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Anna Philipp

Was ist Schönheit, Frau Architektin?

Anna Philipp ist kein Wellnessguru. Gleichwohl ist die Architektin in der elften Generation eine Meisterin darin, Orte zu schaffen, an denen Menschen auftanken und sogar ein Stück Ewigkeit berühren können.

Simon Jahn
Simon Jahn
11 min

Frau Philipp, haben Sie heute schon genossen?

Ja, ich habe gerade Urlaub. So konnte ich in aller Ruhe meinen Kaffee genießen und entspannt in den Tag starten. Das ist nicht immer so.

Was bedeutet Genuss für Sie?

Genuss heißt für mich Leben schmecken. Es ist ein innerer Ort, an dem ich ankomme in meinem Sein. Wir leben heute in einer Welt, in der wir ständig funktionieren müssen. Und ich glaube, da braucht es wieder mehr Schönheit und Genuss als Gegengewicht. Sie sind wie ein Schlüssel in unser Innerstes. Sie helfen der Seele aufzutanken.

Schöne Orte sind von jeher ein zentrales Thema in Ihrem Leben gewesen …

Unsere Familie hat sich seit elf Generationen der Architektur verschrieben. Das war immer präsent. Ich bin aufgewachsen in einem von meinem Vater entworfenen Haus, das keine rechten Winkel hat, nur 30/60-Grad-Winkel, wie sie in der Natur, etwa bei Bienenwaben, vorkommen. Diese ungewöhnliche, freie Umgebung hat es mir später leicht gemacht, out of the box zu denken und kreativ zu werden.

Woher wussten Sie, dass Sie Architektin werden wollten?

Das habe ich schon von klein auf gesagt. Ich hatte eine lebhafte Fantasie und konnte bereits als Kind in meinen Gedanken Räume malen. Das ist eine gute Voraussetzung. Durch meinen Vater war ich auch mit allen Themen und Schwierigkeiten des Berufs gut vertraut. Vonseiten meiner Eltern gab es da aber überhaupt keinen Druck, in diese Fußstapfen zu treten. 

Was reizt Sie besonders an dem Beruf?

Der griechische Wortstamm von Architektur bedeutet »erste Kunst« und »erstes Handwerk«. Diese Verbindung des Handwerklichen und des Künstlerischen finde ich das Schöne an dem Beruf. Es beginnt im Kopf, in der Fantasie, und zwei, drei Jahre später betritt man den Ort, der dann von Menschen erfüllt, geprägt und verändert wird.

Wie stark hat Sie Ihr Vater auf Ihrem Weg beeinflusst?

Er war natürlich der Türöffner in den Beruf, aber ich habe letztlich eine ganz eigene Architektursprache entwickelt. Und das finde ich auch wichtig als Nachfolgerin. Mein Vater hat mir und meinem Bruder extrem viel Freiheit gegeben. Er hat sich schon früh zurückgenommen und uns das Büro übergeben. Aber er war für uns wie ein Back-up, ein Sicherheitsnetz im Hintergrund.

Schon während des ersten Semesters Ihres Architekturstudiums konnten Sie Ihr erstes Haus bauen …

Die Chance zu studieren und dabei groß denken zu lernen und gleichzeitig bereits eigene Projekte in der Praxis umzusetzen – das war schon ein Riesenprivileg.

Genuss ist ein innerer Ort, an dem ich ankomme in meinem Sein.

Trotzdem haben Sie nach Ihrem Abschluss dem elterlichen Betrieb den Rücken gekehrt …

Die Entscheidung, erst einmal in Zürich in Architekturbüros zu arbeiten, habe ich ganz bewusst getroffen. Ich wollte nicht nur die Tochter sein, sondern meinen eigenen Weg finden.

Dann sind Sie aber doch nach Hohenlohe zurückgekehrt und haben gemeinsam mit Ihrem Bruder das Familienunternehmen übernommen …

Auf so einem Fundament aufzubauen, war eine einmalige Chance. Außerdem liebe ich meine Heimat in Hohenlohe.

Sind Sie der betrieblichen Ausrichtung treu geblieben?

Mein Vater hat viele Villen und Kirchen entworfen. Diesen Weg haben wir anfangs weiterverfolgt. Wir bauen auch heute noch Villen. Aber unser Schwerpunkt liegt inzwischen mehr auf Projekten, bei denen Wertschätzung und Schönheit eine Rolle spielen. So errichten wir einen riesigen Bürokomplex genauso wie eine kleine Kapelle auf einem Hofgut.

