Elisa Biscotti
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Malu Dreyer

Ist der Zusammenhalt unserer Gesellschaft Wunsch oder Wirklichkeit, Frau Ministerpräsidentin?

Eine Demokratie lebt von Debatten. Doch die Grenze zwischen scharfer Kritik und respektlosem Umgang ist schnell überschritten. Gerade das Thema Flüchtlingspolitik scheint die Gemüter aufzuheizen. Malu Dreyer, die aus persönlichen Gründen am 19. Juni 2024 zurückgetretene Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, ist an verbale Angriffe gewohnt – einige gingen ihr allerdings zu weit.

Matthias Dittmann
Matthias Dittmann
7 min

Haben Sie Vorurteile? 

Ehrlich gesagt: Ich habe kaum Vorurteile. Ich versuche, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind. Das gelingt mir eigentlich ganz gut.

Können Sie sich auch an eine Situation erinnern, in der Ihnen das nicht so gut gelungen ist?

An eine konkrete Situation nicht, aber es kommt immer mal vor, dass man vom Allgemeinen auf das Einzelne schließt und Menschen, weil man sie in eine ganz bestimmte Schublade steckt, mit bestimmten Eigenschaften verbindet. Aber genau dann gebietet uns der Respekt gegenüber dem anderen, uns die Mühe zu machen, ihn kennenzulernen und herauszufinden, wie er wirklich ist und was er denkt.

Was glauben Sie, bringt Menschen dazu, andere abwertend zu behandeln? 

Das ist eine Frage, die ein Psychologe möglicherweise besser beantworten könnte. Vielleicht hat es mit der eigenen Angst zu tun, zu wenig wahrgenommen zu werden. Ganz sicher aber ist es kein Zeichen von Selbstbewusstsein oder Stärke, andere abzuwerten. 

Mir kommt es so vor, als ob gegenseitige Abwertung, Ausländerfeindlichkeit, Hetze – selbst durch Politiker – zunehmen. Haben wir ein gesellschaftliches Problem?

Wir beobachten momentan tatsächlich eine zunehmende Polarisierung in der öffentlichen Diskussion, die dazu führt, dass Hass und Hetze, Diskriminierung und Diffamierung sehr unverblümt und offen geäußert werden. Ganz nach dem Motto: »Das wird man doch mal sagen dürfen …«. Autoritäres, antidemokratisches, antisemitisches, homophobes und rassistisches Gedankengut hat in Deutschland ja leider eine sehr lange Tradition. Neu ist sicherlich, dass solch ein Denken in Teilen der Öffentlichkeit und in einigen Parteien populärer geworden ist, dass die Grenzen des Sagbaren sich deutlich verschoben haben. Die AfD hat hierzu sicherlich beigetragen. An die Menschen mit geschlossenem rechtsextremem Weltbild heranzukommen, ist schwierig, aber wir müssen verhindern, dass ihre radikalen und oft sehr einfachen Antworten bei anderen Menschen Wirkung zeigen. Daher ist es wichtig, vor allem jungen Menschen zu vermitteln, dass Demokratie auf bestimmten Werten beruht und oft auch anstrengend ist, wie Bundespräsident Steinmeier kürzlich sagte. Dass sie aber die einzige Staatsform ist, die Minderheiten wirklich schützt und uns ein gutes und friedliches Zusammenleben ermöglicht.

Wenn menschenfeindlichem Verhalten nicht entgegengetreten wird, entsteht ein gefährlicher Gewöhnungseffekt.

Können wir Menschen dabei helfen, sich besser zu verhalten?

Ein Blick in die sozialen Netzwerke zeigt, wie entfesselt die Diskussionen teilweise sind. Das reicht von Beleidigungen und Diffamierungen bis hin zu unverhohlenen Drohungen. Wir müssen in derartigen Fällen immer wieder klarmachen, dass dies keine Ebene der Auseinandersetzung ist und dass alles seine Grenzen hat. Notfalls müssen diese auch mit den Mitteln des Rechtsstaates aufgezeigt werden. Denn klar ist doch: Wenn menschenfeindlichem Verhalten nicht entgegengetreten wird, entsteht ein gefährlicher Gewöhnungseffekt. Die Täter haben den Eindruck, ihr Verhalten sei in Ordnung, die Opfer fühlen sich alleine gelassen. Deshalb ist mir so wichtig, dass wir im Alltag Zivilcourage und im Netz Digitalcourage gegen Hass und Hetze zeigen. 

