Rinaldo Lieberherr, Dominic Prétat & Magdalena Honegger
Beten auf Business-Kosten
Der IT-Unternehmer Rinaldo Lieberherr und der Theologe Dominic Prétat wollen die Wirtschaft einem nachhaltigen Wandel unterziehen – und zwar durch Gebet. Dazu setzen sie auch auf die Unterstützung von Pensionierten wie Magdalena Honegger.
Oh, da ist eine Schlaufe locker. Das flicke ich Ihnen gleich«, sagt Magdalena Honegger zum Journalisten, der zu Besuch weilt. Ohne eine Antwort abzuwarten, nimmt sie dessen Wolljacke und greift flink zur Nadel. Eine Minute später sieht der Ärmel wieder wie neu aus. »Um den abgewetzten Ellbogen zu reparieren, bräuchte ich mehr Zeit«, fügt Honegger entschuldigend hinzu. Das Fingerspitzengefühl der gelernten Schneiderin scheint auch mit 95 Jahren unübertroffen. Täglich näht, häkelt und strickt sie für Familie und Freunde – zum Beispiel kreative Kuscheltier-Welten: Schweine und Katzen mit Jungtieren, die man im Bauch der Mutter verschwinden lassen kann.
Doch ihre Hände braucht Honegger nicht nur für das Nähzeug. Jeden Morgen steht sie um 6.30 Uhr auf und faltet erst einmal ihre Hände. »Ich beginne den Tag immer mit einem Gebet. Das ist meine Kraftquelle.« Dabei steht die rüstige Seniorin nicht nur im Dienst ihres himmlischen Herrn. Sie hat auch einen irdischen Auftraggeber: die neue Lab-Ora-Stiftung. Die Stiftung koordiniert Gebetsanliegen für Unternehmen und will Menschen in der Arbeitswelt helfen, ihre »spirituellen Ressourcen« freizusetzen, wie es die Gründer formulieren. Entstanden ist sie aus der Zusammenarbeit von Pastor Dominic Prétat mit dem Unternehmer Rinaldo Lieberherr, CEO der IT-Firma Upgreat mit neunzig Mitarbeitenden. Beiden schwebte vor, die Wirtschaft »durch veränderte Herzen« zu transformieren.
Seit einigen Jahren begleitet Prétat das Unternehmen Upgreat als CPO. Das Kürzel steht nicht für Chief Procurement Officer, sondern für Chief Prayer Officer – zu gut Deutsch: Gebetschef. Der Effekt seiner Arbeit war so positiv, dass eine Stiftung das CPO-Modell nun auch anderen Firmen zugänglich machen soll. Heute sind Prétat und Lieberherr in der wonnigen Stube von Magdalena Honegger zusammengekommen, um über ihre Erfahrungen auszutauschen.
Frau Honegger, Ihr aktives Berufsleben liegt eine Weile zurück. Woran erinnern Sie sich?
Honegger: Als Schneiderin besuchte ich die Menschen während des Zweiten Weltkriegs zu Hause. Dort nähte ich für sie Kleider. Meine Dienstleistungen waren äußerst begehrt – das Geschäft lief auf Hochtouren. Und es bereitete mir viel Freude. Doch ich wollte heiraten und mehrere Kinder haben. Meine Kunden bedauerten das sehr. Schließlich bekam ich fünf Kinder, die mich auf Trab hielten. Sie sind längst erwachsen, aber wir haben immer noch eine gute Beziehung. Mein ältester Sohn wohnt im selben Haus und hilft mir im Haushalt.
Herr Lieberherr, waren Sie je in einer Firma angestellt?
Lieberherr: Nur für sehr kurze Zeit, nach der Ausbildung. Ich absolvierte eine Lehre als Radio-TV-Elektriker. Mein erstes IT-Unternehmen habe ich mit siebzehn gegründet, mit einem guten Schulfreund.
Seither sind über zehn Firmengründungen dazugekommen, darunter 1995 Upgreat. Was ist Ihre Triebfeder?
