Roland Juker
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Robert Heinzer

Wie bringen Sie Menschen zu Spitzenleistungen?

Ob er Leichtathleten als Trainer an die Olympischen Spiele begleitete oder sich ums Personal von Victorinox kümmerte: Immer versuchte Robert Heinzer, das ganze Potenzial aus den Menschen herauszukitzeln – sogar bei fast hoffnungslosen Fällen mit Erfolg.

Stephan Lehmann-Maldonado
Stephan Lehmann-Maldonado
11 min

Victorinox hat im Ranking »bester Arbeitgeber 2024« hervorragend abgeschnitten. Was löst das bei Ihnen aus?

Ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit. In den letzten 31 Jahren habe ich meine Berufung in meiner Arbeit als Personalchef gefunden. Ich durfte eine spannende Zeit erleben und mitprägen.

Was ist Ihr Geheimnis, um als Arbeitgeber zu punkten?

Ganz einfach: Wir sind ein Unternehmen, das seit über 140 Jahren und über vier Generationen in Familienbesitz ist. Bei uns ist die Werthaltung ebenso wichtig wie die Wertschöpfung. Im Mittelpunkt steht der Mensch. Das haben wir seit der Gründung so gehalten – ja, sogar noch verstärkt. Die Menschenorientierung hilft uns bei allen Entscheidungen. Wie betrifft ein Entscheid unser Umfeld, die Menschen? Was bedeutet er für unsere Kunden? Was für die Umwelt? Unsere Werthaltung hat zu dem Image geführt, das wir heute genießen.

In jedem Menschen schlummert eine Passion. Wir müssen sie nur entdecken.

Was waren die größten Veränderungen der letzten dreißig Jahre?

Wir haben uns von einem Messerproduzenten mit 800 Mitarbeitenden zu einem globalen Unternehmen mit 2200 Mitarbeitenden auf vier Kontinenten entwickelt. Vor allem im Marketing, Vertrieb und im Kundendienst haben wir stark zugelegt. Wir erkannten, dass wir unsere Markenführung auch im Ausland selbst in die Hand nehmen müssen. 

Sie bestimmen das Arbeitsleben von 2200 Mitarbeitenden. Wie gehen Sie mit Druck um?

Geteilte Last ist halbe Last. In turbulenten Phasen stand neben mir vor allem die Unternehmerfamilie Elsener unter Druck. Am härtesten traf uns der 11. September 2001. Damals waren wir in über 120 Ländern vertreten. Aus Sicherheitsgründen wurden Messer an Flughäfen und im Handgepäck über Nacht verboten. Das bedeutete einen massiven Umsatzeinbruch. Doch die Krise stellte auch eine Chance dar. Wir konnten sie packen, weil wir als Unternehmen gemeinsam mit der Familie Elsener am gleichen Strang zogen. Das schweißte die Belegschaft zusammen.

Worin lag die Chance bei 9/11? 

Die Krise hat uns vor Augen geführt, wie gefährlich es sein kann, nur ein Standbein zu haben. Darum haben wir begonnen, uns verstärkt zu diversifizieren – von Küchenmessern über Uhren, Reisegepäck, Parfums bis hin zu Kleidern. Bei der Bekleidung haben wir nach einigen Jahren gemerkt, dass uns dieses kurzfristige Business nicht liegt. Schweren Herzens haben wir uns wieder davon verabschiedet. 

Viele Länder verschärfen ihre Restriktionen für Messer. Bringt Sie das nicht erneut in Bedrängnis?

Wenn die Gewalt zunimmt, verteufelt und verbietet die Politik oft schnell und pauschal die Messer. Das war schon vor dreißig Jahren so. Solche Bewegungen kommen meist phasenweise. Gewalt bereitet uns auch Sorgen. Aber wir halten Messer für nützliche Alltagsprodukte. Ohne Messer greift der Mensch einfach zu anderen Produkten, um Gewalt anzuwenden – und sei es nur zum Schraubenzieher. 

Was ist die wichtigste Lektion, die Sie in Sachen Menschenführung gelernt haben?

Das A und O ist das achtsame Zuhören. Man sagt: »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.« Ich gehe weiter: Nicht allein das Schweigen, sondern das Zuhören ist Gold. Was will mir mein Gegenüber kommunizieren? Wie geht es ihm damit? Jeder Mensch hat einen Antrieb. Nur ist das vielen nicht bewusst. Für mich ist es zentral, gut zuzuhören, nachzufragen – und zu spüren, was einen Menschen bewegt. 

Sie müssen die Mitarbeitenden also nicht motivieren, sondern ihre Motivation kanalisieren? 

