Elisabeth Schirmer
Von Hundert auf Null
Schon mit 27 Jahren hat Elisabeth Schirmer rund 700 Leute in ihrem Unternehmen geführt. Beruflich wie privat schien ihr der Erfolg leicht von der Hand zu gehen. Bis zum 28. Februar 2020 – als sie alle Kräfte verließen.
Äußerlich betrachtet schien das Leben von Elisabeth Schirmer perfekt. Als Geschäftsleitungsmitglied des Schweizer Uhrenwerkunternehmens Ronda galt sie als Vorzeigekaderfrau im Kanton Baselland und gefragte Kraft in einer Männergeschäftswelt. Sie wurde in den »Fachhochschulrat beider Basel« aufgenommen. Und bald auch als Firmenkunden-vertreterin in den Bankrat der ansäßigen Kantonalbank vorgeschlagen. Das Haus mit Swimmingpool am Südhang hoch über dem Dorf, drei erwachsene Kinder auf guter beruflicher Laufbahn – eine Demonstration des Glücks im Leben. Selbst Elisabeth Schirmers spirituelle Ebene ist genährt: Balance durch Glauben und Gebet im Leben.
Plötzlich wichen alle Kräfte aus ihrem Körper.
Wer die Ü60-Unternehmerfrau aber näher kennt, weiß, dass ihre Laufbahn nicht ebenerdig und rumpelfrei, sondern von Schicksalsschlägen durchzogen ist. Da gab es familiäre Zwischenfälle. Zu bewältigen waren personelle und finanzielle Probleme der Uhrwerkfirma in einer Branche, die krisengeschüttelt ist wie kaum eine zweite in der Schweiz. Kein Schicksal hat aber derart hart zugeschlagen, wie jenes am 28. Februar 2020. Der Zeitpunkt hat sich bei Elisabeth Schirmer wie ein Geburtsdatum eingeprägt.
Sie stand an diesem Freitagnachmittag in der Wohnküche, als sie einem Reizhusten nachgab. Da wollte ein unscheinbares Blutgefäß, das sich noch nie bemerkbar gemacht hatte, nahe am Rückenmark im Körper der starken Frau seine Funktion aufgeben. Es platzte. Blut drang in den Spinalkanal, gerann und drückte innerhalb von Minuten auf die zentrale Nervenbahn. Schirmer schleppte sich knapp aufs Bett, sprach noch: »Jesus steh mir bei.« Da verließen die Kräfte ihren Körper und unbändige Schmerzen setzten ein. Sie war gelähmt.
Sprung ins kalte Wasser
Aufgewachsen ist Elisabeth Schirmer in einer klassischen schweizerischen Unternehmerfamilie. Ihre Mutter war das Epizentrum der Familie, ihr Vater wie ein Patron in der Ronda, die er 1946 gründete, und die inzwischen Uhrwerke für zahlreiche Marken wie Victorinox, TAG Heuer, Fossil oder Shinola herstellt. Schirmer ist ein Uhrenfan und besitzt so viele Uhren wie andere Frauen Schuhe.
Als das Ältere von zwei Kindern schien die Laufbahn von Elisabeth Schirmer vorherbestimmt. Nach dem Wirtschaftsstudium und einem Aufenthalt in den USA kam sie als 24-Jährige ins elterliche Unternehmen an die Seite ihres Vaters. Drei Jahre später starb er unerwartet. Schirmer musste das Ruder – der Bruder war noch in Ausbildung – ganz in ihre Hände nehmen und führte das Unternehmen mit ihrem Mann, einem Ingenieur, den sie in der Firma kennenlernte. Nach seiner Ausbildung stieß auch ihr Bruder als Vorsitzender der Geschäftsleitung hinzu. Im Team steuerte sie die Ronda-Gruppe in neue Gewässer.
Mittlerweile beschäftigt Ronda mit Niederlassungen im Tessin, in Hongkong und Thailand über tausend Mitarbeitende. Elisabeth Schirmer hat das Geschick des Familienunternehmens inzwischen einem ihrer Söhne übergeben, ist aber im Verwaltungsrat geblieben.
Ich spürte ein Gehaltensein in allem Ungewissen.
