Eva Häberle
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Helen Deacon

Trinkgeld, das die Welt bedeutet

Dankbarkeit ist Helen Deacons Geschäft. Doch sie macht damit keinen Profit, sondern will die Leben Tausender Arbeiter weltweit verbessern. Ihr Sozialunternehmen tip me ermöglicht es Onlinekunden, Trinkgelder zu geben – zum Beispiel an Näherinnen in Pakistan oder Fabrikarbeiter in Kenia.

Anna Lutz
Anna Lutz
8 min

Als sich ihr Leben für immer verändert, ist Helen Deacon neunzehn Jahre alt. Zum ersten Mal hat die Abiturientin ihr Zuhause verlassen. Denn sie will die Welt sehen, in eine neue Kultur eintauchen, lernen. Deacon beginnt, Deutsch und Englisch an einer Schule in Kolumbien zu unterrichten und lernt durch eine Freundin die Nichtregierungsorganisation TECHO kennen – und damit Menschen, die helfen, wo Not ist. Die Organisation arbeitet in den Armenvierteln der Metropole Medellin. Wer dort lebt, baut seine Hütten selbst aus allem, was er finden kann: Holzplanken, Plastikplanen, Wellblech. Fließendes Wasser gibt es nicht. Das nächste öffentliche Verkehrsmittel ist immer noch dreißig Minuten Fußweg entfernt. Die Hütten bestehen meist aus einem Raum, oft leben fünfköpfige Familien darin. In der Regenzeit fließt das Wasser den Berg hinab und verwandelt die unbefestigten Wege in Schlamm.

Wir haben ihnen einfache Holzhäuser gebaut – für sie bedeutete es die Welt!

Deacon ist hier, um mit anderen Freiwilligen Häuser zu bauen. Solche, die dem Regen standhalten. Mit Böden aus Holz und Dächern aus Wellblech. In den kommenden Monaten buddelt sie Löcher, versenkt Pfeiler darin, nagelt Planken zusammen und deckt Dächer. Sie schläft mit Isomatte und Schlafsack in Schulen, lernt die Menschen kennen, die in die Häuser einziehen – und mit ihnen ihre Geschichten. 

Ein würdevolles Leben ermöglichen

Seit knapp fünfzig Jahren tobt hier ein Bürgerkrieg, angeführt vor allem durch die Rebellen der FARC-Gruppe. Es ist das Jahr 2012, bis zum Friedensvertrag 2016 werden dem Kampf insgesamt 220 000 Menschen zum Opfer fallen. Millionen werden aus ihren Häusern vertrieben worden sein. Hier, am Rand von Medellin, beginnen viele Menschen ein neues Leben. So wie jene Frau mit neun Kindern, die Helen eines Tages davon berichtet, wie ihr Mann ermordet wurde. Bewaffnete Gruppen wollten das Holz der Region nutzen und schnitten alle Männer des Dorfes mit Motorsägen in Stücke. Oder wie jene alleinerziehende schwangere Frau, die sich vom Vater ihres ungeborenen Kindes getrennt hatte.

»Wir haben mit diesen Menschen einfache Holzhäuser gebaut. Drei mal sechs Meter groß. Aber für sie war es die Welt«, erinnert sich Deacon. Kolumbien ist ihr Ausgangspunkt, als die 31-Jährige berichtet, warum sie heute Geschäftsführerin des Sozialunternehmens tip me ist, das Arbeiter in globalen Lieferketten finanziell unterstützen soll. »Als ich diese Gemeinden und deren Menschen kennenlernen durfte, habe ich gemerkt, welche Privilegien ich eigentlich habe. Wie dankbar ich sein kann. Und dass ich diese Privilegien nutzen darf, um mehr Menschen ein würdevolles Leben ohne Armut zu ermöglichen.«  

Nach ihrer Rückkehr aus Kolumbien will sie weiter an der Lösung globaler Probleme arbeiten, studiert zunächst Kulturwissenschaften, später Friedensforschung und Sicherheitspolitik. Währenddessen baut sie in Deutschland einen Arbeitszweig von TECHO auf. Drei Jahre lang stellt Deacon bundesweit ein Team von rund hundert Freiwilligen zusammen und koordiniert deren Arbeit. TECHO Deutschland sammelt Spenden und sensibilisiert für die Arbeit in Lateinamerika, etwa durch Verkaufsstände auf Märkten oder selbstorganisierte Ausstellungen. »Nach meiner Erfahrung in Kolumbien war für mich klar: Ich möchte meine Zeit in ein Projekt stecken, das Menschen hilft und die globale soziale Ungerechtigkeit reduziert. Die reichsten zehn Prozent besitzen 84 Prozent des Geldes, während andere Menschen nicht wissen, wie sie durch den Tag kommen. Das müssen wir doch verändern!«

