Barbara Gandenheimer
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Notker Wolf

Was reizt Sie am Selbstverlust, Herr Abtprimas?

Ein Leben hinter Klostermauern erfordert Entbehrungen? Das Gegenteil lebt Notker Wolf. Er bereist die Welt und genießt am Feierabend seine Tabakpfeife. Sogar mit Deep Purple spielte er gemeinsam auf der Bühne. Das Leben des ehemaligen Chefs des weltweiten Benediktinerordens zeigt: Sich selbst zu verlieren, kann auch bedeuten, die Welt zu gewinnen.

Matthias Dittmann
Matthias Dittmann
9 min

Herr Wolf, stimmt es, dass Sie im Ruhestand sind? Schwer vorstellbar, bei Ihrem vollen Terminkalender.

Nein, das ist eine Erfindung der Medien. Ich habe nur den Job gewechselt. Weil ich so viele Anfragen bekomme, mache ich jetzt eben den freischaffenden Künstler. Bei uns Mönchen gibt es keinen Ruhestand. Und selbst wenn: Der letzte Mönch, den wir als Schulleiter hatten, ist danach eben zweiter Bibliothekar geworden. Man muss ja was tun, sonst wird es langweilig. Und das Schöne ist: Es gibt auch immer was zu tun.

Die meisten Menschen stellen sich ein Leben im Kloster eher trist und entbehrlich vor. Man muss Besitz, Beziehungen, Freiheiten aufgeben.

Meine Entscheidung, ins Kloster einzutreten, war der größte Gewinn meines Lebens! Natürlich, ich habe keine eigene Familie, aber dafür ja hier eine Großfamilie. Besessen habe ich nie viel, deshalb konnte ich auch nie viel verlieren. Ich bin Teil der letzten Kriegsgeneration. Wir hatten nach dem Krieg nichts zu beißen und waren froh, wenn überhaupt etwas auf den Teller kam.

Sie hatten also nie das Gefühl, mit Ihrem Gang ins Kloster etwas zu verlieren?

Früher hätte ich es als Verlust angesehen, dass ich mein Ideal, Missionar zu werden, nicht umsetzen konnte. Als ich ins Kloster kam, hieß es, du bist viel zu schwach, du kannst nicht nach Afrika oder woanders in die Mission gehen. Nach meinem Noviziat sollte ich dann nach Rom, um Philosophie zu studieren. Dort war ich drei Jahre und hinterher noch fünf in München an der Ludwig-Maximilians-Universität. Dann wurde ich nach Rom gerufen, weil sie dringend einen Naturphilosophen brauchten. Tja, und da war ich dann, fernab jeder Mission. Aber ich hatte ja die Studenten als Missionsfeld (grinst). 

Und diese haben Sie ordentlich beackert?

Das war immer herrlich, sie saßen ständig bei mir auf der Bude. Ich verstehe unter Missionieren ja nicht, den anderen über den Tisch zu ziehen, sondern ein Angebot zu machen. Und dann liegt es an ihm, es anzunehmen oder nicht. Ich habe jedenfalls heute noch gute Kontakte zu einigen Studenten. 

Als sie Abtprimas wurden, hatten Sie sicherlich wieder die Möglichkeit, sich mehr in die Mission zu investieren?

Ja, aber auf eine ganz andere Art und Weise. Wir hatten zum Beispiel einmal eine Gruppe buddhistischer Mönche bei uns zu Gast, mit denen wir den interreligiösen Dialog gestartet haben. Später habe ich mit unserer interreligiösen Gruppe einen intensiven Austausch mit Schiiten in Persien begonnen. Da hatten die Leute plötzlich Angst, ich würde meinen Glauben verlieren. Aber da gibt es nichts zu verlieren. Wenn ich wirklich überzeugt bin, kann ich doch auch tolerant gegenüber anderen sein, mich mit ihnen unterhalten und auch von ihnen lernen.

Meine Entscheidung, ins Kloster einzutreten, war der größte Gewinn meines Lebens!

Eine Sache haben Sie durchaus verloren, als Sie ins Kloster gingen: Ihren Namen.

Das stimmt. Man nimmt dann als Zeichen der neuen Lebensordnung einen neuen Namen an. Drei darf man vorschlagen und einer wird dann ausgewählt. Ich habe eben Notker bekommen. Der Name geht zurück auf Notker, den Stammler von St. Gallen – Schulmeister und Chef des Skriptoriums. Er war Dichter und Musiker, hat auch komponiert. Für mich ist er der Inbegriff eines kulturellen Menschen. Ich mag ganz ähnliche Dinge. Es war mir auch sympathisch, dass er von der katholischen Kirche nie zum Heiligen erklärt wurde. Und dass er gestottert hat. Ich muss ja in mehreren Sprachen rund um den Globus reden und das ist auch immer ein Stottern und Stammeln (lacht herzhaft).

