Rudi Toews
©

Johannes Hartl

Was bringt es zu beten, Herr Gebetsexperte?

Das Gebet ist für viele ein unergründliches Mysterium. Man könnte 99 Fragen dazu stellen, ganze Bücherregale, wenn nicht gar Bibliotheken zurate ziehen. Oder man fragt Johannes Hartl, promovierter katholischer Theologe, Philosoph und Germanist. Er gründete das Gebetshaus Augsburg, in dem seit 2012 rund um die Uhr gebetet wird. Hartl sagt: Beten ist ganz einfach. Wir haben uns auf 35 Fragen beschränkt.

Simon Jahn
Simon Jahn
8 min

 Herr Hartl, eigentlich wollten Sie Mönch werden, entschieden sich dann aber fürs Heiraten. Heute sind Sie ein weltweit gefragter Redner und Autor. Ironie des Schicksals oder Fügung Gottes?

Es ist eine augenzwinkernde Fügung Gottes, dass ich in so etwas wie einem modernen Kloster leben und das Beste aus beiden Welten verbinden kann. 

Ist die Unwissenheit über das Zwiegespräch mit Gott so groß, dass es neben der Kirche noch Gebetserklärer wie Sie braucht?

Ich spüre bei vielen Menschen eine wahnsinnig große Sehnsucht nach Sinn und Spiritualität. Und diese sieht heute anders aus, als man es oft mit klassischer Kirche verbindet. Darum brauchen wir neue Formen, um Menschen in Kontakt nach oben zu bringen.

Glauben ist immer ein Wagnis, aber das ist auch das Schöne daran.

Was ist überhaupt ein Gebet?

Ein Herz-zu-Herz mit einem allmächtigen, liebenden größeren Wesen.

Darf ich auch beten, wenn ich nicht an Gott glaube?

De facto beten sehr viele Menschen, die sich nicht als gläubig bezeich- nen. Beten ist etwas so Natürliches, dass es früher kommt als Religion.

Macht es einen Unterschied, ob ich zu Gott oder zum Universum bete?

Ob ich zu einer Person oder zu einer unpersönlichen Größe bete, macht einen großen Unterschied. Zu glauben, dass wir als Personen einen unpersönlichen Ursprung haben, finde ich nicht überzeugend.

Und was ist mit Göttern anderer Religionen?

Das Besondere an der jüdischen und christlichen Gottesvorstellung ist, dass Gott Du zu mir sagt und ich Du zu ihm sagen kann. Diese persönliche Beziehung schon fast auf Augenhöhe ist mir in keiner anderen Religion bekannt.

Woher weiß ich, dass ich nicht nur Selbstgespräche führe?

Das kann man nie wissen. Glauben ist immer ein Wagnis, aber das ist auch das Schöne daran. Es ist nichts, was man einfach rational einordnen und völlig kontrollieren kann.

Wenn Gebet eine Art Gespräch ist – antwortet Gott auch?

Viele Menschen haben diese Erfahrung auf jeden Fall gemacht. Man kann es nicht beweisen. Aber ich behaupte: Jeder, der anfängt zu beten, macht früher oder später die Erfahrung, dass da eine Resonanz ist. Nicht unbedingt wie eine Stimme, die aus dem Himmel spricht, aber ein starkes Bewusstsein, dass das Gebet nicht ins Leere läuft.

Wie kann ich wissen, was Gott antwortet?

So wie die Seele jedes Menschen unterschiedlich ist, spricht auch Gott ganz verschieden. Ich würde jeden einladen, folgendes Experiment zu machen: Fange einfach an zu beten und schaue, auf welche Weise da eine Antwort kommen kann.

Wieso hat Gott Interesse daran, mit uns zu reden?

Weil er die Liebe ist. Und Liebe sehnt sich nach einem Gespräch.

Was bringt es mir überhaupt zu beten?

Beten hat nachweislich positive Auswirkungen, die von vielen psychologischen Studien erforscht wurden. Letztlich geht es aber um noch mehr als Auswirkungen. Wir Menschen können ohne Sinn nicht leben. Und Sinn ist immer mehr als das, was mir unmittelbar nutzt. Das gilt auch fürs Gebet. Es ist der tiefste Ausdruck von dem, wie wir Menschen zu etwas Höherem hin geschaffen sind.