Lieberherr: Ich probiere gerne etwas aus. Und wenn Menschen zusammenkommen, gemeinsam Ideen und Teamgeist entwickeln, dann reizt es mich, Neues umzusetzen. Es sind Neugier und Kreativität, die mich beflügeln. Viele Firmen habe ich mit anderen ins Leben gerufen.
Herr Prétat, auch Ihr Berufsweg ist nicht geradlinig verlaufen. Sie lernten Konditor und hängten ein Theologiestudium an.
Prétat: Backen und früh aufstehen – das war nicht so mein Ding. Vor allem aber wollte ich mich vertieft mit den großen Fragen des Lebens auseinandersetzen: Woher komme ich? Wohin gehe ich?
Dennoch stehen Sie heute nicht auf einer Kanzel, sondern sind Chief Prayer Officer von Upgreat. Wieso?
Prétat: Den Anstoß gab mir der US-Pastor Gordon MacDonald, der geistliche Berater von Ex-US-Präsident Bill Clinton, der mir sagte: »Wenn du möchtest, dass die Menschen am Sonntag auf dich hören, musst du sie auch von Montag bis Freitag am Arbeitsplatz besuchen.« Also begann ich, das zu tun. Und das löste bei mir ein Umdenken aus. Einen Großteil des Lebens verbringen Menschen am Arbeitsplatz. Selbst Gläubige sind öfter an der Arbeit als in der Kirche. Doch die überlieferte Theologie ist vom altgriechischen, dualistischen Denken geprägt. Die alten Griechen sahen einen Konflikt zwischen Arbeit und Geistlichem. Das Geistliche stuften sie als höherwertig ein. Im Gegensatz dazu bildet Arbeit und Geistliches im hebräischen Denken eine Einheit. Wir sollten die Bibel vor diesem Hintergrund interpretieren.
Arbeit und Geistliches bilden im hebräischen Denken eine Einheit.
Was machen Sie konkret als Chief Prayer Officer von Upgreat?
Prétat: Das Wichtigste ist, dass ich den Mitarbeitenden Liebe und Wertschätzung entgegenbringe. Sie haben oft berufliche wie private Herausforderungen: Stress, Druck, Familienprobleme. Ich stehe Ihnen als Gesprächspartner und Coach zur Seite, höre ihnen zu und unterstütze sie. Außerdem halte ich Impulsreferate. Speziell ist, dass ich – nebst jüngeren Leuten – über siebzig Seniorinnen und Senioren motiviere und koordiniere, um für Upgreat, die Wirtschaft, die Regierung und andere Firmen zu beten. Gerade die betagten Menschen sehen im Gebet und in der Zusammenarbeit mit uns eine erfüllende Aufgabe.
Frau Honegger, Sie zählen zu diesen Beterinnen. Wie müssen wir uns Ihre Gebetsarbeit für Upgreat vorstellen?
Honegger: Ich stehe jeden Tag früh auf. Zuerst trinke ich einen Kaffee, der mich in Schuss bringt. Dann schlage ich mein Gebetsbüchlein auf, in dem ich festhalte, wofür ich beten möchte. Nur schon das Gebet für die Familie gibt einiges zu tun. Immerhin habe ich nebst den fünf Kindern neun Enkel und zwölf Urenkel. Damit ich gezielt für die Firma Upgreat beten kann, versorgt mich Dominic regelmäßig mit Informationen. Er listet mir genau auf, wo in der Firma der Schuh drückt.
Was motiviert Sie für dieses Engagement?
Honegger: Vor zwei Jahren war ich körperlich angeschlagen. Zur Erholung gönnte ich mir Ferien in einem Hotel im Schweizer Bergdorf Amden. Ich war allein dort und fühlte mich etwas einsam. Da kamen plötzlich »Engel« auf mich zu – darunter Dominic und Rinaldo. Die Gemeinschaft mit ihnen ermutigte mich sehr und half mir, mich zu erholen. Sie erzählten mir, dass sie Menschen suchten, die für Unternehmen beten würden. Nach reiflicher Überlegung sagte ich zu. Denn ich bin überzeugt, dass Gebet mehr bewirkt, als wir es uns vorstellen können. Meinen Entscheid habe ich nie bereut.
Die Bundespolizei machte uns wenig Hoffnung. Doch wir beteten.