Mit dem Rettungswagen wurde sie am 28. Februar ins nahe Krankenhaus in Liestal gefahren. Die Kontrolle über ihren Unterleib hatte Schirmer verloren, bauchnabelabwärts spürte sie nichts mehr, die lebenswichtigen Organe wie Blase und Darm waren bedroht. Das starke Opiat Morphin vermochte die Schmerzen nicht mehr zu betäuben. Das Krankenhaus befand sich in der Chaosphase, die der ausgerufene Lockdown der Schweiz in der CoronaPandemie mit sich brachte. Die Ärzte, angestrengt und auch ratlos, transferierten Schirmer ins sechzehn Kilometer entfernte Universitätsspital in Basel, wo der spezialisierte Chefarzt bereits nicht mehr anwesend war.
Leidensfähig statt leistungsfähig
Dort schob man Elisabeth Schirmer in den Computertomografen. In diesem engen, lärmenden Ring, in dem man sich nicht einen Millimeter bewegen und dem Leiden nicht ausweichen darf, gab es nichts mehr zu denken, wie sie erzählt. Aber im Unbewussten trug sie das durch, was sie von Kind auf gelernt hatte und ihre Mutter ihr beigebracht hatte: »Egal, was passiert, mein Vater im Himmel sorgt für mich und hat alles unter Kontrolle.«
Ein eindeutiges Bild hatte die CT-Maschine nicht geliefert – außer einem dunklen Flecken entlang des obersten Lendenwirbels bis zur Mitte der Brustwirbel. War es ein Tumor? Aufmachen und nachschauen – das war die Schlussfolgerung der Mediziner. Sollte Schirmer von weniger fachkundigen Ärzten gleich unters Messer genommen werden oder warten und das Risiko eines nervlichen Dauerschadens in Kauf nehmen? Vor einer solchen Entscheidung stand die Unternehmerfrau und wusste nur eines: »Mein Schicksal liegt in Gottes Händen.« Also nahm sie die Hände der beiden anwesenden Spinalchirurginnen in ihre und betete laut mit den verdutzten Ärztinnen, die das aber bereitwillig mit sich geschehen ließen. Dabei stellte sie deren Hände unter den Schutz des Allmächtigen und betete, dass Gottes Wille geschehe. Dann versank Schirmer in der Narkose. Es war inzwischen zwei Uhr morgens geworden.
Dieser Schicksalsschlag hat Spuren im Bewusstsein und im Glaubensleben der umtriebigen Geschäftsfrau hinterlassen. »Meine Leidensfähigkeit ist gewachsen und sie wächst, wenn ich in Gott bleibe«, sagt sie. Jesus, der für die Menschen am Kreuz gelitten hat und Schmerzen bis in den Tod getragen hat, ist ihr dabei nahegekommen: »Ich spürte einen tiefen inneren Frieden, ein Gehaltensein in allem Ungewissen.« Die Operation konnte nun erfolgreich oder nicht erfolgreich ausgehen – Schirmer zitiert den Geigenbauer Martin Schleske: »Zu wissen, dass mein Leben anders sein darf, als ich es mir wünsche, und zu wissen, dass auch Gott anders sein darf, als mein Glaube es ihm erlauben will – das ist die Verneigung meiner Seele vor Gott.« Wenn sie heute diesen Satz jenen Leuten schreibt, denen sie über ihr Schicksal berichtet, setzt sie ein dickes Smiley an das Satzende.
Abendmahl im Krankenbett
Die Ärzte haben auf einer Länge von rund 25 Zentimetern das geronnene Blut aus dem Rückenmarkkanal abgesaugt. Dazu mussten sie vier Wirbel-Dornfortsätze abfräsen, was eine lange Narbe am Rücken hinterließ. Eine Woche lang hütete Schirmer nur das Bett. So starrte die früher so rastlose Geschäftsfrau, die Leistung verlangte und Leistung erbrachte, an die Decke und grübelte zuerst über die Metaphern »Gerechtigkeit« und »Selbstmitleid«, dann in einer schlaflosen Nacht über ein Bibelwort: »Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.« Was bloß bedeutete »alles«? Die himmlische Antwort traf um zwei Uhr nachts per SMS ein – jemand sandte ihr genau diesen Vers: »Das richtete mich auf und gab mir immer wieder Trost.« Und viele Bekannte beteten für sie.
