Roland Juker
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Christina Oiticica

Wo der See zum Pinsel greift

Seit jeher hat die Natur die Kunst beeinflusst. Und »Eco Art« ist geradezu hip. Aber das reicht der weltweit erfolgreichen Künstlerin Christina Oiticica nicht: Sie erschafft ein Werk nur bis zur Hälfte – und lässt die Natur den Rest erledigen.

Stephan Lehmann-Maldonado
Stephan Lehmann-Maldonado
9 min

Wir befinden uns auf der Dachterrasse einer Attikawohnung, hoch über dem noblen Quartier Champel in Genf. Auf der einen Seite erscheinen die majestätischen Alpen, auf der anderen die Gipfel des ­Jura. Dazwischen befinden sich Wohnbauten, Parks und der Genfersee. Doch wenn der Blick auf der Terrasse verweilt, fällt er schnell auf eine leicht zerknitterte, bemalte Leinwand, die auf dem Boden liegt. Sanft zeichnen sich darauf die Konturen der Venus ab, die einen an das berühmte Gemälde »die Geburt der Venus« des Renaissance-Meisters Sandro Botticelli erinnern. An manchen Stellen wirken die Farbtöne abgeblättert, an anderen sind sie von Sand bedeckt.

Das Bild ist keine fünfhundertjährige Kunstreliquie. Es handelt sich um ein aktuelles Werk aus der Venusreihe von Christina ­Oiticica. Gemalt ist es mit Naturfarben, Tee, Kaffee, Anilin. Christina Oiticica studierte Anfang der Siebzigerjahre Kunst in ­ihrer Heimatstadt Rio de Janeiro und hat ihr Oeuvre schon in Galerien und Ausstellungen rund um die Welt präsentiert. ­Nebenbei begleitet sie seit über vierzig Jahren den Bestsellerautor Paulo Coelho – kein lebender Schriftsteller verkauft mehr ­Bücher als er – als Ehefrau, Muse und Sparringspartnerin. Aber was zum Kuckuck hat ein Gemälde auf dem Terrassenboden verloren?

Roland Juker
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Venus aus dem Genfersee

Christina Oiticica lacht, als wir bei ihr zu Gast weilen. »Die Sonne scheint. Da wollte ich das Bild an der frischen Luft trocknen lassen.« Das war auch bitter nötig. Christina Oiticica ist wohl die einzige Künstlerin, die Wasser nicht zum Verdünnen von Farbe gebraucht, sondern ihre Bilder ganz dem Wasser überlässt. In diesem Fall legte sie ihr Werk in den Genfersee. Keine Arbeit für eine zartbesaitete Dame, aber eine für eine Kämpferin wie sie Jeanne d’Arc war – eines der Vorbilder von Christina Oiticica. An den Ufern des Sees wehen Winde und im Winter ist das Wasser kühl. Obendrein galt es, das Bild mit Steinen zu fixieren, damit es die Wellen nicht wegtreiben.

Zuerst dachte ich: »Meine Arbeit ist ruiniert.«

An der Staffelei im lichtdurchfluteten Atelier – das von der Dachterrasse umgeben ist – hängt eine weitere Venus, wobei um diese Rosen schwimmen. Wie ein roter Faden ziehen sich Symbole fürs Weibliche durch die Arbeiten von Christina Oiticica. Weitere Venusbilder, die sie in einem anderen Raum zwischenlagert, dekorierte sie mit Fäden, Gold, Pailletten und Perlen. Zwischenzeitlich dachte sie sogar daran, eine Venus mit Smartphone zu malen – »das ist doch unser verlängerter Arm« –, verzichtete aber schließlich darauf. 

»Jede Venus verkörpert eine Frau mit Würde, die eine intensive Beziehung zum Wasser und zur Natur pflegt«, sagt Christina Oiticica. Und jede soll an einem anderen Ort ins Wasser, um vollendet zu werden. Ins Auge stechen die dunklen Venusdarstellungen. »Quilombolas, die Nachkommen geflohener schwarzer Sklaven in Brasilien, sind starke Frauen. Sie kümmern sich um Kinder, kämpfen, um ihre Familien durchzubringen – und waschen oft noch von Hand.« Eine schwarze Venus verschenkt Christina Oiticica darum nach Bahia. Doch zuerst wird das Werk den Gewässern um Ilha de Maré in Bahia anvertraut.