Ja. So erlebe ich es. Meine erste Leidenschaft war die Leichtathletik. Zuerst als Sportler, dann als Trainer. Wir alle haben Leidenschaften und Talente. Etwas schlummert in jeder und jedem. Aber wir benötigen Menschen um uns herum, die uns darauf aufmerksam machen und uns Perspektiven aufzeigen. Ich strotzte nicht gerade vor Selbstvertrauen. Oft musste mich mein Trainer, meine Ehefrau oder mein Chef, Carl Elsener, ermutigen, Schritte zu machen, die ich mir nie zugetraut hätte. Ich finde es sehr wichtig, Coach, Betreuer, Begleiter von Menschen zu sein, um das Beste aus ihnen herauszuholen.

Von außen betrachtet sind Sie ein Siegertyp. 

Der Eindruck täuscht. Ich trage zwar Verantwortung, doch hinter dem Erfolg steckt immer ein Zusammenspiel von Menschen. Meine Aufgabe ist es nur, dieses manchmal zu koordinieren.

Während viele von »New Work« schwärmen, verordnet SAP-Chef Christian Klein seiner Belegschaft mehr Leistungsdenken. Statt Homeoffice schreibt er Präsenzpflicht vor. Was halten Sie davon?

Der Mann liegt falsch. New Work ist gelebte Realität. Die Digitalisierung und Robotisierung stellen unsere Arbeitsweise, aber auch unsere Gesellschaft auf den Kopf. Wir müssen neue Formen von Arbeit und Leben finden. Natürlich haben wir in Covid-Zeiten festgestellt, dass es Nachteile mit sich bringt, wenn Menschen zu Hause arbeiten. Wir sollten deshalb darüber nachdenken, wie sich die neuen technischen Möglichkeiten intelligenter nutzen lassen. Ich halte extreme Positionen für irreführend. Man kann nicht pauschal verlangen, dass alle Menschen von neun bis siebzehn Uhr im Unternehmen präsent sind, alle flexibel von irgendwoher arbeiten können – oder es überhaupt keine Unternehmen mehr braucht. Wir müssen Lösungen entwickeln, die unseren Bedürfnissen und Möglichkeiten entsprechen. 

Trifft das Klischee zu, wonach Innovation und Kreativität Freiraum brauchen?

Nein. Wer meint, jemand könnte allein im stillen Kämmerchen nach Lust und Laune wirken und Innovationen schaffen, liegt falsch. Es braucht einen systematischen Austausch verschiedener Ideen. Es gilt, Thesen, Gegenthesen und Synthesen zu entwickeln. Andere Standpunkte einzunehmen, ist ein Schlüssel zu innovativen Beziehungen. Klar, bis zu einem gewissen Grad kann man online kommunizieren – aber der direkte Kontakt bleibt unersetzlich. Nur so spürt man das Gegenüber, kann zwischen den Zeilen lesen. 

Ihr Leben zeigt, wie überraschungsreich Karrieren verlaufen können: Was treibt Sie an?

Neugier.

Da hätten Sie Journalist werden können. 

Während meiner Zeit als Trainer habe ich ab und zu Zeitungsartikel verfasst. Ich bin neugierig, was den Menschen, Gott und die Welt betrifft. Ich bin in einer Dachdeckerfamilie groß geworden, als ältestes von zehn Kindern – und ich heiße wie mein Vater. Da wir ein Dachdeckergeschäft betrieben, absolvierte ich eine Dachdeckerlehre. Bald merkte ich aber, dass dies nicht mein Lebensberuf war. Mit vierzehn Jahren brannte ich für die Leichtathletik. Ich hörte bis Mitternacht Radio. Dann erklang immer die Nationalhymne. Ich schloss meine Augen, um sie zu hören. Und ich malte mir aus, wie sie eines Tages für mich an den Olympischen Spielen gespielt werden könnte. Das war mein Antrieb – bis mir der Trainer mitteilte, dass mir das Talent für die Olympischen Spiele und die Weltmeisterschaften fehlte. 

Ist für Sie eine Welt zusammengebrochen? 

Nur für einige Tage. Dann regte sich in mir Widerstand. Eine Woche später fragte ich meinen Trainer, was ich unternehmen müsse, um dennoch an den Olympischen Spielen dabei zu sein. Seine Antwort: »Kaufe dir ein Ticket oder werde Trainer.« Ich habe mich für die Trainerlaufbahn entschieden. Mir ist ein Mittelstreckenteam »zugefallen«, das sich für die Olympischen Spiele qualifizieren konnte. So durfte ich in Seoul erleben, wie Kugelstoßer Werner Günthör eine Medaille holte. Danach stellte mich der Schweizer Leichtathletik-Verband als Direktor an – und ich reiste an viele Olympische Spiele, Welt- und Europameisterschaften. Schon damals fragte ich mich: Was bringt einen dazu, 800 Stunden pro Jahr ohne jegliches Entgelt zu trainieren, zu arbeiten? Genau das machen nicht nur Athleten, sondern auch Trainer. Mich fasziniert es, das ureigene Motiv eines Individuums zu ergründen und Menschen zu helfen, ihre Ressourcen möglichst gut zu nutzen – im Sport wie im Geschäft.