Die Verunsicherung und die Angst, die zu extremen Meinungen führen, kann ich schon nachvollziehen. Der Weg, das dann an anderen rauszulassen, ist wahrscheinlich gar nicht so weit.

Ich kann Verunsicherung und Angst in einer komplexer werdenden Welt auch nachvollziehen. Es gibt viele Menschen, die an der Armutsgrenze leben, aber auch viele Menschen im Mittelstand, denen es vielleicht gar nicht so schlecht geht, die aber Angst vor dem Abstieg haben, weil sie beispielsweise ihre Arbeit zu verlieren drohen. Ihnen müssen wir die Sicherheit geben, dass der Staat und die Solidargemeinschaft sie nicht allein lassen. 

Das allein reicht doch aber nicht. Wie können wir es außerdem schaffen, eine wirklich inklusive Gesellschaft zu werden? 

Wir haben schon viel erreicht in den vergangenen Jahrzehnten, das sollten wir nicht übersehen. Zum Beispiel die Inklusion behinderter Menschen in die Gesellschaft wurde deutlich vorangetrieben, wenngleich es natürlich immer noch sehr viel zu tun gibt, beispielsweise bei der Inklusion in Bildung. Was mir aber Sorge macht, ist, dass wir in der öffentlichen Diskussion allmählich den Konsens verlassen, dass der Schutz von Minderheiten und die Inklusion aller Menschen in die Gesellschaft wesentliche Ziele unserer Demokratie sind. Und das muss in der Diskussion immer wieder klargemacht werden. Inklusion ist ein Mittel gegen die Angst vor dem anderen, die so viele Leute in die Ignoranz, in Apathie oder Hass treibt. Und dazu gehört es auch, dass wir miteinander und nicht übereinander reden. Das ist letztlich auch eine Frage des Respektes.

Die Bergpredigt weist den Weg zu Solidarität und Gerechtigkeit und zu einer menschenwürdigen Gesellschaft.

Sie leben im Schammat, einem inklusiven Dorf in Trier. Ist diese Art des Miteinanders ein Vorbild? 

Ja, ich glaube, dass es ein Vorbild sein kann, weil es im Kleinen zeigt, wie das Zusammenleben ganz unterschiedlicher Menschen funktionieren kann. Bei uns leben alte und junge, behinderte und nicht behinderte, arme und reiche Menschen im Schammatdorf zusammen, helfen sich gegenseitig und profitieren voneinander. Jeder bringt das ein, was er kann. Die Nachbarn achten aufeinander und sind füreinander da, wenn irgendwo Hilfe gebraucht wird. Und gleichzeitig bleibt natürlich die Privatsphäre gewahrt; eine gute Mischung aus Distanz und Nähe.

Wie funktioniert das Zusammenleben dort?

Der Anspruch des Schammatdorfes ist es, die Vielfalt der Gesellschaft zu spiegeln und das Miteinander selbstverständlich werden zu lassen. Aber natürlich funktioniert das nicht ohne Regeln. So haben wir die Funktion einer »Kleinen Bürgermeisterin«, die das Zusammenleben koordiniert. Und letztlich hängt es eben auch von dem Willen des Einzelnen ab, ob er sich auf ein solches Wohnumfeld einlassen möchte. Das ist ein wichtiges Kriterium bei der Vergabe der Wohnungen.

Sie sind Katholikin. Welche Rolle spielen christliche Werte und Gebote, wenn wir lernen wollen, besser miteinander umzugehen?