Es begann mit einem »Zufall«

In den letzten zwanzig Jahren hat Christina Oiticica mit allen vier Elementen gearbeitet. Steht derzeit Wasser im Fokus, waren es zuvor Luft, Feuer und – immer wieder – Erde. »Ja, ich bin eine Partnerschaft mit der Natur eingegangen«, erklärt die Künstlerin, »aber diese begann mit einem Unfall.« Vor über zwanzig Jahren verbrachte sie mit ihrem Ehemann Paulo Coelho einige Monate in einem kleinen Hotel in den französischen Pyrenäen, in der Nähe des Pilgerorts Lourdes. Dort bereitete sie sich auf eine Ausstellung in Paris vor. Um ausreichend Platz zu haben, bemalte sie eine zehn Meter lange Leinwand im Wald. Bis der Abend hereinbrach. »Was sollte ich unternehmen? Ich wollte das Hotelzimmer nicht verschmutzen; ganz zu schweigen davon, dass der Geruch von Farbe unangenehm sein kann«, erzählt Christina Oiticica, »weil die Atmosphäre in der Natur so friedlich war, beschloss ich, das Bild einfach draußen zu lassen.«

Am nächsten Morgen folgte die Überraschung. Blätter und Insekten waren aufs Bild gefallen. Der erste Gedanke von Christina Oiticica: »Meine Arbeit ist ruiniert.« Dann besann sie sich eines Besseren. Sie hatte sich immer als Pilgerin gefühlt. Nun spürte sie, dass sie ihre Arbeit aus den vier Wänden hinaus unter den freien Himmel bringen sollte. »Es ist doch ein wunderbarer, göttlicher Akt, mit den Naturgewalten zusammenzuarbeiten.« Zugleich erfordere es Demut, denn man lasse die Natur ins eigene Tun eingreifen. Schon als Kind in Rio de Janeiro habe sie die Sandstrände, das Meer und die umliegenden Berge genossen. Und das Wasser und die Berge gaben letztlich den Ausschlag dafür, dass Christina Oiticica und Paulo Coelho sich vor rund zehn Jahren in Genf niederließen. »Die Stadt ist eine ­Mischung zwischen den Pyrenäen und Paris. Und die vier Jahreszeiten inspirieren mich.«

Ich sah, wie Paulo Coelho im Sanktuarium kniete.

Die Natur, das Weibliche und »das Heilige« faszinieren Christina Oiticica. In ihrem Atelier befinden sich aber auch ein Computer und eine aufgeschlagene Bibel. Beides sind Werkzeuge für sie. Mit dem Computer kreiert sie Muster und ist auf Instagram aktiv; aus der Bibel schöpft sie Weisheiten. »Ich wüsste nicht, wie ich leben sollte, wenn ich keinen Glauben hätte. Der Glaube gibt mir Kraft«, sagt die Künstlerin. Sie bete viel, etwa die Rosenkranzgebete. Jeden Montag tausche sie mit einer Gruppe von Freunden aus, wobei sie gemeinsam beteten – derzeit per Videokonferenz.

Sehnsucht nach dem Heiligen

Schon als Kind zog sie das »Herz Jesu als Quelle der Liebe« an, wie sie es formuliert. Ihre Familie war katholisch, drängte sie aber nie, in die Messe zu gehen. Christina Oiticica tat es aus eigenen Stücken. »Wenn mich mein Kindermädchen in den Park führte, wollte ich in die nahe Kirche gehen.« Neben dem Katholizismus lernte sie den Protestantismus früh kennen. Sie besuchte eine evangelische Schule. »Am Katholizismus schätze ich das Rituelle, Weihevolle. Dagegen sind die protestantischen Pastoren stark im Umgang mit Worten.« Klar, manchmal kämen auch Zweifel auf. Nicht immer würden sich alle Dinge im Leben wie erwünscht entwickeln. Sie glaube aber daran, dass uns alles zum Besten diene, meint Christina Oiticica. Schließlich habe sie schon viele Wunder erfahren. Zum Beispiel sei es kein Zufall, wie sie mit ihrem Ehemann Paulo Coelho zusammengekommen sei. Schon in der Kindheit kreuzten sich ihre Wege. ­Coelhos Schwester war mit Christina Oiticicas Onkel verheiratet. Die beiden fanden sich sympathisch – hatten aber andere Partner.

Ein Wunder namens Paulo Coelho

Wenn je einer Sturm- und Drangjahre durchmachte, dann Paulo Coelho. Kaum eine Er­fahrung blieb ihm erspart. Weil er sich nicht zum Ingenieur ausbilden ließ, steckte ihn sein Vater in die psychiatrische Zwangsjacke. Später schluckte er Drogen, experimentierte mit schwarzer Magie und verdingte sich als Rocker und Songtexter. Als Coelho einmal aus der psychiatrischen Anstalt ausgebrochen war, irrte er mit leeren Taschen durch die Straßen Salvadors und stolperte vor das Hilfswerk von Schwester Dulce, die vor zwei Jahren als erste Brasilianerin heiliggesprochen wurde. Plötzlich stand der Hippie der Ordensfrau gegenüber. Christina Oiticica: »Sie gab ihm kein Geld, aber einen Gutschein, damit er nach Hause fahren und etwas essen konnte.«

Von Paulo Coelhos wildem Lebensstil wusste Christina Oiticica damals allerdings kaum ­etwas. Die beiden begegneten sich erst wieder bei einer Taufe. Paulo Coelho sollte Pate der ersten Tochter seiner Schwester werden. ­Aufgrund eines Gelübdes fand die Taufe in Baependi statt, wo die brasilianische Selige Nhá Chica einst die Not der Ärmsten der Armen gelindert hatte. »Wenn ich an einem Ort bin, suche ich gerne die Stille von Kathedralen auf«, erzählt Christina Oiticica. So betrat sie das Sanktuarium der Nhá Chica – und staunte: »Ich sah, wie Paulo sich dort niederkniete.« Sie ahnte nicht, dass Coelho betete, er möge ein erfolgreicher Schriftsteller werden. Der Anblick löste auch bei Oiticica einen Wunsch aus: »Ich betete, dass ich einen Mann wie Paulo heiraten würde.« Er selbst war für sie tabu, zumal er bereits verheiratet war.