Ich dachte, Sie sprechen sieben Sprachen fließend?

Ach, da kann man eine Sprache noch so gut können. Ich habe meine Vorlesungen auf Italienisch gehalten und in den USA frei auf Englisch vor katholischen CEOs gesprochen. Da habe ich durchaus Klartext geredet und ihnen gesagt, dass der Irakkrieg ein enormer Fehler war. Aber ein Gestammel war es trotzdem. Ich denke, es ist in einer fremden Sprache nie so wie in der Muttersprache.

Das ist etwas, was Sie ausmacht: Sie sagen Ihre Meinung, auch wenn sie damit anecken.

Mein Vorteil ist: Ich muss nicht gewählt werden. Ich brauche auch keine Karriere zu machen. In einem Betrieb hingegen muss man ja irgendwie schauen, dass man vorankommt, allein schon aus finanziellen Gründen mit Rücksicht auf die Familie.

Man muss die richtigen Leute finden, sie motivieren und mit ihnen auskommen. Das ist die Kunst einer Führungskraft.

Aber sie wurden zum Abtprimas gewählt.

Eigentlich wollte ich das gar nicht. Das erste Mal habe ich abgelehnt. Das zweite Mal musste ich es dann annehmen.

Warum denn?

St. Anselmo, das internationale Kloster der Benediktiner mit seiner Hochschule war wirtschaftlich sehr schlecht dran, sodass die Äbte auf mich zukamen und sagten: Das musst du jetzt machen! Innerhalb von vier Jahren waren wir aus den roten Zahlen und dann standen die Sanierungsmaßnahmen an. Ich hatte einen Schweizer Mitbruder, mit dem ich mich um das Fundraising bemühte. Gleichzeitig verstand er viel vom Bauen und konnte die Bauüberwachung bis ins Detail übernehmen. Man muss eben die richtigen Leute finden, sie motivieren und mit ihnen auskommen. Das ist die Kunst einer Führungskraft. Und ich komme wohl mit jedem aus.

Wie schaffen Sie das?

Indem ich keinen Ehrgeiz habe und froh bin, wenn andere es besser können.

Sind sie auch mal mit jemandem nicht ausgekommen?

Nicht, dass ich wüsste (denkt lange nach). Mir fällt aber einer meiner Verwalter in Rom ein. Ich hatte ihm lange vertraut. Aber als ich merkte, dass er uns alle hinterging, musste ich ihn auf der Stelle entlassen. Natürlich hat man dann in Italien – und wohl nicht nur da – einen Prozess am Hals, der sich lange hinzieht.

Eines Ihrer großen Themen ist, sich selbst loszulassen. Sie scheinen dabei vor allem gewonnen zu haben.

Tja, das ist schon paradox: In dem Moment, in dem man das Glück methodisch anstrebt, ist es vorbei. Das ist, als ob man Seifenblasen festhalten möchte. Wir haben in Deutschland einen Machbarkeitswahn. Das Glück ist aber nicht machbar. Schauen wir uns die großen Firmenchefs an: Die haben schon so viel und brauchen noch ein großes Haus mit Mauer und Stacheldraht drum herum – und verlieren dabei ihre Freiheit. Ob sie glücklich sind? Das bezweifle ich. Es stimmt aber: Ich habe mich selbst losgelassen. Und mir fällt so viel in den Schoß, obwohl ich nichts brauche.

Was bedeutet das für Führungskräfte?

Ich bin ein absoluter Gegner von Machtstreben. Das können viele natürlich nicht mitmachen. Sie denken: Wenn ich die anderen mitreden lasse und integriere, dann wissen die bald mehr als ich. Was habe ich dann noch zu sagen? Ein guter Anführer ist aber der, der die Leute motiviert, nicht der mit den besten Ideen. Und der beste Leiter ist der, der sich unsichtbar macht – wenn die Leute sagen, sie hätten alles selbst gemacht und nicht mehr merken, dass noch einer dahinter sitzt.

Barbara Gandenheimer
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»Wenn ich nichts brauche, werde ich nicht abhängig – und das ist Glück.«

Wenn ich eine gute Idee habe, möchte ich schon, dass sie umgesetzt wird.