Die Welt verändern

2019, nach einer freien Mitarbeit im Auswärtigen Amt und einer Anstellung bei einer NGO, trifft Deacon auf einer Konferenz in Berlin Jonathan Funke. Sie reden im Fahrstuhl kurz miteinander, Funke ist auf dem Weg zu seiner eigenen Präsentation. Vor anderen jungen Sozialunternehmern soll er die Idee für sein Projekt tip me vorstellen. Deacon verpasst den ersten Teil, doch die wenigen Minuten, die sie vom Pitch mitbekommt, reichen ihr. Funkes Ansatz ist genau das, was sie seit ihrer Zeit bei TECHO wiederfinden wollte: eine gute Idee im Anfangsstadium, die sich zu einem Projekt mit Wirkung ausbauen lässt. Eines, bei dem man selbstständig und frei arbeiten kann.

tip me soll das Leben nicht privilegierter Menschen besser machen.

tip me soll das Leben nicht privilegierter Menschen weltweit ein Stück besser machen – durch ein einfaches Prinzip: Wer kauft, kann zeigen, dass er dankbar für die Arbeit der Näher oder Arbeiter ist, die die Produkte herstellen, und ihnen direkt Trinkgeld nach Vietnam, Kenia, Pakistan oder in die Ukraine schicken. Modeanbieter können dazu ein Widget in ihren Onlineshop einbauen. Auf der Produktseite oder im Checkout wird das Foto einer Näherin gezeigt, verbunden mit der Frage: Möchtest du Trinkgeld geben? Entscheidet sich der Käufer dafür, sammelt das Unternehmen das Geld sechs Monate lang in einem Pool und verteilt es dann gemeinsam mit tip me fair an die Arbeiter. Diese erhalten das Geld in der Regel entweder direkt auf ihr Bank- oder Mobile-Money-Konto. tip me steht in direktem Kontakt mit den Arbeitern und überprüft, ob sie das Geld auch wirklich erhalten. Damit hundert Prozent der Trinkgelder vor Ort ankommen, verpflichten sich die Marken, die Partner von tip me werden wollen, zu einem monatlichen Beitrag. 

Eine Schuhfabrik in Pakistan

Helen Deacon erinnert sich an ihre Begeisterung, als sie zum ersten Mal von der Idee hörte: »Ich dachte nur: Wow! Wenn das nur dreißig oder vierzig Prozent der Käufer in allen gut besuchten Shops nutzen, dann verändern wir die Welt. Globale Umverteilung von Reichtum würde Wirklichkeit.« Ab diesem Tag ist es abgemacht: Funke und Deacon wol- len zusammenarbeiten. Ein Gründungsstipendium ermöglicht den Start ein Jahr später und schließlich den Einstieg in den Markt. 

2019 binden sich die ersten Marken an tip me, darunter der faire Turnschuhhersteller Ethletic mit einer Produktionsstätte in Pakistan. Sie steigt zusammen mit Funke und einem zweiten Mitgründer in den Flieger nach Asien. Kurze Zeit später steht sie am Eingangstor eines großen Produktionsgeländes, in dem Hunderte Arbeiter Platz finden. Sie hört das Rattern der Nähmaschinen, sieht die geübten Handgriffe der Mitarbeiter. Die meisten von ihnen sind männlich, etwa zehn Prozent Frauen. Sie arbeiten wie am Fließband, der eine schneidet die Stoffe aus, der Nächste näht sie zusammen, dann werden die Sohlen befestigt und der Schuh wird ganz am Ende erhitzt, damit alles zusammenhält. Die Herzlichkeit, die Lebendigkeit der Straßen, die Schere zwischen Arm und Reich erinnern Deacon an Kolumbien. 