Ich hörte täglich die Nationalhymne – und träumte vom Olympiasieg.

In der Berufswelt gilt das Geld als die zentrale Motivationskomponente. 

Der Lohn ist ein extrinsischer Faktor, ein Hygienefaktor. Ist er unangemessen, löst dies Unzufriedenheit aus. Für die Motivation sind aber die intrinsischen Faktoren entscheidend – das, was Menschen selbst anpacken wollen. Der Schweizer Schwimmer Thierry Bollin trainiert jeden Tag sechs bis acht Stunden und lebt von 500 Euro pro Monat. Jetzt hat er sich für die Olympischen Spiele qualifiziert. Sein Traum treibt ihn an, nicht das Geld.

Victorinox ist dafür bekannt, Menschen mit Handicap eine Chance zu geben. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? 

Im Lauf der Jahre haben uns Personen mit eingeschränkten Ressourcen und mit besonderen Bedürfnissen immer Glück gebracht. Als ich bei Victorinox eingestiegen bin, arbeiteten hier drei blinde Mitarbeitende. Diese mussten wir jeden Morgen zu Hause abholen und sie zu ihrem Arbeitsplatz hinführen. Doch wir sahen die Hilfsbereitschaft der Mitarbeitenden – und diese beeinflusste das ganze Umfeld positiv. Für einen Mitarbeitenden im Rollstuhl haben wir das ganze Gebäude rollstuhlgängig umgebaut. Dann merkten wir, dass wir damit auch unsere Produktionswagen einfacher verschieben konnten. Seit Langem sind wir im Austausch mit der Stiftung BSZ, die sich für Menschen mit Beeinträchtigung engagiert. Von dort übernahmen wir unter anderem einen Mitarbeiter, der eine Amputation hinter sich hatte. Auf dem Arbeitsmarkt war er chancenlos. Bei uns entwickelte er sich zu einem der größten Innovatoren. Er baute Vorrichtungen und Prototypen, an die zuvor niemand gedacht hatte. Leider ist er inzwischen verstorben.

Ein Mitarbeiter mit Handicap ist bei uns zum Innovationstreiber geworden.

Viele Unternehmen geben sich ein Leitbild mit edlen Werten. Wenn es um Anstellungen von Menschen mit Beeinträchtigung geht, ist aber meist Zurückhaltung festzustellen. 

Ein afrikanisches Sprichwort sagt: »Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.« Ebenso braucht es ein ganzes Unternehmen, um Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu integrieren. Schöne Worte aus der Teppichetage reichen nicht. Das gesamte Umfeld muss dafür bereit sein und Zusatzanstrengungen in Kauf nehmen – von den Abteilungsleitenden bis zu den einzelnen Mitarbeitenden. Wir sind tief überzeugt davon, dass das, was wir in Menschen investieren, in irgendeiner Form auch auf das Unternehmen zurückfällt. Seit jeher haben wir beispielsweise Flüchtlinge angestellt. Viele unserer Mitarbeitenden feiern am 1. Januar Geburtstag. Wieso? Als sie zu uns kamen, verfügten sie nicht einmal über Ausweispapiere. Aber jeder Mensch hat seine ureigenen Ressourcen. Wir fokussieren darauf, was Menschen mitbringen – nicht darauf, was ihnen fehlt.

Wäre es sinnvoll, statt über Fachkräftemangel zu klagen, vermehrt in die Ausbildung von Mitarbeitenden zu investieren?

Das ist unser Credo. Wir haben über 400 Lernende in zwölf verschiedenen Berufen ausgebildet. Und wir haben Trainingsprogramme – auch über unsere E-Learning-Plattform – entwickelt, die Mitarbeitende in sieben Sprachen absolvieren können. Für die Zukunft ist aber zweierlei wichtig: Mitarbeitende müssen gesund und agil sein. Denn das Rad des Fortschritts dreht sich immer schneller, was eine hohe Anpassungsfähigkeit verlangt.

Welche Perspektiven haben ältere Menschen?