Ich finde, christliche Werte und Gebote können uns Hilfestellung dazu geben. Nehmen wir nur das Gebot der Nächstenliebe, das vielleicht am augenfälligsten beschreibt, worum es geht: dass ich mich meinem Nächsten – der ja jeder Mensch sein kann – zuwende und ihm helfe, wenn er oder sie es braucht. In meinem politischen Handeln hat mich auch die Bergpredigt geprägt, die uns den Weg zu Solidarität und Gerechtigkeit und zu einer menschenwürdigen Gesellschaft weist. 

In der Bibel gibt es allerdings auch Stellen, die man gut dazu hernehmen könnte, um zum Beispiel für eine andere Flüchtlingspolitik zu argumentieren.

Wenn ich das Gebot der Nächstenliebe nehme, so ist es ganz klar der Auftrag an uns Menschen, denjenigen zu helfen, die Hilfe und Schutz brauchen. Und das ist letztlich der Kern unseres Asylrechtes.

Im politischen Alltag hat man manchmal das Gefühl, dass Toleranz und Respekt – gerade gegenüber Konkurrenten – keine große Rolle spielen. Wie kann man Wahlkampf und Respekt vereinen?

Wir Politiker müssen mit gutem Beispiel vorangehen und auch in der eigenen Sprache klar zum Ausdruck bringen, dass persönliche Diffamierungen und Beleidigungen politischer Mitbewerber nicht gehen. 

Haben Sie für sich Regeln, wie Sie in der Öffentlichkeit gerade über Konkurrenz oder Politikerkollegen sprechen?

Ich finde es richtig, wenn in der Sache hart gerungen wird. Standpunkte müssen klar herausgearbeitet werden, aber die Diskussion muss sachlich, nicht persönlich geführt werden. 

Auch Sie selbst mussten bereits persönliche Angriffe wegen Ihrer multiplen Sklerose hinnehmen – zum Beispiel 2016 im Wahlkampf. Steckt hinter solchen Attacken – gerade von anderen Politikern – Kalkül? Oder sind sich Angreifer einfach ihrer Vorurteile und Ängste nicht bewusst?

Ich muss sagen, dass die Öffentlichkeit aus meiner Sicht sehr gut mit meiner Erkrankung umgeht. Natürlich gibt es immer wieder Entgleisungen und dort, wo sie vereinzelt im Wahlkampf eine Rolle gespielt haben, erfolgten sie ganz sicher nicht aus Unkenntnis oder Naivität.

Wie gehen Sie mit solchen Angriffen um?

Ich versuche, sie nicht an mich heranzulassen. Dort, wo sie Grenzen überschreiten, wehre ich mich, notfalls auch mit juristischen Mitteln.

Gibt es ein Beispiel für Respekt und Toleranz, das Ihnen in letzter Zeit Mut gemacht hat?

Bei uns in Rheinland-Pfalz wird beispielsweise das Ehrenamt ganz großgeschrieben; wir nehmen dabei bundesweit einen Spitzenplatz ein. Die Menschen zeigen mit ihrem ehrenamtlichen Engagement, dass ihnen Gemeinschaft und Zusammenhalt wichtig sind und sie bereit sind, dafür etwas zu tun, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Oder nehmen wir ganz konkret die vielen Menschen, die sich – vielfach auch ehrenamtlich – für Flüchtlinge einsetzen, sich um sie kümmern und um ihre Integration bemühen. Sie alle machen mir Mut, dass der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft kein Traum, sondern Realität ist.

Malu Dreyer

Malu Dreyer

Demissionierte Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz

Malu Dreyer (63) war von 2013 bis 2024 Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz. Die stellvertretende Vorsitzende der SPD tritt unter anderem für ein tolerantes und respektvolles Miteinander verschiedener Menschen ein – unabhängig von ihrem Alter, ihrer Herkunft oder Prägung. Sie selbst ist an Multipler Sklerose erkrankt und wohnt gemeinsam mit ihrem Mann in einem inklusiven Dorf in Trier – zusammen mit Studenten, älteren Menschen, Familien und Alleinerziehenden sowie Menschen mit und ohne Behinderung. Außerdem gehört Dreyer dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken an.