Roland Juker
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Claudine Tanner

Würde auf der Haut

Mit Nadel und Faden umgehen, eine Hose umnähen? Geht nicht. Das übernimmt ihr Mann. Trotzdem beschloss Claudine Tanner 2017, ein stilvolles und gleichzeitig ökologisches und faires Lingerie-Label auf den Markt zu bringen. Ihr Ziel: Die Würde der Frau stärken und ein Zeichen gegen die Ausbeutung in der Textilindustrie setzen.

Ladina Spiess
Ladina Spiess
9 min

Angefangen hat alles auf dem Straßenstrich in Luzern. Claudine Tanner war zusammen mit Freunden ehrenamtlich in der aufsuchenden Milieuarbeit tätig. »Wir sahen die Not der Frauen, die zur Prostitution gezwungen wurden und wollten etwas dagegen unternehmen. Uns war schnell klar, dass wir bei der Prävention ansetzen mussten«, erinnert sich Claudine Tanner an die Ursprünge ihres Unternehmens. Den meisten Frauen fehlt es in ihrem Heimatland an fair entlöhnten Arbeitsstellen. Deshalb sind Angebote, in der Schweiz oder einem anderen westeuropäischen Land für guten Lohn eine Arbeitsstelle zu bekommen, verlockend. Umso größer der Schock, wenn sie anstatt in einer Fabrik oder einem Haushalt in einem Bordell landen, zur Prostitution gezwungen und mit unwürdigen Verträgen an ihre Zuhälter gebunden werden.

Der Start von Moya Kala

»Wir haben auf dem Luzerner Straßenstrich viele Bulgarinnen kennengelernt. So entstand die Idee, für Frauen in Bulgarien Arbeitsstellen zu schaffen, damit sie gar nicht erst in die Prostitution hineingeraten«, erklärt Claudine Tanner. Gleichzeitig beschäftigt sie sich seit Jahren mit dem Thema Nachhaltigkeit mit Fokus auf das Konsumverhalten der Gesellschaft. »Nachhaltige Kleiderlabel gab es zwar, aber nicht für Unterwäsche. Ich fand für mich keinen passenden Büstenhalter aus nachhaltiger Produktion.« Beides zusammen – die präventiven Massnahmen bezüglich Zwangsprostitution und die Idee eines Fair-Trade-Brands für Unterwäsche – führte zur Gründung von Moya Kala.

Der Brandname Moya Kala ist bulgarisch und bedeutet »meine Calla«. Die gleichnamige Blume steht für Sinnlichkeit, Schönheit, Perfektion und Würde. Früher wurde sie als Trauerblume verwendet, heute sieht man in ihr eine Freudenblume. »Diese Metamorphose wünschen wir allen Frauen, sowohl denen, welche die Unterwäsche nähen, als auch jenen, die sie tragen«, erklärt Claudine Tanner. »Frauen sollen ihre Würde erkennen, sich in ihrer Schönheit weiter entfalten und ihren Körper annehmen und feiern.«

Ich fand keinen BH aus nachhaltiger Produktion.

Die heute 34-Jährige wollte allerdings erst die Modebranche kennenlernen und begann, Textilwirtschaft zu studieren. Parallel zum Studium baute sie zusammen mit ihrem Mann und drei Freundinnen das Start-up Moya Kala auf. Mit einem ersten Crowdfunding generierten sie 50 000 Franken und starteten mit der Entwicklung. »Wir bauten bei einer Romafrau in Bulgarien ein Atelier auf und hofften auf den Aufbau einer eigenen Produktion. Es lief nicht wie gewünscht, vor allem Sprachbarrieren erschwerten die Zusammenarbeit«, erinnert sich Claudine Tanner an die ersten Schritte des Unternehmens.

Arbeit für bulgarische Frauen

Zur selben Zeit planten sie und ihr Mann, nach Bulgarien auszuwandern. »Wir haben das Land ganz besonders auf dem Herzen und verfolgten die Idee, eine eigene Produktion aufzubauen.« In der Umgebung von Varna, einer Hafenstadt am Schwarzen Meer, schauten sie sich geeignete Objekte an. Der Makler, der sie begleitete, berichtete ihnen von einem Unterwäscheproduzenten ganz in der Nähe. Das konnte kein Zufall sein! »Wir haben uns die Firma angeschaut – und es passte«, erinnert sich die 34-Jährige. »Das Familienunternehmen bietet den Näherinnen einen sicheren Arbeitsplatz und bezahlt gute Löhne. Der Leiter des Betriebs ist in unserem Alter und die Kommunikation war von Anfang an unkompliziert und offen«, beschreibt sie die Gründe, warum es gleich »klick« gemacht hat.