Wer gesund und agil ist, hat Chancen. Schwierig sieht es aus, wenn jemand nicht bereit ist, Neues zu lernen. Für diese Personen muss unsere Gesellschaft eine Lösung finden. Ich denke, wir müssen längerfristig ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen.

Apropos Gesundheit: Manche Arbeitsplätze scheinen nicht gerade »artgerecht«!

Das mag einem so vorkommen. Aber im Rückblick hat sich unglaublich viel zum Besseren gewendet. Heute sind Arbeitsplatzumgebungen so gestaltet, dass sich Menschen nicht verletzen können. Die Maschinen werden menschengerecht und nicht maschinengerecht konstruiert. Wir selbst haben auch eine Ergonomielehrerin eingestellt. Im Dialog mit Konstrukteuren sorgt sie dafür, dass unsere Maschinen möglichst belastungsarme, ergonomische Bewegungen ermöglichen. 

Ausgabe 31

Bewegung beginnt im Kopf

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Bei Victorinox haben Sie zudem das Programm »Balance Time« eingeführt. Was steckt dahinter?

Im Leistungssport ist klar: Ein Mensch kann nicht ununterbrochen trainieren. Er braucht Regenerationsphasen. An Kraft gewinnt man nicht im Training, sondern in der Pause. Deshalb sollten auch Studenten nicht ganze Nächte durchpauken. Sie müssen schlafen, um das Gelernte zu verarbeiten. Nur so kann man am nächsten Tag neue Bausteine setzen. Die Idee zu »Balance Time« kam uns, als einige Personen an Handgelenk-, Schulter- oder Rücken- und Nackenproblemen litten. Zusammen mit einer Lehrerin für die Alexander-Technik haben wir ein Bewegungsprogramm entwickelt und es »Balance Time« genannt. Seither verlassen unsere Mitarbeitenden zwei- bis dreimal am Tag ihren Arbeitsplatz für fünf Minuten und führen unter Anleitung einige Entspannungsübungen durch. Der Fokus geht weg von der Arbeit hin zu uns selbst: Wie fühle ich mich? Wie verhält sich mein Körper? Wie kann ich Verspannungen lösen? Mittlerweile haben wir Instruktoren ausgebildet und führen unser »Balance Time«-Programm auch im Ausland durch. Der Effekt ist unglaublich: Wir konnten die Ausfallzeiten halbieren. 

Schon der Firmengründer Karl Elsener I. wollte Arbeitsplätze schaffen – und niemanden aus wirtschaftlichen Gründen entlassen. Ist das bis heute gelungen? 

Ja – mit einer Ausnahme: Als wir unsere Fashion-Produktion in New York einstellten, mussten wir uns von Mitarbeitenden trennen. Wir haben sie zwar unterstützt und ihnen Arbeitsplätze in der Schweiz und an anderen Standorten angeboten. Aber die meisten waren spezialisierte Modedesigner. Und New York ist der beste Standort, um sich in dieser Branche auszuleben. Sie haben alle schnell wieder spannende Jobs gefunden.

Was hier bei Victorinox auffällt: In vielen Räumen hängt ein Kreuz. Was bedeutet das?

Das Kreuz ist ein Plus. Es steht für die Grundgesinnung der Unternehmerfamilie Elsener – für christliche Werte. Jedes Mal, wenn ich das Kreuz anschaue, erinnert es mich daran, was mir wichtig ist – und an die sieben Kernwerte von Victorinox: Respekt, Vertrauen, Dankbarkeit, Verantwortung, Mut, Offenheit und Bescheidenheit. Diese Werte teilen wir mit allen Glaubensrichtungen. 

Ist Spiritualität eine Ressource am Arbeitsplatz?

Für mich persönlich schon, mein Glaube gibt mir Zuversicht – für andere eher weniger. 

Sie gehen bald in Pension. Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Ich war gerade in Asien und Südamerika unterwegs und habe gemerkt, wie schwer mir der Abschied vom Berufsleben fällt – auch wenn ich weiterhin Aufträge für Victorinox ausführen werde. Gleichzeitig freue ich mich auf das, was kommt. Bisher standen für mich Gesundheit, Familie und Beruf im Vordergrund. Künftig werde ich mir mehr Zeit für Freundschaften nehmen.

Robert Heinzer

Robert Heinzer

Nach einer Lehre als Dachdecker startete Robert Heinzer in der Sportwelt durch. Als Trainer begleitete er die Schweizer Leichtathleten an Olympische Spiele, Weltmeisterschaften und Europameisterschaften. Danach stieg er als Personalchef bei Victorinox ein. Heinzer treibt gerne Sport, ist mit dem Motorrad unterwegs und kümmert sich als Verwaltungsratspräsident um die Schuler Weine. Er ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen.