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Christian Wulff

Wie konnten Sie Frieden schließen, Herr Altbundespräsident?

Christian Wulff ist eingegangen in die Geschichtsbücher: als zehnter Bundespräsident, als jüngster Bundespräsident, als kürzester Bundespräsident Deutschlands. Nach haltlosen Anschuldigungen stürzte der erste Mann im Staat tief ab. Wie hat er es geschafft, nicht nur wieder aufzustehen, sondern alle Wut und Verzweiflung hinter sich zu lassen?

Simon Jahn
Simon Jahn
11 min

Wenn es einer geschafft hat, sich aus schwierigen Verhältnissen zum ersten Mann im Staat hochzuarbeiten, sind ihm die Sympathien so gut wie sicher. Wir alle lieben doch die Geschichten vom Tellerwäscher, der sich ganz nach oben kämpft. Auch bei Christian Wulff hätte es so sein können. Als er zwei Jahre alt war, verließ der Vater die Familie. Auch der Stiefvater ging, sodass der Sechzehnjährige die Pflege seiner an Multipler Sklerose erkrankten Mutter übernahm und sich mit um die Erziehung seiner acht Jahre jüngeren Halbschwester kümmerte.

Nach nur 598 Tagen im Amt tritt Christian Wulff zurück.

Die frühe Verantwortung lehrt ihn, sich für andere einzusetzen – Schülersprecher, Stadt- und Landesschülerrat, Studentensprecher. Auch politisch will er schon früh etwas bewegen: Schüler Union, Junge Union, Eintritt in die CDU, Stadtrat in Osnabrück, Landtagsabgeordneter und mit 33 Jahren Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten in Niedersachsen. Zweimal – 1994 und 1998 – scheitert er an Gerhard Schröder. Im dritten Anlauf erringt er 2003 das Amt des Ministerpräsidenten, für das er 2008 in eine zweite Legislaturperiode geht – bis Angela Merkel, Horst Seehofer und Guido Westerwelle ihn 2010 als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten nominieren.

Dass Wulff die Wahl gewinnt, scheint Formsache. SPD-Parteichef Sigmar Gabriel stellt einen Gegenkandidaten vor: »Joachim Gauck bringt ein Leben mit in seine Kandidatur, und der Kandidat der Koalition bringt eine politische Laufbahn mit.« Die Sympathien fliegen nun Gauck statt Wulff zu, der schließlich in den ersten beiden Wahlgängen nicht die erforderliche Mehrheit erhält, obwohl die Regierungskoalition die absolute Mehrheit stellt. Erst im dritten Wahlgang wird Wulff mit 51 Jahren zum jüngsten bisherigen Bundespräsidenten gewählt. Er zieht mit seiner zweiten Frau Bettina und zwei Kindern (2 und 7 Jahre) nach Berlin. Im Amtszimmer im Schloss Bellevue wird erstmals eine Spielecke eingerichtet. Ein hoffnungsvoller, frischer Wind scheint Wulffs Amtsantritt als Bundespräsident zu begleiten.

Herr Wulff, wie stellen Sie sich einem Kind vor, das Sie nicht kennt?

Ich finde aktives Handeln sehr wichtig, mit anderen gemeinsam Dinge zum Guten zu verändern und voranzubringen. Brücken zu bauen zwischen verschiedenen Positionen. Menschen, die am Rand stehen, in die Mitte zu holen. Manche beschreiben mich als zurückhaltend, aber auch entschlossen. In dieser Kombination finde ich mich wieder.

Den meisten Menschen kommt natürlich zuerst Bundespräsident in den Sinn. Wie viel davon steckt heute noch in Ihnen?

Bundespräsident ist ein Amt auf Zeit, aus dem aber eine bleibende Verantwortung wächst. Man wird auch danach noch als ehemaliger Bundespräsident wahrgenommen. Um dem gerecht zu werden, fühle ich mich dauerhaft verpflichtet, keine fremden, sondern immer deutsche Interessen zu vertreten.

Mit welchem Gefühl denken Sie an Ihre Amtszeit zurück?

Ich freue mich sehr darüber, dass sich auf der langen Linie der Zeit zunehmend der Schatten lichtet, der über meiner Amtszeit lag – durch die dreimonatige Empörungswelle mit häufig verdrehten, unwahren und absurden Vorwürfen. Nun können die eigentlichen Themen meiner Amtszeit – Zusammenhalt der Gesellschaft, Integration, Stärkung der bunten Republik Deutschland auf einem Wertefundament – wieder in den Vordergrund rücken. So hat es mir auch gutgetan, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Laudatio bei meiner Ernennung zum Ehrenbürger meiner Heimatstadt Osnabrück meine eigentlichen Anliegen und mein Engagement offengelegt hat. 

