Anja Reumschüssel
Wie erklärt man den Nahostkonflikt?
Mit ihren Büchern macht Anja Reumschüssel Jugendlichen komplexe politische Themen greifbar. Der Debutroman der renommierten Journalistin erlangte durch die Eskalation in Nahost besondere Brisanz. Ein Gespräch über Schwarz-Weiß-Denken, Versöhnung und den vielleicht schönsten Beruf der Welt.
Als »Über den Dächern von Jerusalem« 2023 erschien, war die Lage in Israel noch eine völlig andere. Hättest du dir vorstellen können, dass das Thema plötzlich so die Weltpolitik beherrscht?
Ursprünglich hatte ich an ein Sachbuch zum 75. Jubiläum der Staatsgründung Israels gedacht. Aber dann kam die Idee auf, einen Roman daraus zu machen. Die Entwicklung im Nahostkonflikt ist seit Jahrzehnten unberechenbar. Aber dass sich auch Jugendliche und Schulen auf einmal wieder verstärkt mit dem Nahostkonflikt beschäftigen, weil er tragischerweise so in den Fokus gerückt ist, damit habe ich überhaupt nicht gerechnet.
Es gibt verschiedene Wahrheiten, je nachdem, mit wem man spricht.
Du hast eine intensive Verbindung zu Israel. Wie fing das an?
Ich bin in meiner Studienzeit viel gereist, aber nie in den Nahen Osten. Als ich nach dem Abschluss einen Aushang für ein Praktikum beim Palestine News Network in Bethlehem sah, bewarb ich mich darum kurzerhand dafür. Ich wusste kaum etwas über die Situation im Land, als ich 2011 dorthin flog. Bei meiner Ankunft wunderte ich mich über den großen Grenzposten mitten im Land. Ich kam in einer internationalen WG unter mit Blick auf die israelische Mauer und Wachtürme. Siebzig Jahre zuvor war dieses Viertel noch ein Flüchtlingslager gewesen. Ich befand mich also mitten im Konflikt, ohne viel Ahnung davon zu haben. Meine zwei amerikanischen Mitbewohner merkten das sofort und klärten mich am ersten Abend über die Grenzen, Siedlungen, Dörfer und Checkpoints auf. In der Nachrichtenagentur habe ich dann natürlich viel gelernt – über die palästinensische Sicht. Nach zwei Wochen Horrorgeschichten über erschossene Kinder und zerstörte Häuser merkte ich, wie meine Wahrnehmung in ein Schwarz-Weiß-Denken über die armen Palästinenser und die bösen Israelis kippt.
Wie bist du damit umgegangen?
Ich wollte die andere Seite kennenlernen und bin mit ein paar Deutschen an die Grenze zum Gazastreifen gefahren, in die israelische Stadt Sderot. Danach reiste ich per Couchsurfing weiter durchs Land und erlebte, dass die Israelis genauso in Angst und Schrecken leben und ein einseitiges Denken die Realität des Konflikts weit verfehlt.
Nach deinem Praktikum hat dich Israel nicht mehr losgelassen …
Ein Vierteljahr hat einfach nicht ausgereicht. Ich wollte noch mehr lernen und verstehen. Letztlich blieb ich zwölf Monate und bin seitdem fast jedes Jahr zurückgekehrt. In dieser Zeit sind mir so viele spannende Dinge passiert, über die ich schreiben wollte. Doch es gibt dort eine Menge etablierte Journalisten, sodass es nicht einfach war, Artikel in deutschen Medien unterzubringen. Das hat mich frustriert. Die vielen unerzählten Geschichten waren ein Grund, das Buch zu schreiben.
Wie viel selbst Erlebtes steckt denn schlussendlich in dem Roman?
Im Part des Buchs, der in der Gegenwart spielt, ist vieles enthalten, was ich erlebt oder recherchiert habe: etwa die Demonstrationen, die Party, die Verhaftung und das Verhör. Was die Protagonisten sagen, habe ich zum größten Teil so gehört. Bei Buchlesungen zeige ich Fotos meiner Reisen nach Israel, erzähle die zugehörigen Anekdoten und lese dann den Abschnitt, der aus diesen Erlebnissen entstanden ist.
Und was ist mit dem Part, der in der Vergangenheit spielt?
Da war es schwieriger, sich die Dialoge auszudenken. Wie haben die Menschen damals gesprochen? Was hat sie umgetrieben? Ich habe mir Filme aus der Zeit angeschaut und Bücher von damals gelesen. Damit konnte ich auch diese Hälfte gut anfüttern.
Du hast also viele Puzzleteile aus deinen Erlebnissen zusammengefügt. Wie realistisch ist das Romangeschehen?
Ich erkläre es immer so: Die Kulisse ist echt. Auch was ich über die Jahre 1946 bis 1948 beschreibe, ist alles so passiert. Die vier Hauptpersonen gab und gibt es natürlich nicht. Vor dem Schreiben bin ich nochmal für drei Wochen nach Israel gereist, an die Orte, an denen das Buch spielt. Ich wollte sichergehen, dass das, was ich aufschreibe, mit der Realität von heute übereinstimmt. Und ich habe mir eine Palästinenserin und eine Jüdin gesucht, die jeweils nur »ihren« Part gelesen haben, um mir Rückmeldung zu geben, ob das Geschriebene authentisch ist.
Dein Sujet ist extrem komplex. Hattest du für dich das Gefühl, dem Thema überhaupt gerecht werden zu können?
Natürlich nicht, ich musste vieles weglassen. Was ich transportieren wollte, ist: Warum gibt es diesen Konflikt immer noch? Wo rührt er her? Warum ist er so kompliziert? Und vor allem: Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß, sondern verschiedene Wahrheiten, je nachdem, mit wem man spricht.