Früher gab es bei mir nur schwarz oder weiß.

Zarte Stoffe für zarte Haut

Zurzeit beschäftigt das Unternehmen zehn Näherinnen, alles Frauen aus den Dörfern rund um Varna. Sie sind langjährige Mitarbeiterinnen, und so soll es auch bleiben. »In dieser Region fehlen ganze Jahrgänge von Frauen. Sie wurden nach Europa gelockt oder verschleppt und zur Prostitution gezwungen. Umso wichtiger ist es, den Frauen ein eigenes Einkommen zu sichern und ihnen Arbeit zu geben, die Freude macht«, erklärt Claudine Tanner. »Wir sind der größte Kunde dieses Produktionsbetriebs. Je mehr wir wachsen, desto mehr Frauen kann er beschäftigen.«

Die Zusammenarbeit mit dem bulgarischen Produktionsbetrieb deckt das Anliegen der sozialen Nachhaltigkeit von Moya Kala ab: Frauen aus der Region stärken, ihnen durch Arbeit Würde geben und ihnen Mut machen, ihren Weg als Frau zu gehen. Gerät eine der Frauen in eine Notlage, steht bald ein eigens dafür eingerichteter Fonds zur Verfügung, in den ein Prozent des Jahresumsatzes fließt.

Aus den Auswanderungsplänen der Tanners wurde zwar nichts, aber die Besichtigungstour mit dem Makler hat ungeahnte Türen geöffnet. Die Produktionsfirma in Varna verarbeitet im Auftrag von Moya Kala Stoffe, die umweltverträglich sind. Claudine Tanner setzt auf das Material Cupro, einer biologisch abbaubaren Textilfaser aus Abfällen der Baumwollproduktion. Die Faser wird aus den kurzen Baumwollsamenfasern hergestellt, die nicht zu Baumwollgarn verarbeitet werden können. Die regenerierte Zellulosefaser wurde früher in einer hochgiftigen Ammoniaklösung produziert. Ein japanisches Unternehmen hat jedoch ein umweltfreundliches Verfahren entwickelt, das die Fasern zu einem feinen Garn, das an Seide erinnert, verarbeitet. Bei einem anderen Material – es besteht aus Lyocell, Baumwolle und Elasthan – musste Claudine Tanner coronabedingt einen Kompromiss machen. »Leider ist der Baumwollanteil nicht aus Biobaumwolle, da es für unseren Lieferanten sehr schwierig ist, Biobaumwolle zu beschaffen. Und ein wichtiger europäischer Lieferant hat sein Geschäft zugemacht, deshalb greifen wir zurzeit auf einen Lieferanten in Asien zurück«, erklärt sie. Das soll sich aber bald wieder ändern. »Wir verbessern uns bezüglich Lieferkette ständig, behalten unsere Nachhaltigkeitsziele im Auge und gehen einen konsequenten Weg.«

Eine postnatale Depression raubte mir die Kräfte.

Ohne Kompromisse gehts nicht

Solche Kompromisse wären für sie früher undenkbar gewesen. »Bei mir gab es beim Thema Nachhaltigkeit und einem entsprechend verantwortungsvollen Lebensstil nur schwarz oder weiß. Grautöne empfand ich als Verrat an Mensch und Natur.« Lebensmittel müssen aus fairem Handel stammen, etwas anderes als Freilandhühnereier kommen nicht auf den Tisch und ihre Kleider sind nachhaltig produziert. Diese Haltung hat sich in ihrem privaten Leben kaum verändert. Als Unternehmerin sieht sie es nicht so eng, auch, weil die wirtschaftliche Nachhaltigkeit genau wie die soziale und die ökologische einen großen Stellenwert hat. Früher war sie überzeugt: Wer nachhaltig produziert, muss auch eine durchwegs nachhaltige Lieferkette vorweisen können. Heute weiß sie, dass diese Überzeugung naiv, ja sogar überheblich war. »Wir wollen mit Moya Kala Menschen – in erster Linie Frauen – Gutes tun. Das gelingt uns aber nur, wenn auch die Wirtschaftlichkeit stimmt. Um dies zu erreichen, müssen wir in unserem Fall Kompromisse bei der Lieferkette eingehen.« Bei den Arbeitsbedingungen, der Verarbeitung der Materialien und der Qualität der Unterwäsche ist sie nicht bereit, auch nur ein Jota von ihren Prinzipien abzuweichen.