Doch sie weiß auch, dass Ethletic ein Fairtrade-Produzent ist, der Wert auf gute Arbeits- und Lebensbedingungen der Mitarbeiter legt. Als sie einige Arbeiter fragt, welche Botschaft sie mit nach Deutschland tragen soll, sagen diese: »Nutzt unsere Produkte, seid dankbar dafür, wir haben viel Arbeit hineingesteckt. Kauft sie, wir brauchen unsere Jobs.« In Zeiten, in denen mehr Kunden darauf achten, woher Produkte stammen, liegt für viele der Schluss nahe, nur noch zu kaufen, was in Europa und damit mutmaßlich gerecht produziert wird. »Ich bin mir aber sicher, es gibt in jedem Land gute und schlechte Fabriken, auch in Bangladesch und Kenia.« Besser sei es, Zeit zu investieren, um auf den Webseiten der Unternehmen zu recherchieren, ob faire Bedingungen gegeben sind. Und einen Tipp hat sie für Verbraucher, auch wenn der simpel klingt: »Kauft nur, was ihr braucht, und wenn es neu sein muss, dann nicht zu günstig. Dumpingpreise helfen keinem Arbeiter.«

Pandemie und Schicksalsschläge

Nach Pakistan konnte Deacon keine weitere Fabrik mehr besuchen. Mit der Pandemie kamen die Reisebeschränkungen, mit den Beschränkungen und dem Krieg in der Ukraine die Inflation. Die Bedingungen für ein Start-up waren in den letzten Jahren denkbar schwer. Zudem erlebt die Gründerin eine weitere ungeahnte Wendung: Jonathan Funke steigt Ende 2022 aus dem Unternehmen aus, wegen eines Hirntumors. Er kann zwar erfolgreich operiert werden, aber die unsichere Arbeit als CEO eines jungen Sozialunternehmens kann und will er nicht mehr leisten. Deacon übernimmt – und das in denkbar stürmischen Zeiten. »Das alles – der Tumor von Jonathan, die notwendige Umstrukturierung im Unternehmen, hat mich daran erinnert, wie fragil das Leben sein kann. Und wieder einmal daran, wir dankbar wir sein müssen für das, was wir haben«, sagt Deacon. 

Nun arbeitet sie daran, tip me auf eine sichere Basis zu stellen. Die Gründungszuschüsse sind ausgelaufen, vieles musste neu geregelt werden. Derzeit hat das Unternehmen vierzehn Partnermarken aus Food und Fashion, seit Neuestem auch den Sockenhersteller Snocks, der die Trinkgelder bis 35 000 Euro sogar verdoppelt. Geld, das überall dringend gebraucht wird, weiß Deacon, die über soziale Medien und Messenger in direktem Kontakt mit den Arbeitern in den beteiligten Fabriken steht: »Viele klagen über die Inflation. Alles ist teurer und zugleich kaufen die Kunden in Europa weniger. Damit reduzieren sich auch teilweise die Trinkgelder«, berichtet sie. »Zudem haben viele Unternehmen während der Coronapandemie ihre Aufträge gecancelt, teils produzierte Ware nicht mehr abgenommen. Viele Arbeiter hatten durch die Lockdowns keine Einkünfte mehr. Manche konnten dadurch nicht einmal mehr ihre Familien auf dem Land besuchen. 

Corona hat auch das Reisen erschwert, aber schon bald will Deacon wieder anfangen, Fabriken und Menschen vor Ort zu besuchen – in Kenia, Pakistan oder vielleicht auch Vietnam. Wie schon als Neunzehnjährige will sie in Kontakt sein mit jenen auf der anderen Seite der Welt. Will lernen, wie tip me noch mehr Menschen erreichen kann und was vor Ort wirklich gebraucht wird.

Eine Reise machte Deacon 2021 aber doch, trotz Pandemie: Sie besuchte Kolumbien. Dort traf sie sich mit jener Frau, die 2012 schwanger war und deren Haus sie baute. Ihr Sohn ist heute zehn Jahre alt und Deacons Patenkind. Sie durfte damals sogar seinen Namen aussuchen: Samuel. Bis heute schickt sie der Kolumbianerin gelegentlich Geld. 2021 gingen sie zusammen essen und in den Nationalpark. Dinge, die die kleine Familie noch nie zuvor gemacht hatte. Wenn man so will, ist das auch das Prinzip hinter tip me: wenige Euros, nur ein Trinkgeld, das Dankbarkeit symbolisiert. Aber für jene in den Fabriken weltweit kann es die Welt bedeuten.

Helen Deacon

Helen Deacon

Helen Deacon (31) hat Kulturwissenschaften sowie Friedensforschung und Sicherheitspolitik studiert. Als Neunzehnjährige arbeitete sie ein Jahr in Kolumbien für Nichtregierungsorganisationen. Bevor sie mit anderen »tip me« gründete, etablierte sie die NGO »TECHO« in Deutschland. Seit 2022 ist sie Geschäftsführerin von »tip me«. Ihr Herz schlägt für Fairness auf dem globalen Markt und für Kolumbien. Sie lebt mit ihrer Tochter und ihrem Partner in Berlin.