Die Coronapandemie krempelt die Arbeitswelt gerade gehörig um. Welche Auswirkungen hat das auf Ihre Arbeit?

In Zukunft muss das Büro vor allem ein Begegnungsort sein, wo sich die Mitarbeiter treffen, austauschen und gemeinsam kreativ sein können. Die klassischen Schreibtischarbeitsplätze rücken durch das Homeoffice eher in den Hintergrund. Am Ende muss die Architektur vor allem ausdrücken: Wer bin ich als Unternehmen, was sind meine Werte und was will ich Kunden und Mitarbeitern kommunizieren? Gute Architektur bringt die Kultur des Unternehmens zum Tragen. Dafür reicht es nicht, hippe Ideen von Google und Co. zu kopieren. Als Architektin muss ich genau hinsehen; mich in die Kultur des Unternehmens, für das ich plane, einfühlen. Und dann braucht es individuelle Anreize und Orte, um Mitarbeiter ungezwungen zusammenzubringen. Denn genau an diesen Kaffeemaschinen-Plätzen, wo man sich zufällig begegnet, entstehen oft die Problemlösungen.

Für einen Kunden haben Sie das Konzept von »Business Families« entwickelt. Was verbirgt sich dahinter?

Unser Anliegen war, eine Lösung für einen großen Konzern zu finden, die ermöglicht, dass jeder einzelne Mitarbeiter integriert ist und sich wohlfühlt. Dafür haben wir die Abteilungen so umgestaltet, dass sie wie Familien organisiert sind. Wir haben jeweils eine Art Wohnbereich geschaffen. Ein großer Tisch dient als Ort, wo alle zum Essen ­zusammenkommen. Das fördert Kommunikation, Miteinander und Teambuilding. So entsteht mehr Spielraum, als Gruppe zusammen­zuwachsen. Auch die Altersunterschiede zwischen den Mitarbeitern lassen sich in einer Familie einfacher überbrücken. Am Ende soll das Modell dazu beitragen, dass für alle ein Ort entsteht, an dem Leben geteilt wird, der Sicherheit bietet und Ankommen ermöglicht.

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Für ein schmales, steiles Hanggrundstück entwarf Anna Philipp ein Einfamilienhaus mit dreieckigem Grundschnitt - die Villa Hulliger. Mit klaren Linien, ­reduzierten, weiten Räumen und großen Glasfronten, die den Blick in die Natur freigeben, trägt sie unverkennbar die Handschrift der Architektin.

Und wie verändert das Homeoffice das Zuhause?

Der Wunsch nach ruhigen Orten im Haus nimmt natürlich zu. Wer neu baut, kann sich genau überlegen: Brauche ich eher einen Platz ­abseits des Familientrubels zum Arbeiten oder ist es sogar ganz gut, wenn ich mitbekomme, was die Kinder derweil treiben. Allgemein gehe ich davon aus, dass das Wohnen auf dem Land wieder attraktiver wird, weil Wege wegfallen und ich mir so mehr Raum leisten kann, den ich für das Homeoffice benötige.

Ihr Ideenreichtum, Arbeit und Zuhause selbst auf engstem Gelände kreativ voneinander zu trennen, wurde gerade mit dem deutschen Design Award prämiert …

Das war ein spannendes Projekt: Ein Unternehmerehepaar hat direkt am Firmengelände angebaut. Damit sie in ihren Auszeiten von der ­vielen Arbeit auch wirklich abschalten und aufladen können, haben wir ein Atriumhaus nach Art eines Baumhauses errichtet. Das Wohnen findet komplett in der oberen Etage - quasi in den Baumwipfeln - statt, mit Blick in die Weite, weg von der Firma. Wenn man das Haus betritt, hat man sofort den Switch von der Firma in die Natur. Dafür wurden wir ausgezeichnet.

Schönheit trägt eine lebensbejahende Kraft in sich, die einen verändert.

Was macht Ihre Handschrift aus?

Ich liebe es, mit der Natur zu arbeiten. Von daher sind meine Räume oft minimalistisch, aber dennoch warm. So, dass ein Strauß Blumen den Raum verändern kann. Ich mag Weite, Freiheit, Klarheit in der Linienführung. Man muss atmen können. Es ist eine leise Schönheit, die sich in der Zurückgenommenheit entfaltet. 