Claudine Tanner wollte schon immer die Welt verändern. Sie will es heute noch. Woher dieser ausgeprägte Sinn für Gerechtigkeit kommt, weiß sie selbst nicht so genau. Das Zusammenspiel von prägenden Momenten in ihrem bisher 34-jährigen Leben? Wahrscheinlich. Die ersten fünf Lebensjahre verbrachte Claudine Tanner in Kamerun. Ihr Vater baute eine Bibelschule auf, ihre Mutter, ursprünglich Krankenschwester, gab einheimischen Frauen Nähkurse. »Was jetzt aber nicht zu falschen Schlussfolgerungen führen darf. Nähen ist nicht meins. Muss eine Hose umgenäht werden, übernimmt mein Mann«, sagt sie lachend. Und auf die Zeit in Afrika angesprochen, meint sie: »Ich habe Kamerun geliebt. Noch heute erinnere ich mich an eine freie, leichte Zeit.«

Roland Juker
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Schnörkellos statt extravagant: Die Wäsche von Moya Kala soll nicht nur am Kleiderbügel eine gute Figur machen, sondern zur zweiten Haut werden – sagt Claudine Tanner.

Eine Kämpferin, von Kindesbeinen an

Mit der Rückkehr in die Schweiz und der Einschulung verflog die Leichtigkeit. Claudine war vom ersten Schultag an eine Außenseiterin. Anstatt sich selbst zu bemitleiden, weckte dieser Umstand eine besondere Kraft in ihr. Fortan setzte sie sich für all jene ein, die in einer Gruppe keinen Anschluss fanden. »Ich habe gemerkt, dass es mich stärkt, wenn ich mich für andere einsetze. Selbst wenn ich dafür kein Lob bekomme«, meint Claudine Tanner in Erinnerung an ihre Kinder- und Jugendzeit. Sich für Schwächere einzusetzen, hat sie von ihren Eltern gelernt. Sie haben es im Sinn der christlichen Nächstenliebe nicht nur gelehrt, sondern auch vorgelebt.

Nach der Schule wollte Claudine Tanner »etwas mit Sprachen« machen. Reiseleiterin zum Beispiel. Ihre erste Etappe auf dem Weg zu diesem Ziel war ein Jahresaufenthalt in der italienischsprachigen Schweiz. Anschließend absolvierte sie eine kaufmännische Ausbildung bei den Schweizerischen Bundesbahnen SBB, arbeitete bei RailAway, der Freizeitvermarkterin des Transportunternehmens und ein Jahr lang in einem Kinderheim in Peru.

Familie – eine Grenzerfahrung

2011 heiratete Claudine Tanner, die Reiseleiterpläne wurden begraben, dafür gründete sie 2017 Moya Kala. 2018 kam ihre Tochter zur Welt, 2020 die Zwillingsjungen. »Nach der Geburt der Zwillinge fiel ich in eine postnatale Depression. Mir fehlte die Kraft, mit Moya Kala weiterzumachen, und ich wollte das Geschäft runterfahren bis zur Liquidation«, erzählt sie. Denn inzwischen war sie – mit Unterstützung ihres Mannes, der als Medizintechniker arbeitet – allein verantwortlich für das Unterwäschelabel. Die drei Mitgründerinnen waren längst ausgestiegen, die Last des Unternehmens lag auf Claudine Tanners Schultern.