Auf dem Rückweg kam es zu einer Katastrophe: Ein Bus stoppte abrupt inmitten des dichten Verkehrs. Der Wagen hinter jenem von ­Oiticica und Coelho ging in Flammen auf. Sie konnten ausweichen und blieben verschont.  »Wir dankten für den Schutz«, sagt Christina Oiticica. Zurück in Rio de Janeiro verabschiedeten sich die beiden. Einige Jahre sahen sie sich nicht mehr. Bis sie sich bei einer Weihnachtsfeier wieder trafen. Paulo Coelho war inzwischen geschieden. Christina Oiticica: »Von da an waren wir unzertrennlich, womit für mich ein Wunder wahr wurde.«

Paulo Coelho musste sich etwas länger gedulden. Und er brauchte Schützenhilfe von Christina Oiticica. Zwar hatte er schon Texte fürs Theater und für Songs geschrieben, aber noch kein richtiges Buch. »Du willst Schriftsteller werden? Also schreib ein Buch!«, ermutigte Christina Oiticica ihren Ehemann. So verarbeitete Paulo Coelho mit 39 Jahren seine Erfahrungen auf dem Jakobsweg und veröffentlichte seinen Erstling: »Auf dem Jakobsweg – Tagebuch einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela«. Zwei Jahre später folgte der Durchbruch mit »Der Alchimist«.

Unterstützung für 450 Kinder

»Schon als Kind habe ich in jeder freien Minute gezeichnet«, betont Christina Oiticica. Doch nach dem Studium der Künste arbeitete sie zuerst in der Architektur, gründete einen Poesiebuchverlag und zog ein Kulturzentrum auf. Einen Wendepunkt stellte auch für sie der Jakobsweg dar, auf den sie sich 1990 begab. Sie verarbeitete die Eindrücke ihrer Pilgerreise visuell und mischte damit die Kunstszene auf. Mit Schwester Santa Dulce und Nhá Chica fühlen sich Coelho und Oiticica bis heute verbunden. In Baependi steht mittlerweile ein Waisenhaus, in Salvador befinden sich die Institutionen von Schwester Santa Dulce, unter anderem ein Krankenhaus. Das Ehepaar hat die Stiftung Instituto Paulo Coelho ins Leben gerufen, um Kindern in Brasilien sowie älteren Menschen zu helfen, ihr Potenzial zu entfalten. Als Christina Oiticica begann, in der Favela Pavão-Pavãozinho in Rio de Janeiro das Projekt »meninos de luz«, Kinder des Lichts, zu unterstützen, besuchten 80 Kinder die Tagesstätte. »Inzwischen erhalten bei uns 450 Kinder und Jugendliche ihre Mahlzeiten und Unterstützung im Alltag. Darum glaube ich an Wunder«, sagt Christina Oiticica.

Die Liebe als Leitschnur

Wenn sie spricht, fällt auf, wie oft sie ihren Ehemann erwähnt. »Es ist für mich kein Problem, wenn ihm die Leute viel Aufmerksamkeit schenken«, stellt Christina Oiticica klar. »Wer liebt, freut sich, wenn es dem Gegenüber gut geht.« Egal, ob sie ihre Werke am Amazonas, in Japan, Spanien, Sizilien oder gar im Schnee von St. Moritz vergräbt: Stets ist sie auf der Spur der Wahrheit und Schönheit. »Und das Schönste und Wahrste in der Welt ist die Liebe.« Wie um das greifbar zu machen, hat Christina Oiticica aus Fitinhas, Glücksbändern des »guten Herrn von Bonfim« aus Bahia, ein gigantisches buntes Herz geknüpft. Es hängt im Entree ihres Appartements und heißt Besuchende willkommen.

Roland Juker
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Was im Atelier von Christina Oiticica beginnt, ist etwa in der Gallery Elle in Zürich und St. Moritz zu bewundern.
Christina Oiticica

Christina Oiticica

Sie ist in Rio de Janeiro geboren, hat dort Kunst studiert und einen Verlag sowie ein Kulturzentrum aufgebaut. Doch Christina Oiticica (70) träumte seit ihrer Kindheit davon, das Ausland zu entdecken. Zusammen mit ihrem Ehemann, dem Erfolgsschriftsteller Paulo Coelho, lebt sie heute mehrheitlich in Genf. Das Paar ist seit über vierzig Jahren gemeinsam unterwegs. Oiticica arbeitet nicht nur in der Natur, sondern lässt deren Kräften im Gestaltungsprozess ihrer Kunstwerke gleich freien Lauf. Ihre Kunst hat sie mittlerweile bei Ausstellungen rund um den Erdball präsentiert.