Roland Juker
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Jörg Walcher & Jacqueline Walcher

Was zieht Spitzensportler runter, Herr und Frau Sports Chaplain?

Als Spitzensportler haben sie einiges an Gold angesammelt. Jetzt wollen Jörg Walcher und Jacqueline Walcher-Schneider mit der Initiative »Beyond Gold« andere Sportlerinnen und Sportler auf nachhaltigere Werte hinweisen. Ein Gespräch über Motivation mit den Seelsorgern der Schnellsten und Stärksten.

Stephan Lehmann-Maldonado
Stephan Lehmann-Maldonado
10 min

Olympia fiebern sie entgegen, als müssten sie selbst an den Start. Jörg Walcher und Jacqueline Walcher-Schneider sind mit vielen Sportstars aus aller Welt freundschaftlich verbunden. Und Jacqueline Walcher-Schneider wurde als offizielle Olympia Chaplain – sprich als Olympiaseelsorgerin – für Tokio berufen. In den letzten achtzehn Jahren war das Ehepaar an über hundert Großevents wie Olympischen Spielen, Weltmeisterschaften und Weltcups als Sports Chaplains im Einsatz. Jörg Walcher, einst Profisnowboarder, und seine Frau Jacqueline Walcher-Schneider, vierzehnfache Schweizer Meisterin im Turmspringen und Olympiafinalistin, wissen, welcher Druck auf den Sportstars lastet. Sie haben vor, neben und nach den Wettbewerben immer ein offenes Ohr für sie – und organisieren auch mal Andachten. Um Spitzensportler ganzheitlich zu fördern, riefen sie die Non-Profit-Organisation »Beyond Gold« ins Leben.

Wir werden nie perfekt sein. Aber wir arbeiten immer an uns.

Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie gut fühlen Sie sich heute?

Jörg: Acht.

Jacqueline: Dito.

Was fehlt für die 10?

Jörg: Ich hatte gerade mal zwei Stunden Schlaf …

Jacqueline: Und ich vermisse Zeit zum Lesen und Entspannen.

In Ihrem Buch »Wellbeing-Prinzip« geben Sie Tipps zu fast allen Lebensthemen. Gibt es überhaupt Bereiche, die Ihnen nicht leicht von der Hand gehen?

Jacqueline: Ehe und Kindererziehung stehen sicher auf der Liste jener Bereiche, die ganz wichtig sind, aber in denen wir manchmal auch große Kämpfe erleben.

Jörg: Wir möchten stets dazulernen. Im Büro und im Zwischenmenschlichen stoßen wir manchmal an Grenzen. Da sind wir froh, wenn uns Menschen zur Seite stehen, denen wir rundum vertrauen und mit denen wir über diese Lebensbereiche sprechen können.

In Medienberichten kommen Sie als »Traumfamilie« herüber. Stehen Sie unter Druck, ein perfektes Bild abgeben zu müssen?

Jacqueline: Nein. Wenn wir flott rüberkommen, sehe ich das als ein Kompliment für Gottes Wirken in unserem Leben. Druck verspüre ich keinen, denn ich weiß: Wir werden nie perfekt sein! Aber wir geben nie auf, an uns zu arbeiten. Ich denke, das macht den Unterschied zu vielen Familien, die leider zu früh aufgeben.

Bleiben wir beim Persönlichen: Beim zweiten Treffen haben Sie sich schon verlobt – waren Sie füreinander bestimmt?

Jörg: (Lacht.) Das dachten wir damals … aber auch Bestimmung erfordert Arbeit. In der Ehe verhält es sich wie mit einer Geige oder einer Gitarre: Auch die schönste Be-Stimmung muss immer wieder gestimmt werden, damit die Stimmung passt.

Der erste Kuss folgte der Legende nach an der Hochzeit …ungewöhnlich!

Jörg: »Legende« klingt etwas märchenhaft, aber das hat sich so zugetragen. Umso mehr Küsse folgten nach der Hochzeit. Die bekannte Entwicklungshelferin und Autorin Maria Prean hat für eines ihrer Bücher einen schönen Titel gewählt: »Gott spielt in meinem Leben keine Rolle – er ist der Regisseur!« Sie hat recht: Gott schreibt unglaublich spannende Geschichten mit unserem Leben, wenn wir uns seiner Regie anvertrauen.