Der Schatten ist lang, die Amtszeit als Bundespräsident kurz. Nach nur 598 Tagen tritt Christian Wulff zurück. Vorausgegangen ist dem eine bis dato beispiellose dreimonatige Hetzjagd durch Medien – angeführt von »Bild«. Politiker und Justiz sind gleichermaßen involviert. Wulff reagiert teils ungeschickt. Nach Vorwürfen der Boulevardzeitung wird die Immunität des Bundespräsidenten aufgehoben, die Staatsanwaltschaft Hannover nimmt Ermittlungen auf, die dreizehn Monate andauern. Der Vorwurf: Bestechlichkeit, später abgeschwächt auf Vorteilsannahme. Einen Tag später, am 17. Februar 2012, legt der einstige Hoffnungsträger sein Amt nieder. Während des Prozesses, der sagenhafte 21 Aktenordner für einen Tatvorwurf von 400 Euro füllen wird, bietet das Gericht Wulff eine Einstellung des Verfahrens gegen Zahlung von 20 000 Euro an. Der lehnt ab. Am Ende – zwei Jahre nach Wulffs Rücktritt – stehen ein Freispruch und Schadensersatzansprüche für erlittene Maßnahmen.

Ich war mir sicher: Gott hat noch einen Plan, auch für mein Leben.

Sie und Ihre Familie sind sehr stark beschuldigt worden, mussten Hausdurchsuchungen und andere Maßnahmen über sich ergehen lassen, die einem Schwerverbrecherprozess gleichkamen. 

Erst Staatsoberhaupt und dann auf der Anklagebank – das war extrem. Schlaflosigkeit, enormer Druck, starke Ängste, Sorgen, Wut, Verzweiflung darüber, was da unseren Kindern angetan und in unserer Familie zerstört wird – das waren in der Zeit unsere Begleiter.

Woher haben Sie die Kraft genommen, nicht aufzugeben?

Geholfen haben soziale Kontakte, gute Freunde, hilfreiche Bücher – etwa die des Theologen Pierre Stutz darüber, die eigenen Unvollkommenheiten anzuerkennen. Auch mein christlicher Glaube, der mir immer wieder vor Augen geführt hat, dass ich als Geschöpf Gottes gewisse Tugenden, Werte und Fähigkeiten bekommen habe, die ich der Allgemeinheit zunutze machen muss. Gott ist für mich Halt und das Wissen, dass es etwas Größeres und Dinge gibt, die wir nicht verstehen können, die uns aber demütig sein lassen sollten. Ich war mir sicher: Gott hat einen Plan, auch noch für mein Leben. Mir war es extrem wichtig, Handelnder zu bleiben und mich nicht als Opfer zu definieren und damit anderen Menschen keine Macht über mich zu geben.

Wie verarbeitet man solche Erlebnisse?

Etwa durch die Auseinandersetzung mit den Fragen: Wo habe ich gestanden? Wo stehe ich jetzt? Und wo werde ich stehen? Man darf trauern, aber man sollte nicht dauerhaft trauern, sonst wird es traumatisch. Abschließen konnte ich auch dadurch, dass ich mir gelegentlich ein weißes Blatt Papier vorgelegt habe, auf dem ich notiert habe, wo ich in fünf oder zehn Jahren stehen möchte. Darauf habe ich dann vermerkt, dass ich dann wieder Rechtsanwalt sein möchte, aber auch Buchautor, Redner und Vorsitzender ehrenamtlicher Verbände. Das hat mir geholfen, den Blick zu weiten auf das, was über das Amt weit hinausgeht, nämlich die eigene, vielfältige Persönlichkeit als Vater, Ehemann, Jurist und Katholik. Gegen den Rat meiner Freunde habe ich zudem das Buch »Ganz oben, ganz unten« geschrieben, weil ich gemerkt habe, dass ich das für mich brauche, um mit der Vergangenheit abzuschließen. Ich musste die Ereignisse auf derselben Ebene, wie sie mir begegnet sind, nämlich öffentlich, angehen. Das war meine Form der Bewältigung und des Nach-vorne-Schauens.

Konnten Sie so Frieden mit der Situation schließen?