Wie ist Schönheit zu Ihrem Herzensthema geworden?

Ich hatte schon immer ein besonderes Empfinden für Schönheit, aber erst in den vergangenen fünfzehn Jahren konnte ich das richtig in Worte fassen. Ich bin froh, dass dieses Empfinden meine Studienzeit überdauert hat. Im Architekturstudium spielt Schönheit nämlich heutzutage überhaupt keine Rolle. Vorlesungen über Ästhetik gibt es nicht. Es beruht fast alles auf dem von Louis Sullivan formulierten und vom Bauhaus aufgegriffenen Prinzip »form follows function«. Durch diese Überhöhung der Funktionalität haben wir die Schönheit in der Architektur in den vergangenen hundert Jahren verloren. Nicht ohne Grund werde ich immer wieder mit der Frage konfrontiert: Warum sind alte Gebäude so schön und moderne Bauten oft so poesie- und fanta­sielos? Und darum kämpfe ich für eine Renaissance der Schönheit, für ein neues Bewusstsein, in Schönheit zu investieren.

Wie wirkt sich die Schönheit von Architektur denn aus?

Schönheit trägt eine lebensbejahende Kraft in sich, die einen verändert. Darum ist es einfach nicht egal, wie ein Raum aussieht. Man kann das sehr schön am Beispiel der Hamburger HafenCity sehen. In den Sechzigerjahren war das gesamte Gelände durch die Schifffahrt heruntergekommen. Es war laut und schmutzig, ein Hotspot der Prostitution. Darum wollte niemand mehr dort wohnen. Die Stadt zog sich förmlich zurück von diesem Ort. Ende der Neunzigerjahre startete der Bürgermeister eine Initiative, um die Stadt wieder zurück ans Wasser zu bringen. Dazu lud er Architekten aus aller Welt ein, um ein städtebauliches Konzept zu erarbeiten. Dieses wurde brillant umgesetzt. Heute ist die HafenCity einer der schönsten Orte Hamburgs, der belebt ist, Sicherheit und Lebensqualität bietet und sogar das neue Wahr­zeichen der Stadt beherbergt. Möglich gemacht hat das die Kraft von ­Architektur und Schönheit. 

Die Errichtung von Elbphilharmonie und Co. hatte natürlich auch ihren Preis. Ist schöne Architektur denn auch nachhaltig?

Absolut. Ein rein funktional gebautes Bürogebäude wird in der Regel nicht mehr genutzt, wenn die Firma auszieht. Diese brachliegenden Bauten gibt es in jeder Stadt. Sie werden zu Unorten, wo niemand mehr einziehen will. Strahlt ein Ort hingegen Schönheit aus, wird er immer eine neue Funktion finden. So gibt es beispielsweise viele ­Kirchen, die heute als wunderschöne Museen, Restaurants oder Bibliotheken dienen. Architekten tragen darum immer Verantwortung ­dafür, wie sie den Ort prägen. Wir können Räume schaffen, die für Hunderte von Jahren Menschen mit Schönheit dienen.

Was macht ein Gebäude schön?

Beim Bauen spielen für mich zwei prägende Faktoren eine Rolle: ­einerseits der Ort, an dem ich baue, andererseits der Mensch oder das Unternehmen, für den oder das ich baue. Ein Gebäude sollte sich ­immer harmonisch in den Ort einfügen und der Person, die es nutzt, viel Raum zur Entfaltung bieten.

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Die von Anna Philipp entworfene Villa Fröschle, bei der nach der Art eines Baumhauses der Wohnbereich komplett auf die obere Etage mit Blick in die ­Natur verlegt ist, erhielt den German Design Award 2022.

Wie entwickelt sich Ihre Idee von Schönheit konkret im Projekt?

Es beginnt mit ganz viel Zuhören, um den Menschen wahrzunehmen, der mir den Auftrag gibt. Ich baue ja nicht für mich, sondern für mein Gegenüber. Dann ziehe ich mich zwei, drei Monate mit dem ­P­rojekt zurück und lasse es in mir reifen. Dabei entstehen dann innere Bilder – oft nicht am Schreibtisch, sondern in der Natur, manchmal auch mitten in der Nacht in meinen Träumen. Hier im Schloss habe ich auch ein Atelier, in dem ich male. Da greifen viele freie, kreative Parameter ineinander. Und irgendwann weiß ich dann, wie das für diesen Menschen richtige Gebäude aussehen muss. Erst danach beginnt die Planung mit Skizzen und Entwürfen am Computer.