Jacqueline: Als ich sehr jung war, habe ich auch andere Beziehungen erlebt. Doch an der Weltmeisterschaft kam ich zum Glauben. Da erst entdeckte ich, wie sich Gott die Beziehung zwischen Mann und Frau gedacht hat und wie wunderbar Intimität dazugehört. Weil ich als Teenager auch Missbrauch erlebte, wollte ich dann bis zur Ehe sozusagen beim Händchenhalten bleiben. Das hat geholfen, dass wir uns als Persönlichkeiten besser kennengelernt haben. Ich empfand das Warten als romantisch und ich freute mich noch mehr auf die Hochzeit! Und danach hat man ja ein Leben lang Zeit, sich zu entdecken.

Sie arbeiten mit Sportlern. Welcher Star, den Sie kennen, beeindruckt Sie am meisten?

Jörg: Von der Karriere her sind es Roger Federer im Sommersport und Marcel Hirscher im Wintersport. Es gibt aber Athleten wie etwa Nicola McDermott, die australische Diamond-League-Siegerin von Brüssel 2020 im Hochsprung, die uns noch mehr beeindrucken.

Wieso?

Jacqueline: Weil wir diese Sportlerinnen und Sportler für wertvolle Vorbilder für die Jugend und Gesellschaft halten. Sie leben nach den Prinzipien, die Jesus gelehrt hat. Und ich bin sicher, dass Gott ihnen eine Dimension der Freude schenkt, die sie auch durch Topleistungen nie erreichen könnten.

Sie waren beide Spitzensportler. Wie wichtig ist Motivation für den Erfolg?

Jörg: Essenziell. Wenn deine Ziele motivierend, messbar und machbar sind, brauchst du keine Motivation von außen. Du hast eine innere Freude, die dich jeden Morgen aus dem Bett springen lässt.

Jacqueline: Wichtig ist aber auch Ermutigung, sprich »Empowerment«, von Menschen, die einem nahestehen.

Welche Rolle spielt das Talent?

Jacqueline: Ohne Talent geht es im Sport nicht bis an die Spitze – aber mit Talent allein auch nicht. Fleißige, die hart arbeiten, ziehen irgendwann am Talent vorbei, wenn dieses nicht trainiert. Ab einem gewissen Niveau entscheidet die tägliche harte Arbeit, wie weit man noch kommt.

Laut der Bedürfnispyramide von Maslow motiviert uns nur noch die Selbstverwirklichung, wenn die Grundbedürfnisse gestillt sind. Ist diese der Antrieb für Sportlerinnen und Sportler?

Jörg: Ja, für die Mehrheit geht es um die Selbstverwirklichung.

Viele Motivationstrainer raten, an sich selbst zu glauben – nach dem Motto »Glaube versetzt Berge«. Teilen Sie diese Meinung?

Jörg: Dieses Motto hat kein Motivationstrainer erfunden. Vielmehr sind das Worte von Jesus, die sich in der Bibel finden. Daher kann ich schwer dagegen sein … Jesus lehrte seine Jünger, die an einer Aufgabe scheiterten, dass ihnen nichts unmöglich sei, wenn ihr Glaube nur so groß wie ein Senfkorn wäre. Sie könnten dann zu ihrem »Berg« sprechen und er würde sich versetzen!

Wir leben im Zeitalter der Selbstoptimierung. Nimmt die Egozentrierung auch unter Sportprofis zu?

Jörg: Absolut. Mit Instagram und anderen sozialen Medien stehen Sportprofis unter dem ständigen Druck gegenüber ihren Sponsoren, immer etwas von sich posten zu müssen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Mit jedem Follower wird man für Sponsoren interessanter …

Ohne Talent geht es nicht. Mit Talent allein aber auch nicht.

Sie arbeiten beide als Sports Chaplain, Mentoren und Coaches für Spitzensportler. Welche mentalen Barrieren sind die größten Hindernisse auf dem Weg zum Erfolg?

Jacqueline: Die Angst vor dem Versagen lähmt viele. Und Lügen über sich selbst können wie Blockaden wirken. Meist steht der Athlet sich selbst im Weg zum Erfolg.

