Paul Harding
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Irmgard Bensusan

Zurück in die Freiheit

Sie war auf dem besten Weg, an den Olympischen Spielen teilzunehmen, als ein Unfall alles zerstörte. Doch Irmgard Bensusan stand wieder auf, kämpfte, glaubte, betete. Heute ist sie eine der schnellsten Paraläuferinnen der Welt, hat zahlreiche Gold- und Silbermedaillen bei Weltmeisterschaften und den Paralympics gewonnen.

Anna Lutz
Anna Lutz
8 min

Laufen ist für mich Freiheit«, sagt Irmgard Bensusan. Die 32-Jährige lacht viel, ist entspannt, auch wenn es schon Abend geworden ist und sie den ganzen Tag unter der frühlingswarmen Sonne Lanzarotes trainiert hat. Dort bereitet sie sich auf die nächsten Wettkämpfe für ihren Verein TSV Bayer 04 Leverkusen vor, wo die gebürtige Südafrikanerin unter Vertrag steht. Fünfmal hat sie schon Goldmedaillen gewonnen, dreizehnmal Silber. Sie gehört zu den Erfolgreichsten in ihren Disziplinen Vierhundert-, Zweihundert- und Hundertmeterlauf. Wer Bensusan beim Sprinten beobachtet, muss genau hinsehen, um die schwarze Schiene an ihrem rechten Bein zu bemerken. Mit Bändern ist sie um ihren Fuß und die Wade gewickelt. Ohne diese Orthese hinge Bensusans Fuß schlaff herunter, Sprints wären unmöglich. Denn die Sportlerin leidet unter einer sogenannten Fußhebeschwäche, der Grund ist eine Nervenschädigung in ihrem rechten Bein. Dank Training und Schiene läuft sie die zweihundert Meter dennoch in unter 27 Sekunden – das ist Weltrekord im Parasport. Dabei sagten ihr die Ärzte vor vierzehn Jahren, sie würde nie wieder bei einem Wettkampf antreten können.

»Ganz Pretoria hörte mich schreien«

Im März 2009 ist Bensusan gerade einmal achtzehn Jahre alt und gehört schon zu den besten Sprinterinnen ihrer Heimat Südafrika. An diesem Tag tritt sie bei den nationalen Meisterschaften in Pretoria an. Sie ist auf dem besten Weg ins Nationalteam, die Olympischen Spiele scheinen greifbar. Sie sind Bensusans Traum, seit sie ein kleines Kind war. An diesem Tag wird die Athletin als Favoritin in verschiedenen Disziplinen gehandelt, vor allem im Hürdenlauf über hundert Meter. 

Bensusan macht sich warm, dehnt sich, überspringt einige Hürden. Dann passiert es: Sie blickt kurz zur Seite, weil ein anderer Sportler nah an ihr vorbeiläuft, ist abgelenkt, bleibt mit dem vorderen Fuß an einer Hürde hängen und stürzt. Zuerst spürt sie keinen Schmerz. Bensusan liegt auf dem Bauch und denkt: »Los, aufstehen, weitermachen!« Sie ist schon oft gefallen, das gehört zum Sport dazu. Ihr linkes Bein zieht sie nach vorne, doch als sie ihr rechtes nachziehen möchte, versagt es ihr den Dienst. Erst da blickt sie nach hinten und sieht, dass einer der Beinknochen kurz unterhalb des Knies in einem unnatürlichen Winkel absteht. Ihren Fuß kann sie nicht mehr bewegen. Offenbar ist ihr Knie beim Sturz nach hinten weggebrochen. Da schreit Bensusan so laut sie kann. »Ich glaube, ganz Pretoria hat mich gehört.« Sie sitzt auf der Bahn, weint, brüllt und weiß: Dieses Rennen ist für sie gelaufen.

Nach sechs Monaten des Wartens gibt es keine Hoffnung mehr.

Doch es kommt weit schlimmer: Bensu-san wird im Krankenhaus behandelt, eine Schwester sticht ihr mit einem Stift in den Fuß. »Fühlen Sie das?«, fragt sie. »Nein«, lautet die Antwort. Einige Untersuchungen später steht fest: Neben Knochenbrüchen hat Bensusan einen Kreuzbandriss im Knie erlitten, die Nervenbahnen sind geschädigt. Zunächst sind die Ärzte zuversichtlich. Die Sportlerin muss sich einer Operation unterziehen, doch auch danach kehrt das Gefühl nicht zurück. Nach sechs weiteren Monaten des Wartens gibt es keine Hoffnung mehr. Die Ärzte sind sich sicher: »Sie werden nie wieder so laufen wie zuvor.« 

Heute beschreibt Bensusan das Gefühl in ihrem Fuß so: »Es ist, als hättest du lange gesessen, versuchst dann aufzustehen und dein Fuß ist eingeschlafen. Ich habe quasi einen eingeschlafenen Fuß, der nie wach wird.« Sie kann Witze darüber machen, nennt ihr lädiertes Körperteil sogar »Schluffi«. Wenn im Training etwas nicht funktioniert, dann ist eben »Schluffi« schuld. Doch die ersten Jahre nach dem Unfall sind ihr ganz persönlicher Alptraum. 