Herr Lieberherr, spüren Sie etwas von den Gebeten?
Lieberherr: Ja. Sie helfen mir und allen Mitarbeitenden, im hektischen Alltag Ruhe zu finden und oft überraschende Lösungen zu entdecken. Unsere Gebetsanliegen, Gedanken, Wünsche und Freuden halten wir schriftlich fest für die Beterinnen und Beter. Ein Großteil der Gebete betrifft aber gar nicht uns. Die Gebete gelten vielmehr unseren Kunden, die krank sind oder vor wichtigen Entscheidungen stehen – sowie der Regierung und der Wirtschaft.
Denn wir möchten einen Beitrag an ein gesundes »wirtschaftliches Ökosystem« leisten. Eigentlich machen wir damit nur, was beispielsweise die Schweizer Nationalhymne fordert: »Betet, freie Schweizer, betet.« Wir sind überzeugt von der Kraft des Gebets und möchten sie erleben.
Nennen Sie uns ein Beispiel eines erhörten Gebets.
Lieberherr: Wir haben vor Kurzem einen neuen Kunden gewonnen. Da stellten wir fest, dass sein Rechner von einer Ransomware - also einer Erpressungssoftware - befallen war. In der Geschäftsleitung wünschten wir uns, die gestohlenen Daten für den Kunden zurückzugewinnen. Die Bundespolizei meinte allerdings, der Fall sei ziemlich hoffnungslos. Doch wir beteten und teilten unseren Wunsch unseren Beterinnen und Betern mit. Ab diesem Zeitpunkt fühlten wir uns in allen Schritten von Gott geleitet. Und nach ein paar Wochen überbrachte uns die Bundespolizei sämtliche Daten – mit großem Staunen. Es handelte sich um einen der sehr wenigen Fahndungserfolge auf diesem Gebiet. Für Gott ist kein Problem unlösbar.
Herr Lieberherr, Sie beschäftigen einen Chief Prayer Officer, kurz CPO – beten Sie überhaupt noch selbst?
Lieberherr: (Lacht) Das persönliche Gebet habe ich nicht »outgesourct«. Gebet ist für mich zentral. Es heißt, eine direkte Beziehung mit Gott aufzubauen. Der CPO hilft mir, diese Ressource mehr Menschen zugänglich zu machen – außerhalb der Institution Kirche.
Die Coronakrise hat die Wirtschaft hart getroffen. Sollten wir es da mal wieder mit einem Gebet versuchen?
Prétat: Ja. Das Gebet hilft immer, aber nicht immer wie erwartet. Krisen sind Chancen, sich auf eine Reise mit Gott einzulassen. Es lohnt sich, die Bibel hervorzukramen. Oder einen Versuch zu starten, indem man drei Monate lang für sich beten lässt – etwa durch uns.
Lieberherr: Das lateinische Verb »precari« heißt so viel wie beten und bitten. Es kommt davon, weil Menschen in »prekären« Situationen oft beginnen zu beten. Der Apostel Paulus ging noch weiter. Er schrieb: »Betet ohne Unterlass.«
Immer beten? Klingt weltfremd!
Lieberherr: Ich verstehe das Gebet als Herzenshaltung. Beten ist wie Atmen. Meine Agenda ist ziemlich voll mit Sitzungen, doch in diese gehe ich mit einer Haltung des Gebets. Dazu gehört, dass ich versuche, das wichtigste Gebot zu verinnerlichen: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Einer unserer Führungsleitsätze lautet: »Man muss Menschen mögen.« Mit Upgreat möchten wir nicht nur Geld verdienen, sondern auch Menschen zu mehr Ruhe und Frieden verhelfen, die ganz anders ticken als wir. Diversität bereichert unser Leben. Es ist wichtig, einfach mal auf Leute zuzugehen, die eine ganze andere Meinung als wir selbst haben.
Andere Unternehmen bieten Yoga an und Achtsamkeits-Trainings. Fällt der Chief Prayer Officer in diese Kategorie?