Mir kam zugute, dass ich Optimist bin. Schon meine Großmutter hat mir mitgegeben, dass alles zwei Seiten hat und man später erst erkennt, wofür Dinge gut sind. Ich konnte auch Frieden schließen, weil ich grundsätzlich sehr dankbar bin. Ich sehe es als Glück, in einem Land zu leben, in dem man als einfacher Bürger Präsident werden kann, in dem man als Präsident gestalten kann und dass man im Rückschlag auf den Rechtsstaat vertrauen kann, wenn man sich nichts vorzuwerfen hat. Mit mir war ich immer im Reinen, sonst hätte ich das nicht durchgestanden. Aber ich habe auch mit meiner Umgebung und mit denen, die mir sehr feindselig gesonnen waren und mir das Leben schwer gemacht haben, Frieden geschlossen. Ich will mit niemandem im Unfrieden leben, dafür ist das Leben zu kurz und hat andere Prioritäten verdient. Mein größtes Vorbild in der Hinsicht war immer Nelson Mandela. Er hat über Jahrzehnte gelitten und trotzdem keinen Hass entwickelt, sondern sich den Gedanken an Versöhnung erhalten und dann auch umgesetzt.

Woher kommt diese positive Grundeinstellung?

Zum einen kam ich aus einem angespannten Umfeld mit vielen divergierenden Positionen: Mein Vater war Sozialdemokrat, meine Mutter Christdemokratin, mein Vater überzeugt evangelisch, meine Mutter streng katholisch. Als Kind will man sich da nicht auf eine Seite stellen, sondern sucht seine eigenen Positionen. Dadurch bin ich früh geprägt und sehr selbstbewusst geworden. Zum anderen: Im Moment einer schwierigen Kindheit empfindet man diese als große Belastung. Aber auch als Herausforderung. Und weil ich es bewältigt habe, für eine schwer erkrankte, gelähmte Mutter und eine neun Jahre jüngere Schwester zentral verantwortlich zu sein, gab mir das auch Kraft, Halt und Selbstbewusstsein. Und wenn man später einer großen Herausforderung gegenübersteht, wie ich als Bundespräsident, erinnert man sich daran, dass man schon ganz andere Dinge bewältigt hat und darum auch diese Situation bewältigen kann.

Was bedeutet Glück für Sie?

Tatsächlich habe ich mir eine eigene »Glücksformel« entwickelt, die ich jeden Abend reflektiere: Dabei steht das G für die Frage: Hatte der Tag eine geistige Erbauung? Für L: Habe ich eine besondere Form von Liebe erlebt – etwa mit meinen Kindern? Ü steht für überschäumende Lebensfreude, also kann ich mich noch freuen wie ein Kind? Das C bedeutet Commitment: Habe ich am Tag auch etwas für andere oder mit anderen gemacht? Und schließlich das K für Körperlichkeit, nämlich dass man für den eigenen Körper auch etwas tun muss, um darin glücklich zu sein. 

Zehn Jahre nach dem Rücktritt wirkt Christian Wulff leicht und gelöst. Beherzten Schritts erscheint er mit einem freundlichen Lächeln zum Interview in einem gut gefüllten Café am Maschsee in Hannover und kommt direkt ins Plaudern. Zu jedem Ort, zu jedem Thema hat er ein Beispiel aus seinen vielfältigen Begegnungen und Aktivitäten parat. Er spricht von seiner Frau, schwärmt von seinem Niedersachsen und berichtet von den Mentis, die er betreut – junge Menschen mit Migrationshintergrund, die ihn jederzeit auf dem Handy anrufen können und mit denen er sich einmal im Jahr als Mentor zu einer Art Coaching trifft. Jedes Jahr kommen zwei neue Mentis dazu. Wulff wirkt milde, aber hellwach und weiß immer wieder eine Prise Ironie einzuwerfen. Beim Gespräch über die schwere Zeit, die zu seinem Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten geführt hat, spürt man ihm tatsächlich nicht den Hauch einer Verbitterung ab.

Wie lassen sich junge Leute heute noch für Politik begeistern?