»Es war unmöglich, Gott in der rauen Schönheit Afrikas nicht zu sehen.«

Wieder den Luftzug im Gesicht spüren

Zweimal muss Bensusan nach dem Unfall operiert werden. Ihre Lage verbessert sich dadurch kaum. Der Leistungssport ist Vergangenheit. Noch im Krankenhaus bricht die junge Frau zusammen. »Warum hat Gott mich nicht mehr lieb?«, fragt sie ihre Mutter weinend. Diese war nicht nur ebenfalls Leistungssportlerin und hat ihre Tochter immer unterstützt. Sie teilen auch den christlichen Glauben. »Es ist nicht so, als hätte ich nicht mehr an Gott geglaubt. Ich hatte einfach das Gefühl, er hört mich nicht mehr«, erinnert sich Bensusan.

Drei Jahre nach dem Unfall fällt sie noch dazu durch ihr Examen im Fach Steuerwesen. Mit der Klausur in der Hand sitzt sie in ihrem Auto und weint einmal mehr. Doch in all dem Schmerz bewegt sich etwas in ihr. Nachdem auch das Studium verloren scheint, realisiert Bensusan, wie unglücklich sie ist. Und sie beschließt, etwas daran zu ändern. Die damals 21-Jährige ruft ihre ehemalige Trainerin an. »Ich muss wieder laufen«, sagt sie ihr und bittet um Trainingsstunden. Es ist ihr ganz egal, was am Ende dabei herauskommt. Sie will nur wieder diesen Luftzug im Gesicht spüren und die Spikes unter ihren Füßen. Und so steht Bensusan schon wenige Tage später wieder auf der Aschebahn. Sie spürt die Freiheit wieder, ist zurück in ihrem Element. 

Gottes raue Schönheit

Auf dem Weg zurück in ein glückliches Leben hilft Bensusan nicht nur der Sport, sondern auch der Glaube. In dieser Zeit begibt sich Bensusan mit ihrer Familie auf einen Kurztrip durch verschiedene Länder Afrikas. Mit dem Auto fahren sie durch Botswana, Sambia und Mosambik. Sie verbringt viel Zeit in der Natur. In der Steppe, beim Sonnenuntergang und in der Wildnis entdeckt sie plötzlich etwas wieder, was ihr in Vergessenheit geraten war: »Afrika hat diese raue Schönheit, es war unmöglich, Gott dort nicht zu sehen«, erinnert sie sich.

So beginnt Bensusan, erneut zu kämpfen. Sie trainiert nicht mehr den Hürdenlauf, das ist mit ihrem Fuß nicht möglich. Aber sie sprintet: hundert Meter, zweihundert Meter, vierhundert Meter. Und sie wird wieder schnell. Ein halbes Jahr, nachdem sie das Training aufgenommen hat, wird sie von einem Parasportcoach entdeckt. Er will sie bei den nationalen Meisterschaften sehen, organisiert ihr einen Termin bei einer Gutachterin. Denn wer bei Wettbewerben im Parasport antreten will, muss sich klassifizieren lassen. So wird sichergestellt, dass die Wettkämpfe fair sind und Sportler mit ähnlichen Einschränkungen gegeneinander laufen oder springen. Bensusan selbst hat sich immer für »nicht behindert genug« gehalten, schließlich tragen die meisten Paraläuferinnen im Gegensatz zu ihr Prothesen, sogenannte Federn. »Quatsch«, ist der Coach überzeugt und behält recht: Im Mai 2013 bekommt sie die Klassifikation und läuft erneut nationale Wettkämpfe. Bensusan beginnt wieder, zu träumen – jetzt von den Paralympics. 