Wie leicht ist es dir gefallen, so eine neutrale Sicht einzunehmen?
Als Journalistin bin ich es gewohnt, Dinge von allen Seiten zu beleuchten. Ich habe mich aber beim Schreiben immer wieder mal gefragt, ob es nicht ziemlich anmaßend ist, als Nichtjüdin, Nichtmuslima, Nichtisraelin, als Außenstehende und dann noch als Deutsche ein Buch zu schreiben, in dem ich den Nahostkonflikt erkläre.
Im Nachwort heißt es: »Hass und Zorn zu überwinden, ist der ein-zige Weg heraus aus diesem Konflikt.« Wie groß ist deine Hoffnung, dass so ein Aufeinander-Zugehen in Israel gelingen kann?
Ich habe keine andere Hoffnung. Der palästinensische Mann einer muslimischen Freundin wurde von israelischen Soldaten auf offener Straße erschossen – durch ein Missverständnis. Diese Freundin hat sich dem Verein Parents Circle angeschlossen, in dem Israelis und Palästinenser zusammenkommen, die alle in diesem Konflikt einen geliebten Menschen verloren haben. Ich war auch mit einer israelischen Organisation unterwegs, die palästinensische Bauern bei der Olivenernte unterstützt. Auf einer israelischen Hochzeit beeindruckte es mich sehr, wie der Brautvater ausgelassen mit einem palästinensischen Freund aus dem arabischen Nachbardorf tanzte. Solche Beispiele machen mir Hoffnung. Versöhnung ist der einzige Weg und dass nachkommende Generationen es besser machen.
Versöhnung ist der einzige Weg. Ich habe keine andere Hoffnung.
Für den Roman bist du mit dem renommierten »Buxtehuder Bulle« ausgezeichnet worden. Gleichzeitig bist du zweimal für den Jugendliteraturpreis nominiert. Macht dich das stolz?
Stolz ist vielleicht das falsche Wort, aber ich freue mich riesig! Es ist eine tolle Bestätigung für mich, schließlich ist es mein erster Roman. Ob ich die Zielgruppe damit erreiche, ob Jugendliche überhaupt etwas über den Nahostkonflikt lesen wollen, konnte ich nicht einschätzen. Die Anfragen für Lesungen in Schulen und Bibliotheken bestätigen das aber nun. Nach einer Buchvorstellung kam ein Schüler auf mich zu und meinte: »Ich mag eigentlich keine Bücher. Aber deins habe ich bis zum Ende gelesen.« Das ist für mich die krasseste Auszeichnung!
Du schreibst für Print und Online, hast Radio gemacht und Videos gedreht. Was an deinem Job macht dir am meisten Spaß?
Wo fange ich da an? Die Freiheit. Dass ich machen kann, was ich will. Dass ich nie weiß, was kommt. Das finde ich aufregend. Ich brauche auch keinen Urlaub. Egal wo ich bin, finde ich immer irgendeine tolle Story und schreibe darüber. Ich mag es zudem, mich Themen zu widmen, bei denen ich jemandem helfen kann. Deswegen schreibe ich gern Schicksalsgeschichten, weil das für die Betroffenen meist eine Entlastung ist, erzählen zu können. Und die, welche die Geschichten lesen und selber betroffen sind, erhalten so vielleicht eine neue Perspektive.
Sind Journalisten Hoffnungsträger, weil sie Missstände aufdecken, auf Schicksale hinweisen oder Sachverhalte verständlich machen?
Journalismus als vierte Gewalt, wie er genannt wird, ist eine zentrale Komponente der Demokratie. Aber es kommt darauf an, wie Journalisten ihren Beruf ausüben. Sie können Hoffnungsträger sein, wenn sie nicht populistisch arbeiten, sondern gründlich recherchieren, sich alle Seiten anschauen und versuchen, auch Meinungen zu verstehen, die sie selbst überhaupt nicht vertreten. Dem Journalismus wird ja manchmal der Vorwurf gemacht, er sei zu negativ. Aber selbst in den schlimmsten Geschichten kann man einen hoffnungsvollen Dreh finden, wenn man will. Ja, Journalisten sollten Hoffnungsträger sein!
Hast du schon Pläne für dein nächstes Buch?
Ich schreibe eine Schicksalsgeschichte. Das wird mein erster Erwachsenen-Roman. Parallel dazu arbeite ich an zwei Kinderbüchern.
Du hast also Gefallen am Buchschreiben gefunden?
Mit vier Kindern ist es einfach optimal. Ich sitze nachts im Schlafzimmer und schreibe, während die Kleinen friedlich schlafen. Das ist eine wahnsinnig schöne Zeit für mich.
10 Perlen der Hoffnung
Dieser Artikel ist in der neuen Hoffnungsausgabe erschienen. Kaufe dir diese Ausgabe mit allen Heroes of Hope 2025. Tipp: Schenke sie möglichst vielen Geschäftskontakten, Freunden und Angehörigen und profitiere vom Mengenrabatt!
BestellenAnja Reumschüssel
Nach dem Studium der Publizistik, Soziologie und Theologie besuchte sie die Henri-Nannen-Journalistenschule. Nebenbei arbeitete sie im Rettungs- und Pflegedienst. Die 40-Jährige schrieb für Magazine wie Spiegel, Stern und Geo und wurde für Reportagen, das Sachbuch »Extremismus« sowie den Debutroman »Über den Dächern von Jerusalem« mit Preisen bedacht. Sie liebt es, die Welt zu bereisen – mit ihren vier Kindern im Gepäck.