Es gibt doch so viele Wege, die nach Rom führen. Ich war nie darauf aus, Dinge so durchzusetzen, wie ich es mir vorstellte. Dabei verliere ich meine eigenen Ansichten, ja. Aber das ist doch egal. Es kommt nicht auf mich an. Die Firma ist doch nicht ein Einzelner. Alle zusammen sind die Firma. Üblicherweise ist es ja auch nicht das Problem, dass alle zu viel Verantwortung übernehmen wollen. Im Gegenteil. Wir Menschen wollen die Verantwortung eher nach oben abschieben.

Wenn ich mich verliere, wird der Weg frei für etwas Besseres? Stehen Verlieren und Gewinnen also in einer Art Gleichgewicht?

Ja, das merke ich immer wieder.

Ein guter Führer ist der, der die Leute motiviert, nicht der mit den besten Ideen.

Ist dann das Streben nach Glück was Egoistisches?

Das kommt drauf an. Egoismus ist, wenn man das eigene Glück über das der anderen stellt. Wer also sich selbst verliert, um Glück zu finden, ist nicht egoistisch. Aber wer hinnimmt, dass andere verlieren, nur um das eigene Glück zu finden, ist tatsächlich egoistisch.

Unsere Gesellschaft ist aber eher darauf aus, sich zu finden und zu verwirklichen, als sich zu verlieren.

Die Individualisierung hat ihre Grenzen. Allein die Kosten: Lauter einzelne Haushalte sind viel zu teuer für die Gesellschaft. Das Lebensglück hängt von Gemeinschaft ab. Aber um diese dauerhaft zu haben, muss ich mich in etwas einfügen. Dabei gebe ich ein Stück Freiheit auf, um woanders mehr Freiheit zu haben. Loslassen im materiellen Sinn gehört auch dazu. Es ist etwas so Schönes, nichts zu brauchen. Wenn ich nichts brauche, werde ich nicht abhängig – das ist Glück.

Ist das nicht etwas einfach gesagt? Sie haben immerhin ein langes und erfolgreiches Leben hinter sich.

Mir sind viele Dinge in den Schoß gefallen, für die ich sehr dankbar bin. Die Leute meinen manchmal, mir ginge es nur darum, groß rauszukommen. Zum Beispiel war ich kürzlich bei einer Galaveranstaltung in Hamburg auf dem Kreuzfahrtschiff Aida. Das bedeutet mir gar nichts. Aber ich komme dadurch zu Menschen, die ich sonst nicht erreichen würde. Ganauso war es auch bei meinem Auftritt mit Deep Purple. Dafür würden andere weiß Gott was bezahlen (lacht begeistert). Ich bin nach dem Konzert wieder zu denen backstage gegangen, und da standen zwei Groupies aus Ungarn rum – wirklich gut gebaut und nur leicht bekleidet. Sie kamen auf mich zu und ich sagte: »You are so beautiful, but it’s far too late.« Diese Leichtigkeit, das Leben zu nehmen, die ist mir wichtig. Mein verstorbener Prior sagte mal: »Nimm ja nichts ernst, vor allem nicht dich selbst.« Und damit tue ich mich in meiner Großfamilie tatsächlich leichter, als die Leute da draußen. 

Kann so ein mönchisches Leben außerhalb der Klostermauern überhaupt als Vorbild dienen?

Ja, sicher. Mir ist es immer dann am besten gegangen, wenn es den anderen auch gut gegangen ist. Das ist nicht nur im Kloster so. Freiheit bedeutet doch nicht besitzen. Geld und Gold blenden nur. Da hilft manchmal nur Entzug wie beim Alkohol.

Was nehmen Sie sich noch vor?

Mehr Musik machen. Arabisch lernen. Nicht nachlassen, meinen Frühsport zu treiben. Wenn ich den hinter mir habe, gehts mir gut. Mein Leben in Treue beenden. Und immer offen bleiben für neue Dinge.

Notker Wolf

Notker Wolf

Dr. Notker Wolf OSB (77) trat mit 21 den Benediktinermönchen bei. Er lehrte an der päpstlichen Hochschule in Rom, war Erzabt in St. Ottilien und Abtprimas der Benediktinischen Konföderation. Unter seiner Ägide wurden zwei Krankenhäuser in China und Nordkorea gebaut und Benediktinerorden in Indien, Uganda, Togo und auf den Philippinen gegründet. Er gehört der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste an und saß im Unternehmensbeirat der Gothaer Versicherungen. Nebenbei ist er Rockmusiker und Autor von fast dreißig Büchern. Heute lebt er wieder in St. Ottilien.