Doch schon ein Jahr später scheint sich auch diese Hoffnung in Luft aufzulösen. Für die Spiele braucht jeder Sportler eine erneute Anerkennung. Bensusan gibt alles bei den Tests, unter anderem soll sie sich zehnmal aus eigener Kraft auf die Zehenspitzen stellen. Es gelingt ihr, aber nicht mithilfe der Zehen, sondern mit Schwung und unter Zuhilfenahme ihrer Oberschenkelmuskeln. Die Gutachter bemerken das nicht, beraten sich lange. Schließlich teilen sie Bensusan mit: Sie darf nicht antreten. Ihre Behinderung sei nicht schwerwiegend genug. Bensusans Welt bricht in Sekunden erneut zusammen. Das wars, denkt sie. Nun sind auch die Paralympics gestorben. Und wieder flüstert eine kleine Stimme in ihrem Kopf: »Gott, warum nimmst du mir alles, was ich liebe?« Sie schämt sich, denkt, sie habe in all den Monaten betrogen, sei eigentlich gar nicht eingeschränkt genug, um beim Parasport anzutreten. 

Ihr größter Verlust ermöglicht ihr nun ihren größten Triumph.

So schnell wie nie zuvor

Doch die Sportlerin hat die Rechnung ohne ihre Mutter gemacht. Die ist in Deutschland geboren, ihre Tochter hat deshalb eine doppelte Staatsbürgerschaft. Sie schlägt ihr vor, die Klassifikation in der Bundesrepublik zu wiederholen. Und sollte sie gelingen, künftig dort zu laufen. Deutschland ist Bensusan fremd, erst einmal in ihrem Leben ist sie dort gewesen. Trotzdem sieht sie eine kleine Chance und setzt alles darauf. Gemeinsam mit ihrer Mutter knüpft sie Kontakte zum Verein in Leverkusen, der tatsächlich Interesse zeigt. Und so packt Bensusan schließlich ihre Sachen und reist nach Deutschland. Begleitet vom Verein gelingt die zweite Klassifikation. Und das, obwohl die Ärztin, die sie begutachtet, dieselbe ist, die sie einige Monate zuvor in Südafrika abgelehnt hat. Ein unglaublicher Zufall, der am Ergebnis nichts ändert: Bensusan ist nach den Tests für den Parasport zugelassen und trainiert nach Abschluss ihres Studiums in Leverkusen.

Zwei Jahre später macht sich Irmgard Bensusan bereit für den Vierhundertmeterlauf. Sie startet auf Bahn drei. Kurz bevor es losgeht, winkt sie schüchtern in die Kamera. Die ganze Welt blickt auf sie, denn hier steht sie, mitten im Stadion in Rio de Janeiro, umgeben von den besten Paraläuferinnen der Welt. In den Rängen sieht sie ihre Familie. Alle sind gekommen, ihre Eltern, die Geschwister, sogar ihre Schwägerin. Sie tragen T-Shirts mit der Aufschrift Team Irmgard. Und als der Startschuss fällt, brüllen sie alle aus vollem Hals, als könnten allein ihre Rufe Bensusan ins Ziel tragen. Die Läuferin selbst ist ganz bei sich. Um sie herum ist es laut, aber in ihr wird es still. »Gott, lass mich durchhalten, gib mir die Kraft, das zu Ende zu bringen, lass mich durchhalten, lass mich durchhalten«, betet sie, denn die vierhundert Meter sind für sie die härteste Disziplin. Genau 59,62 Sekunden später ist es vorbei. Sie ist als Zweite über die Ziellinie geflogen, so schnell wie noch nie zuvor bei einem Wettkampf. Auf der Zuschauertribüne rastet ihre Familie aus vor Freude. 

»Das war der glücklichste Moment in meiner Laufkarriere«, sagt Bensusan, als sie sich, mittlerweile sieben Jahre später, in ihrem Zimmer auf Lanzarote daran erinnert. »Als wäre meine Familie mit mir auf der Bahn gewesen.« Was einst Bensusans größter Verlust war, der Unfall mit achtzehn Jahren, ermöglicht ihr nun den größten Triumph. Nach all den Kämpfen, den Schmerzen, dem Weinen und dem Wiederaufstehen ist sie sich jetzt sicher: »Gott hat mir das größte Geschenk gegeben. Ich wäre heute nicht der Mensch, der ich bin, wenn das alles nicht geschehen wäre. Ich bin unendlich dankbar.«

Irmgard Bensusan

Irmgard Bensusan

Sie ist Athletin im Parasport und tritt dort in der Klasse T44 im Sprint an. Bensusan läuft 100, 200 und 400 Meter und hält unter anderem den Weltrekord in ihrer Klasse über 100 und 200 Meter. Die 32-Jährige startet für den TSV Bayer 04 Leverkusen, obwohl sie gebürtig aus Südafrika stammt. Möglich macht das eine doppelte Staatsbürgerschaft. Zuletzt holte die Läuferin bei den Paralympischen Spielen in Tokio zweimal Silber.