Nehmen Sie als Sports Chaplain auch so was wie Beichten ab?

Jörg: Wir bieten keine Beichten an, aber manche Spitzensportler wollen sich Belastungen von ihrer Seele sprechen und brauchen dazu die nötige Diskretion.

Welches sind die größten Sorgen von Spitzensportlern?

Jörg: Sportler sind eher selbstbewusster als der Durchschnitt. Aber sie stehen unter dem Druck, Erwartungen nicht zu erfüllen; kennen das Gefühl, nicht zu genügen; haben Angst vor Ablehnung, der Meinung von Medien, Trainern und sich selber – sowie vor Verletzungen.

Wie motivieren Sie nach Pechsträhnen?

Jörg: Wir halten Sportlern den Spiegel hin, um sie in ihrer wahren Identität zu stärken. Glaube ich Lügen in meinem Leben, die mich zurückhalten? Oder glaube ich die Wahrheit, die mich frei macht? Es ist sehr wichtig, dass wir unser Denken erneuern. Denn unsere Gedanken haben tatsächlich Macht über uns.

Unsere Gedanken haben tatsächlich Macht über uns.

Den Selbstwert soll man nicht aus der Leistung beziehen, lehren Sie. Woraus denn sonst?

Jörg: Da muss ich ausholen. Wenn ich ein Kunstwerk ersteigern will, muss ich bereit sein, den höchsten Preis zu bezahlen. So hat ein Bieter beim Auktionshaus Christie’s im November 2017 mehr als 450 Millionen Dollar hingeblättert für das Gemälde »Salvador Mundi«, zu gut Deutsch »Erlöser der Welt«, von Leonardo da Vinci. Der Wert des Bildes wurde also vom Preis bestimmt, den ein Unbekannter bereits zahlte. In der Bibel heißt es: »Denn Gott hat die Menschen so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für sie hergab. Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zugrunde gehen, sondern das ewige Leben haben.« Der wahre Wert eines Menschen ist also dadurch bestimmt, was Gott bereit war, für ihn hinzugeben – und das war sein eigener Sohn, der »Salvador Mundi«. Jesus bezahlte mit seinem Leben für meine und deine Schuld. Am Kreuz sagte er: »Es ist vollbracht!« Ich möchte dies immer tiefer verstehen.

Der Verein, den Sie gegründet haben, heißt »Beyond Gold«, »über das Gold hinaus« – ist das eine Anspielung auf den Wert des Menschen?

Jörg: Klar. Jedes Leben ist unbezahlbar, mehr wert als eine Goldmedaille, mehr als die 450 Millionen Dollar. Können Sie sich vorstellen, wie frei ein Sportler in den Wettkampf geht, wenn er sich bewusst ist, dass er für Gott einen unermesslich hohen Wert hat? Das gibt ihm eine gesunde Motivation. Er trainiert dann, um sein Talent zu Gottes Ehre einzusetzen – und nicht aus Angst zu versagen. Auf Englisch heißt Selbstbewusstsein ja auch »Confidence«, was sich vom Lateinischen »Mit-Glauben« ableitet. Mir gefällt auch das von einem amerikanischen Freund kreierte Wort »Godfidence«: »Gottes-Glauben«.

Wann haben Sie selbst zuletzt einen Rückschlag erlebt?

Jacqueline: Oh, da haben wir in den letzten zwölf Monaten einiges erlebt … Corona-Erkrankung, Müdigkeit, Reisebeschränkungen und Enttäuschungen von Menschen, die uns sehr nahestehen.

Wie haben Sie sich wieder aufgerafft?

Jacqueline: »Encourage yourself in God«, habe ich mir jeden Morgen gesagt, wenn der Wecker um fünf Uhr klingelte und ich noch müde aufs Spinning Bike stieg, um Bibel zu lesen und wach zu werden. Wir haben ganz besonders die Nähe Gottes gesucht, die Ruhe. Wir möchten seine Stimme hören und dann tun, was er uns sagt. Ein weiterer Schlüssel ist die Vergebung. Statt Groll zu hegen und mich innerlich zu zerstören, ist es besser zu vergeben.