Die Bibel bezeichnet Gott als Einheit von Vater, Sohn Jesus und dem Heiligen Geist – an wen soll ich mich denn wenden?

An den, der dem Herzen in dem Moment am nächsten ist.

Wie förmlich sollte ich Gott ansprechen?

In erster Linie herzlich und persönlich.

Darf ich Gott im Gebet auch anklagen?

Natürlich. Die Psalmen in der Bibel sind voll von Anklagen.

Sollte man zum Beten die Hände falten und die Augen schließen?

Ich würde eine Körperhaltung suchen, die es einem leicht macht, innerlich zur Ruhe zu kommen.

Kann ich mit Gott in einer Kirche besser sprechen als woanders?

Manche Menschen schon. Auch hier würde ich einen Ort suchen, der es einem leicht macht.

Kann Stille auch Gebet sein?

Absolut, solange Stille nicht ein Um-sich-selbst-Kreisen in Gedanken ist, sondern eine Offenheit für das Gegenüber.

Was ist der Unterschied zwischen Meditation und Gebet?

Gebet hat ein persönliches Du, Meditation nicht.

Wofür sollte ich beten?

Jesus lehrt uns, dass wir für unsere Feinde beten sollen. Wenn ich auch für Menschen beten kann, die mich nerven, ist Gebet für mich nicht nur ein Egotrip, sondern ich wachse in der Liebe. Und darum geht es letztlich.

Gibt es ein absolutes No-Go beim Beten?

Ja, zu denken, wenn ich lange genug den Himmel anflehe, bekomme ich meine egoistischen Wünsche erfüllt. Das ist kein Beten, das ist Magie.

Warum hatte es Jesus als Sohn Gottes auch nötig zu beten?

Zum einen, weil er auch wahrer Mensch war: Er hat wie wir geglaubt, gearbeitet, gebetet. Zum anderen, um uns ein gutes Beispiel zu geben. Er hat ein Leben aus dem Gebet geführt.

Wie wichtig ist das Vaterunser, das Jesus seinen Nachfolgern als Mustergebet gegeben hat?

Wenn es als Mustergebet verwendet wird, wunderbar. Wenn es zu einer starren Formel verkommt, würde ich es durch persönliche Worte ersetzen.

Die Bibel enthält viele Gebete. Haben Sie einen Favoriten?

Momentan liebe ich den Psalm 139 besonders. Er beschreibt, dass Gott vertraut ist mit meinen intimsten Gedanken und mein Inneres kennt. Das fasziniert mich.

Wie sind Sie selbst zum Beten gekommen?

Ich hatte als Teenager eine Erfahrung, die für mich ein für alle Mal geklärt hat, dass es Gott gibt und dass er mich liebt. Damals hatte ich so viel Sehnsucht, diesen Gott näher kennenzulernen, dass ich es einfach ausprobiert habe, jeden Tag zu beten. Und das hatte relativ bald sehr starke Auswirkungen auf mein Leben.

Wenn ich für Menschen bete, die mich nerven, wachse ich in der Liebe.

Gibt es ein Gebet, das Sie täglich beten?

Ja, das Jesusgebet der orthodoxen Kirche. Dabei spricht man einfach den Namen Jesus langsam und meditativ aus. Das bete ich oft am Tag.

Was hat Sie Ihr Theologiestudium über das Gebet gelehrt?

Leider nicht viel, außer dass viele Theologen wenig vom Gebet halten.

Wie kamen Sie auf die Idee, ein Gebetshaus zu gründen?

Als ich frisch entflammt war für den Glauben, merkte ich, dass andere Jugendliche in meiner Umgebung ebenfalls davon fasziniert waren. So entstand eine kleine Jugendbewegung. Zusammen haben wir ausprobiert, länger am Stück mit Musik und viel Kreativität zu beten. Das hat unglaublich viel Spaß gemacht. Und so begann in mir ein Traum zu leben: Wie wäre es, wenn es einen Ort gäbe, wo bei Tag und Nacht immer jemand betet? 2005 lernte ich dann in Amerika ein Projekt namens »House of Prayer« kennen und stellte fest: »Das gibts in echt!« Dieses Konzept habe ich auf Europa angepasst und einfach angefangen. Ich war erstaunt, wie schnell es eine große Reichweite bekam.