Ich sehe mit Freude, dass Jugendliche wieder sehr viel politischer werden, sich gegen den Klimawandel engagieren, fürs Miteinander, Inklusion, Integration, eine vielfältige Gesellschaft. Die Parteijugendorganisationen sind allerdings bei Weitem nicht so flexibel und reformbereit, diese jungen Leute einzuladen und mit ihnen ins Gespräch zu treten. Das finde ich sehr beklagenswert. Es muss das zentrale Anliegen der Parteien sein, jungen Leuten Bühnen zu bieten, auf denen sie umfassend aktiv werden können. Diese wollen heute nicht mehr erst Plakate kleben, sondern sofort mitentscheiden. Im Internet werden sie fortwährend nach ihrer Meinung gefragt: Wie fanden Sie das Hotel? Wie die Zugfahrt? Wie stehen Sie zu dieser oder jener Frage? Da reicht es ihnen nicht mehr, alle zwei Jahre auf dem Parteitag oder alle vier oder fünf Jahre für den Land- oder Bundestag abzustimmen. Es müssen Formen entstehen, die ihnen und ihren Gewohnheiten gerecht werden. Da braucht es ein viel schnelleres Umdenken und eine stärkere Verbindung der Älteren mit den Jungen und ihrer digitalen Welt. Demokratie benötigt aktive Demokratinnen und Demokraten, sonst ist sie in Gefahr.

Ich habe es bewältigt, für eine schwer erkrankte Mutter und eine neun Jahre jüngere Schwester verantwortlich zu sein.

Welchem Typus Politiker gehört die Zukunft?

Wir brauchen mehr Politikerinnen. Die sind häufig sehr lösungsorientiert. Gerade die Männer in der Politik müssen lernen, viel mehr über Emotionen zu reden. Da braucht es mehr selbstreflektierten und selbstkritischen Umgang. Für mich ist Robert Habeck ein Politiker, der eher diesen neuen Typus verkörpert, über Schwächen, Schwierigkeiten und grundlegende Positionswechsel in der Verantwortung offen zu sprechen und dadurch eine große Glaubwürdigkeit und Authentizität zu haben. Notwendige inhaltliche Kontroversen in der Sache sind davon unabhängig.

Als jüngster Bundespräsident haben Sie frischen Wind ins Schloss Bellevue gebracht. Hat das das Amt verändert?

Das hoffe ich. Es wäre fatal, wenn das frühe Ende meiner Amtszeit dazu führen sollte, dass man wieder lieber auf Ältere setzt. Ich finde es nach wie vor total attraktiv, jüngere Leute mit Familie zum Bundespräsidenten oder zur Bundespräsidentin zu wählen. Damals waren unsere Kinder im Kindergarten und in der Schule. Und wenn man, so wie wir, mitten im Leben von Familien steht, schafft das eine hohe Glaubwürdigkeit. Im Ausland standen wir als junges Präsidentenpaar mit Kindern für ein sich modernisierendes junges Deutschland. Und genau darum sehe ich uns weiterhin als Modell für künftige Präsidentenfamilien.

Was hat das Amt Sie über Führung gelehrt?

Ich halte es für die erfolgreichste Form der Führung, Menschen zu berühren – nicht nur ihren Verstand, sondern auch ihre Seelen und ihre Herzen anzusprechen. Es ist viel besser, Menschen zu überzeugen und zu gewinnen, anstatt ihnen etwas vorzuschreiben und Hierarchien aufzubauen. Auf diese Weise bin ich erfolgreich gewesen und heute wieder erfolgreich, indem ich den Menschen immer viel zugetraut habe. Man sollte dabei aber nicht der Verführung erliegen, zu denken, man selbst sei so toll. Vielmehr habe ich immer gewusst, dass mein Erfolg vor allem von ganz vielen um mich herum bewirkt, abgestützt und überhaupt erst ermöglicht wurde.

Am 30. Juni 2022, genau zwölf Jahre nach seinem Amtsantritt, wird Christian Wulff Ehrenbürger seiner Heimatstadt Osnabrück. Laudator ist der amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.  

Christian Wulff

Christian Wulff

598 Tage lang war er der erste Mann im Staat, dann trat Christian Wulff (63) vom Amt des Bundespräsidenten zurück. Vorausgegangen waren drei Monate mediales Dauerfeuer mit Anschuldigungen, die sogar zur Aufhebung seiner Immunität führten und sich letztlich alle als haltlos erwiesen. Heute ist der einstige CDU-Politiker, der von 2003 bis 2010 niedersächsischer Ministerpräsident war, wieder als Jurist tätig. Er ist in zweiter Ehe mit Bettina Wulff verheiratet und wohnt in Burgwedel. Über seine Zeit als jüngster Bundespräsident Deutschlands schrieb er das Buch »Ganz oben, ganz unten«.