Was ist das Ziel eines schönen Ortes?

Egal, welchen Ort wir schaffen – er soll Ankommen und Auftanken ermöglichen. Er soll zur Ruhe bringen und Raum zum Atmen geben. Schönheit ist wie ein Ort, den man nicht verlassen möchte.

Es braucht also über das Zuhören hinaus viel Empathie, um einen schönen Ort zu erschaffen?

Ja, es hat zudem mit Demut zu tun, nicht für mich, sondern für mein Gegenüber zu bauen. Ich glaube, dass es für jeden Menschen einen Ort gibt, der wie vorbereitet für ihn ist. Und meine Aufgabe sehe ich darin, mitzuhelfen, diesen Ort entstehen zu lassen. Da spielen Materialien eine Rolle, Proportionen, Offen- und Geschlossenheit. Am Ende soll es wie eine zweite Haut für denjenigen sein, der diesen Raum nutzt. Wenn wir das schaffen, haben wir als Architekten einen guten Job gemacht.

Stoßen Sie dabei auch an Ihre Grenzen, wenn sich Ihnen jemand nicht so stark offenbaren will?

Ich denke, Gott hat mir eine sehr gute Sensibilität dafür gegeben, Menschen wahrzunehmen und zu erspüren. Meist ist gar nicht das entscheidend, was mir meine Klienten erzählen. Wichtiger ist, dass ich mich auf den ganzen Menschen einlasse.

Gott persönlich hat also die Finger mit im Spiel bei Ihrer Arbeit?

Alles, was wir tun, hat eine schöpferische Quelle – und die ist für mich ganz klar Gott. Ich glaube, dass Dinge im Himmel vorbereitet sind und ich diese in unsere irdische Realität hole. Gott hat mir gezeigt: Schönheit ist nichts Oberflächliches, Schönheit ist ein Begegnungsort mit ihm. Und in dem Moment, wo ich Räume aufspanne, die schön sind, schaffe ich auch für Menschen, die Gott nicht kennen, Orte, wo sie ihn auf nonverbale Art und Weise wahrnehmen können. Denn er selbst ist Schönheit.

Aber Schönheit empfinden wir doch alle sehr unterschiedlich …

Aus meiner Sicht gibt es einerseits objektive Schönheit – wie der Sonnenuntergang am Meer, den jeder Mensch als schön bezeichnen würde. Alles, was Gott direkt geschaffen hat, empfinden wir als schön. Das, was wir als Menschen schaffen, würde ich als subjektive Schönheit bezeichnen, bei der die Sichtweisen auseinandergehen. Aber wenn ich von der schöpferischen Quelle Gottes ausgehe, kann ich Räume aufspannen, die für eine große Anzahl von Menschen ein inneres Ankommen, ein Zuhause, ein Wahrnehmen schaffen, dass hier etwas anders ist. So entsteht dieser Begegnungsort mit Gott, ohne dass ich darüber spreche.

Ist das eine Erfahrung, die Sie auch selbst gemacht haben?

Für mich gibt es besondere Orte der Schönheit. Einmal ging es mir so in einem Lichtraum des US-amerikanischen Künstlers James Turrell. Ich hatte das Gefühl, mich in der Schönheit aufzulösen. Später wurde mir aber bewusst, es war vielmehr ein komplettes Dasein, ein völliges Einswerden ohne jeglichen Blick auf mein Ich. Solche Momente sind eine Berührung mit der Ewigkeit, mit der unsichtbaren Wahrheit Gottes.

Anna Philipp

Anna Philipp

Sie kämpft für eine Renaissance der Schönheit in der Architektur: Anna Philipp (47) ist der kreative Kopf von Philipp Architekten, einem Familien- unternehmen mit Sitz auf Schloss Waldenburg und in Frankfurt am Main. Sie hat Hunderte Villen entworfen, aber auch Kirchen und Bürogebäude gestaltet. Die Arbeiten der europaweit gefragten Architektin wurden vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit drei German Design Awards. Sie lehrte an der Hochschule für Technik Stuttgart und wurde 2015 in den renommierten Bund Deutscher Architekten (BDA) berufen.