Trotz der schwierigen Lage und der totalen Überforderung, in der sie sich befand, ermutigte sie ihr Mann, dranzubleiben. Und das war gut so. Bald darauf kamen zwei Frauen, ebenfalls Mütter mit kleinen Kindern, auf sie zu und boten ihre Unterstützung an. Eine der beiden kommt aus der Textilbranche, die andere ist Produzentin und kümmert sich um Kommunikation und Marketing. Seit Januar 2021 sind sie als gleichberechtigte Partnerinnen dabei und haben ordentlich Schub in die Firma gebracht. »Es ist so wertvoll, zusammen unterwegs zu sein, gemeinsam Entscheidungen zu treffen und Visionen umzusetzen«, beschreibt Claudine die Partnerschaft mit den beiden. Und sie gehen mit großen Visionen in die Zukunft: Moya Kala soll international bekannt werden und mit Frauenwürde, Gleichberechtigung und Body Positivity in Verbindung gebracht werden. Nächste und konkrete Schritte sind die Lancierung einer hybriden Swim & Body Line (Bademode) und die Expansion ins Ausland.

Eine Portion Naivität hat auch ihr Gutes, wenn man ein Unternehmen startet.

Die drei Frauen beziehen auch die aktuelle Weltlage mit in ihre Planung ein. »Corona haben wir gut überstanden«, sagte Claudine Tanner. »Aber niemand weiß genau, was der Krieg in der Ukraine noch alles mit sich bringt. Die Preise für die Materialien sind gestiegen, die Lieferketten stocken … Wir beobachten die Lage genau und entscheiden situativ, wie und wo wir Anpassungen vornehmen müssen.«

Erfolgreich ist, wer dranbleibt

Würde sie es nochmals tun? Als junge Frau ein Start-up gründen? »Nein«, lautet die klare Antwort. »Die Depression hat mich geschwächt, ich fühle mich heute noch oft erschöpft. Mein Mann Christoph unterstützt mich sehr. Bei Moya Kala kann ich mir nicht regelmäßig Lohn auszahlen, somit ist Christoph hauptsächlich für den Lebensunterhalt zuständig. Ich bin zu Hause bei den Kindern und nebenbei noch Unternehmerin.« Abgesehen davon kam die Startphase der Firma Moya Kala einem Hürdenlauf gleich. »Wir haben viele Start-up-Supporter angefragt. Für die Textilbranche interessieren sich Investoren aber herzlich wenig. Geld ist zwar vorhanden, aber wer will schon in BHs investieren, wenn visionäre Techunternehmen locken«, meint Claudine Tanner. Was ihr beim Start geholfen hat und sie heute noch trägt, ist ihr Netzwerk, das sie sich in den vergangenen Jahren aufgebaut hat. Das Coworking Pilatus in Sarnen stellt ihr Arbeitsräume kostenlos zur Verfügung. Ein befreundeter Treuhänder unterstützt sie in allen finanziellen und buchhalterischen Fragen. Und sie haben einen »tollen privaten Investor« im Rücken.

Für Jungunternehmerinnen und -unternehmer hat sie einige Tipps bereit: »Es braucht einen langen Atem, keine Angst vor Verlusten, vertrauensvolle Coaches – sowohl privat als auch beruflich – und Familie und Freundeskreis müssen dich in schwierigen Phasen aushalten können.« Weiter rät sie allen Produktionsunternehmen, beim Start nicht zu viel zu produzieren, sondern sich Zeit zu lassen, Dinge auszuprobieren. Hohe Stückzahlen seien noch lange kein Erfolgsgarant. Was ihr aber besonders wichtig ist: »Man muss nicht alles bis ins letzte Detail planen. Eine Portion Naivität hat auch ihr Gutes.«

Claudine Tanner

Claudine Tanner

Die Welt zum Positiven verändern. Das war schon immer der Wunsch von Claudine Tanner (34). Für die Mutter von drei Kindern – das Mädchen ist viereinhalb Jahre alt, die Zwillingsbuben zweijährig – bleibt es nicht beim Wunsch. Sie setzt ihr Ziel täglich durch einen nachhaltigen Lebensstil um. Als Co-CEO von Moya Kala liegt ihr soziale, ökologische und wirtschaftliche Nachhaltigkeit am Herzen. Das Schweizer Label steht für Unterwäsche aus nachhaltigen Materialien. Die Kollektionen werden in Bulgarien produziert und ermöglichen den Näherinnen ein Leben in Würde.