Viele Prinzipien aus dem Sport lassen sich auf die Wirtschaftswelt übertragen, nicht wahr?

Jörg: Oh ja, vor allem, was die Motivation und die mentale Einstellung betrifft.

Topmanager sind tief beeindruckt von Spitzensportlern, weil sie diese für »Leistungsträger« halten.

Jacqueline: Spitzensportler geben alles, arbeiten fokussiert – und rappeln sich nach Niederlagen auf. Egal, ob in der Wirtschaft, im Sport oder im Entertainment: Die Luft an der Spitze ist dünn.

Für manche Führungskräfte ist ihr Wirkungskreis eine Sportarena. Sie wollen sich vor anderen durchsetzen. Was steckt dahinter?

Jörg: Derselbe Antrieb wie im Spitzensport – »höher, schneller, weiter«! Wettbewerb kann positiv sein, wenn die innere Motivation gesund ist. Eine ungesunde Motivation ist eine, die aus einem Mangel an Selbstwertgefühl entsteht. Jemand müht sich ab, andere zu übertrumpfen, in der Meinung, so die Gunst von Menschen erheischen zu können. Äußerlich können zwei Menschen dasselbe tun – aber es muss nicht dasselbe sein, wenn man in beide Herzen blicken könnte.

Die Widerstandskraft, Resilienz genannt, ist in der Wirtschaftswelt ein Zauberwort. Kann man sie trainieren?

Jörg: Psychische Widerstandskraft ist zum großen Teil angeboren. Die gute Nachricht ist aber, dass jeder Mensch gleich viele Muskeln hat. Sie sind nur nicht bei allen gleich trainiert. Psychische Widerstandskraft kann man wie einen Muskel trainieren. Wichtig dabei ist, was im Krafttraining gilt: regelmäßig trainieren, Reize wechseln, nicht überfordern! Der Spruch »was mich nicht umbringt, macht mich nur stärker« erklärt Resilienz ganz einfach. Zu einer besonderen Resilienz hat Jesus seine Jünger befähigt. Er sagte: »Wenn jemand mir nachfolgen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach! Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, wird es finden.«

Das klingt radikal.

Jörg: Das ist es auch. Gemeint ist hier aber nicht, dass wir unser Leben physisch verlieren. Es geht vielmehr um unser Herz. Wir sollten unsere Ich-Zentriertheit loslassen und zu einer Gott-Zentriertheit wechseln. Das erfordert eine Entscheidung, aber auch einen Veränderungsprozess. Ich bin überzeugt: Sobald dieser »180-Grad-Turn« unseres Herzens stattgefunden hat, wird uns Gott mit viel mehr beschenken, als wir auch nur erbitten können.

Jörg Walcher

Jörg Walcher

Er wuchs im österreichischen Skiort Schladming als Sohn von Hoteliers auf. Dann ergriff Jörg Walcher (48) seine Chance, als Snowboardprofi an der Spitze mitzumischen. Darüber hinaus studierte er Recht in Innsbruck und ließ sich in den USA zum Seelsorger ausbilden. 2003 heiratete er die 14-fache Schweizer Meisterin im Turmspringen Jacqueline Schneider. Gemeinsam gründeten sie den Verein »Beyond Gold«. Jörg Walcher hat sich einen Namen als Olympia Chaplain gemacht. 2013 brachte er eine Wintersport-Bibel heraus. Das Ehepaar hat drei Kinder.

Jacqueline Walcher

Jacqueline Walcher

Sie hat Turmspringen zur Popularität in der Schweiz verholfen: 14-mal gewann Jacqueline Walcher-Schneider (49) den nationalen Meistertitel im Kunst- und Turmspringen. Der vierte Platz bei der Weltmeisterschaft 1998 und das Olympische Finale in Sydney 2000 waren die sportlichen Höhepunkte ihrer Karriere. Als diplomierte Fitness- und Gesundheitsexpertin hat sie zusammen mit ihrem Ehemann Jörg Walcher das bekannte Buch »Das Wellbeing-Prinzip« geschrieben. Gemeinsam begleitet und coacht das Paar Sportlerinnen und Sportler. Es lebt in der Schweiz.