Bald darauf bestellte sich Schirmer einen Schluck Wein und einen Bissen Brot ans Spitalbett, um das Abendmahl feiern zu können, um aus Dankbarkeit in die Gemeinschaft mit Christus treten zu können. Ob einer Patientin nach dieser Operation Alkohol zugemutet werden darf? Ein verblüffter Pfleger brachte ihr eine ganze Flasche Wein ans Bett und meinte: »Das ist doch cool, jetzt können Sie die ganze Woche Abendmahl feiern.«
Zur künftigen Fortbewegung erhielt Elisabeth Schirmer einen Rollstuhl. Wird sie je wieder gehen können? Sie hatte Zeit, »mit Gott zu reden«. Unendlich Zeit. Nicht dass sie von ihren Gebeten eine fixe Heilung erwartet oder abhängig gemacht hätte. Vielmehr hätten diese Gespräche mit Gott zu einer Vertiefung der Beziehung zum Himmlischen geführt. Sie drückt es heute so aus: »Das Gebet hilft mir, gelassener zu werden.« Heute würde sie nur dort kämpfen, wo sie selber etwas verändern könne. »Diese Fokussierung ist wichtig.«
Sanfte Revolution am Ohr
Dem Wort »Fokussierung« folgten Taten. Elisabeth Schirmer ist kürzergetreten und hat einige Mandate aufgegeben. »Mein Wert hängt nicht von der Leistung ab, die ich erbringe. Ich bin unabhängig von meiner Tätigkeit von Gott geliebt.« Neben dem Verwaltungsratsmandat im Familienunternehmen bleibt noch das Engagement im familiären Start-up »Baqless«, das von ihrer Schwiegertochter und ihrem jüngsten Sohn geführt wird. Das Produkt »Ohrstecker« basiert auf einer Innovation, die fast nicht sichtbar ist: ein Dreh- und Schiebegelenk im Stift eines Steckers ist so klein, dass es in einem Nadelöhr Platz findet. Damit spart man sich die Verschlüsse, die so gerne verloren gehen. »Baqless« (backless – rückenfrei) heißt das Patent und wird vorab online angeboten.
»Übers Gebet lerne ich Gott und meine Gedanken über ihn kennen«, sagt Elisabeth Schirmer. Auch darum setzte sie sich in der eigenen Firma wie als Bankrätin und Bankratspräsidentin stets für Transparenz ein: »Es braucht Mut, sich dem Zeitgeist entgegenzustellen. Aber ich will nicht resigniert aushalten, sondern mit Gottes Hilfe überwinden.«
In der Physiotherapie machte sie Fortschritte und tauschte den Rollstuhl nach zwei Wochen gegen einen Rollator, der fünf Wochen lang im Basler Rehabilitationszentrum für Querschnittgelähmte zu ihrem Begleiter wurde. Das gab trotz der starken Nervenschmerzen Kraft für den nächsten Schritt. Sie übte Treppenlaufen, vor allem, wenn sie nachts nicht mehr schlafen konnte. Rauf und runter; rauf und runter. Bald meldete sich wieder ihr Durchsetzungsvermögen. Schirmer entließ sich gegen den Willen der Ärzte selber aus dem Krankenhaus, als sie vermuten musste, dass sie zu Hause schneller genesen könnte. Heute stehen zwei sportliche Walking-Gehstöcke vor der Haustür. So gesundet, wollte sie so schnell wie möglich von den Opiaten frei werden. Sie sagt: »Heute bin ich fast medikamentenfrei. Die Ärzte staunen. Gott ist gut.«
Elisabeth Schirmer
Nach einem Wirtschaftsstudium stieg Elisabeth Schirmer (62) beim Schweizer Fabrikanten für Präzisionsuhrwerke Ronda ein. Doch unerwartet starb ihr Vater, der Firmengründer, und sie musste das Ruder übernehmen. Um Zeit für ihre drei Kinder zu haben, zog sie sich in den Verwaltungsrat zurück. Im Lauf der Zeit engagierte sich Schirmer auch im Vorstand der Handelskammer, im Fachhochschulrat sowie als Präsidentin der Basellandschaftlichen Kantonalbank und in christlichen Organisationen. Mittlerweile hat sie die operative Führung der Ronda der dritten Generation anvertraut.