lockt ein unerschöpflicher Reichtum. Aber innerhalb von uns herrscht oft die Knappheit.

Der Fortschritt kann also Himmel oder Hölle bedeuten. Was braucht es, damit es auf Erden himmlischer wird?

Erstens dürfen wir nicht einfach alles machen, bloß weil es machbar ist. Vielmehr müssen wir uns fragen, inwiefern uns eine Erfindung weiterbringt. Es verhält sich wie mit der nuklearen Energie: Man kann ein Atomkraftwerk bauen oder eine Atombombe. Zweitens brauchen wir einen ethischen Kontext. Es geht letztlich darum, wer unsere Entwicklungen kontrolliert. Die Ethik und unsere Übereinkommen dürfen nicht hinter dem technologischen Fortschritt zurückbleiben.

Ray Kurzweil, Gründer der Singularity University, meint, wir könnten uns sogar zu einer Art Gott weiterentwickeln …

… ein Trugschluss! Wir können nicht zu Supermenschen werden, ohne einen Preis dafür zu zahlen. Wenn ich nur noch virtuell die Welt bereise und nur noch einen virtuellen Partner habe, geht etwas verloren. Denn der Mensch ist keine programmierbare Maschine. Aber die Technologie ist tatsächlich eine Religion. Die Götter sind die Geräte. Dabei ist Extremismus wie bei anderen Religionen gefährlich. Wir müssen erkennen, wo die Grenze zwischen Mensch und Maschine liegt. Der Mensch soll in einer Welt voller Maschinen Mensch bleiben dürfen. Da braucht es auch Platz für Ineffizienzen, für Menschlichkeit.

Wir dürfen nicht einfach alles machen, bloß weil es machbar ist.

Ihre Empfehlung lautet also: Die Technologie umarmen, aber nicht mit ihr verschmelzen?

Ja. Das ist eine persönliche Aufgabe – aber auch die Regierungen und die Politik müssen uns schützen. In gewisser Weise ist die Technologie eine Droge. Man gewöhnt sich leicht daran, geht nicht mehr ohne Smartphone aus dem Haus. Außerhalb von uns, im Web, existiert ein unerschöpflicher Reichtum – alles ist jederzeit abrufbar. Aber innerhalb von uns herrscht die Knappheit. Sinn und Zweck fehlen. Was ist der Sinn von uns? Die Technologie gaukelt uns vor: »Klicke hier, ich liefere dir alle Antworten.« Wir lassen uns pausenlos ablenken. Dafür entdecken wir nicht mehr das, was in uns steckt und uns umgibt. Natürlich kann ich mit dem iPad schnell mal Musik machen. Aber ist es das Gleiche, wie wenn ich lerne, Gitarre zu spielen? Wir brauchen bewusste Offline-Momente. Nur so erfahren wir, was uns ausmacht.

Im »Hoffnungsbarometer« von SwissFuture sind es immer wieder ähnliche Themen, die den Menschen Hoffnung geben: Gesundheit, gute Beziehungen, Sinnhaftigkeit …

Genau das sind die Dinge, die uns Menschen ausmachen. Mathematisch ist das nicht erfassbar. Deswegen ist es irreführend, wenn uns die Technologie zuruft: »Auf Facebook findest du 15 000 Freunde.« Dabei speichert Facebook nur Daten und leitet sie anderen weiter. Das kann hilfreich sein, hat aber wenig mit Freundschaft zu tun. Eine echte Beziehung kann ich maximal mit fünfzehn Leuten pflegen. Facebook soll unser Werkzeug sein, nicht wir das Werkzeug von Facebook.

In den USA bauten Sie ein Online-Musikgeschäft auf, sozusagen den Vorgänger von Spotify. Nach dem Börsencrash von 2001 waren Sie pleite.

Als ich als Musiker neben Joni Mitchell stand, spürte ich, dass ich nicht gut genug war, um weiterzukommen. Also musste ich etwas anderes finden. Ich entdeckte das Online-Business. Mit meinen Ideen war ich aber etwas zu früh. So hatte ich schließlich kein Geld mehr, dafür Zeit, um ein Buch über die Zukunft des Musikgeschäfts zu schreiben. Es legte die Basis für meine Karriere als Futurist.

Sind Sie als Futurist auch ein Prophet?

Ich vergleiche mich eher mit einem Therapeuten. Ich betrachte eine Situation von außen und gebe weiter, was ich beobachte. Das können Szenarien sein, die man nicht sehen will. Viele Konzernlenker haben niemanden, der sich traut, ihnen die Wahrheit zu sagen.

Welche Chancen sehen Sie für Unternehmen im deutschsprachigen Raum?

Sehr viele! Unser Problem ist aber, dass wir oft an einem Konzept festhalten wollen, nur weil es einmal funktioniert hat. In Süddeutschland stellt man Kupplungen und Getriebe her und feilt daran. Doch in zehn Jahren brauchen wir diese wohl nicht mehr, weil unsere Autos dann elektrisch fahren. Wir brauchen eine Kultur, die stärker in die Zukunft denkt. Es geht um einen Perspektivenwechsel. Künftig stehen Dienstleistungen und nicht Konstruktionen im Vordergrund. Darum müssen wir unsere Geschäftsfelder zum Erlebnis werden lassen.