Im Gebetshaus Augsburg beten Menschen rund um die Uhr. Wird das nicht langweilig?

Die Frage ist für mich so wie die Frage, ob Liebe jemals langweilig wird. Ich würde sagen, es wird immer tiefer.

Wie kann man sich das Nonstop-Gebet im Gebetshaus vorstellen?

Es läuft sehr frei und lebendig ab, mit viel Musik. Gäste können rund um die Uhr kommen. Und die Leute unseres rund fünfzigköpfigen Mitarbeiterteams wechseln sich stündlich ab. Man kann sich reinsetzen und auch nur zuhören. Niemand ist gezwungen, etwas mitzumachen.

Zu beten lernt man nur, indem man es praktiziert.

Warum veranstaltet das Gebetshaus die SCHØN Konferenz, bei der es um Kunst und Kreativität geht?

In der Kunst geht es auch um etwas, das sich nicht rentiert, sondern das man macht, einfach weil es schön ist. Beim Gebet ist das so ähnlich. Es rentiert sich vordergründig nicht, aber entspringt der tiefsten Faszination des Menschen für etwas Höheres. Tatsächlich glauben wir, dass Gott die Quelle aller Schönheit ist. 

Hätten Sie sich früher jemals zu träumen gewagt, dass die Idee des Gebetshauses einmal so große Kreise zieht?

Dass wir heute Tausende oder Zehntausende versammeln, hätte ich nie gedacht. Besonders nicht, dass es so schnell geht.

Haben Sie selbst schon Gebetsenttäuschungen erlebt?

Ständig. Aber häufig war ich im Rückblick froh darum, weil das, worum ich gebetet habe, sich im Nachhinein als nicht besonders klug erwiesen hat. Deswegen sehe ich es inzwischen nüchterner, wenn mal nicht alles so läuft, wie ich es mir vorgestellt habe.

Wie gehen Sie damit um?

Ich beschwere mich bei Gott, trauere ein bisschen, gehe aber davon aus, dass ich in einem halben Jahr im Rückblick ganz zufrieden damit sein werden, wie es gelaufen ist. Das habe ich nämlich schon oft erlebt.

Was war Ihre größte Gebetserhörung?

Ich habe spektakuläre Gebetserhörungen erlebt. Aber ich erzähle lieber die lustigste: Kurz nachdem wir unser kleines Reihenhaus gekauft hatten, beschlossen unsere Kinder, dass sie für den Sommerurlaub eine Flugreise zu einem Hotel am Meer wollen. Als von Spenden lebende sechsköpfige Familie war das für uns finanziell aber überhaupt nicht drin. Ich sagte zu ihnen: »Ihr könnt ja dafür beten, dass uns jemand eine Flugreise schenkt.« So setzten wir ein Datum fest, bis wann wir eine solche Zusage brauchen würden. Genau einen Tag vor Ablauf dieses Datums kontaktierte mich auf Facebook jemand, der mich noch nicht einmal kannte. Er schrieb, dass er mir eine Flugreise schenken wolle – egal wohin. Letztendlich haben wir dann einen zweiwöchigen Urlaub in einem Luxushotel auf den Seychellen verbracht. Und unsere Kinder waren einfach nur geplättet.

Haben Sie noch einen Tipp für Gebetsanfänger?

Zu beten lernt man nur, indem man es praktiziert. Das Wichtigste ist darum, einfach mal anzufangen und sich jeden Tag zehn Minuten Zeit dafür zu nehmen. Am besten morgens und das drei Wochen lang. Und dann schauen, was sich tut. Meine Erfahrung: Es wird sich unfassbar viel verändern.

Johannes Hartl

Johannes Hartl

Johannes Hartl (41) steht wie kaum ein anderer im deutschsprachigen Raum für einen modernen, kreativen katholischen Glauben. Er gründete 2005 mit seiner Frau Jutta das erste Gebetshaus Deutschlands in Augsburg, dem etliche Nacheiferer folgten. Der Germanist, Philosoph und promovierte Theologe ist nicht nur ein international gefragter Redner. Er musiziert, komponiert, malt und schreibt Bücher. 2020 war Hartl Mitinitiator der Aktion »Deutschland betet gemeinsam«, an der sich über eine halbe Million Menschen online beteiligten. Mit seiner Frau und den vier Kindern wohnt er in Augsburg.