Lieberherr: Durchaus. Der verstorbene Pfarrer Ernst Sieber sagte: »Der Mensch als Mittel. Punkt.« Ich habe mal mit ihm darüber gesprochen. Firmen hängen gerne Leitbilder an die Wand. Wenn ich sie besuche, frage ich jeweils die Angestellten: »Lebt ihr diese Werte?« Meist höre ich enttäuschende Antworten. Mit dem Chief Prayer Officer wollen wir eine Plattform für offene, freiwillige Gespräche schaffen.
Herr Prétat, muss ein Mitarbeiter nicht fürchten, dass alles, was er Ihnen anvertraut, bei seinem Vorgesetzten landet?
Prétat: Nein. Ich unterstehe einem Berufsgeheimnis. Mir geht es um den ehrlichen Dialog. Ich biete den Menschen auch das Gebet an – aber niemand muss es annehmen.
Inwiefern sind Sie auch ein Hofnarr, welcher der Geschäftsleitung ins Gewissen redet?
Prétat: Als Außenstehender habe ich eine andere Perspektive aufs Geschäft. Das teile ich der Geschäftsleitung mit. Als Rinaldo mal einen Konflikt mit einem Mitarbeiter hatte, bezog er mich mit ein. Wenn man an der Arbeit lernt, wie Vergebung funktioniert und das in sein Umfeld mitnimmt, verändert sich die Gesellschaft. Liebe und Vergebung wirken transformativ. Der Apostel Johannes schrieb: »Durch die Liebe wird die Welt erkennen, dass ihr Gottes Kinder seid.«
Wenn Menschen Vergebung »on the job« lernen, zieht das weite Kreise.
Herr Lieberherr, woran messen Sie die Leistungen Ihres CPO?
Lieberherr: Wir sind auf Ziele getrimmt. Doch Gebet ist keine Frage der Ziele, sondern der Haltung. Ich wünsche mir, dass wir unser Modell multiplizieren können. Wir träumen davon, in der Schweiz tausend Beterinnen und Beter zu gewinnen.
Wieso braucht es dazu die neue Lab-Ora-Stiftung?
Lieberherr: Unsere bald vierjährige Erfahrung mit einem Chief Prayer Officer zeigt uns, dass Gebet und Spiritualität an der Arbeit – »ora et labora« – einem Bedürfnis verschiedener Arbeitnehmenden wie der Geschäftsführung entspricht. Unser Modell möchten wir deshalb multiplizieren. Die Rechtsform der Stiftung gibt uns dafür eine klare, professionelle Struktur. Sie schafft Ordnung. Und wenn Sie in die Natur schauen, sehen Sie, dass Gott Ordnung mag. Wir möchten das Gebet über die Stiftung in Gesellschaft und Wirtschaft verankern. Dabei setzen wir auf Menschen aus der Generation von Magdalena. Sie bringen eine reiche Lebenserfahrung mit sich, haben oft einen tiefen Glauben und mehr Zeit als Leute im aktiven Erwerbsleben.
Prétat: Viele Führungskräfte markieren nach außen hin Stärke, fühlen sich aber zutiefst einsam. Sie können mit niemandem offen sprechen. Wir möchten darum weitere Chief Prayer Officer ausbilden, um der Not an der »einsamen Spitze« nachhaltig zu begegnen. Zudem wollen wir Menschen zum »Umdenken am Arbeitsplatz« schulen.
Die Betenden sind aber für »Gottes Lohn« tätig, richtig?
Rinaldo: Dominic haben wir als CPO in der Firma angestellt …
Dominic: Rund siebzig Betende sind pensioniert und unterstützen uns ehrenamtlich. Aber wir geben ihnen regelmäßig Feedback darüber, was ihre Gebete bewirken.
Magdalena: Ungefähr zweimal im Jahr werden wir alle zu einem Mittagessen eingeladen. Diese Zeiten genieße ich besonders.
Frau Honegger, Sie verfügen über eine jahrzehntelange Erfahrung beim Beten. Was hat Sie so lange am Glauben gehalten?
Als dreizehnjähriges Mädchen hörte ich von der Heilsarmee davon, dass Jesus in die Welt gekommen ist, um uns zu retten. Da spürte ich, dass ich Gott alles hingeben sollte, was mich bewegt. Seither lese ich in der Bibel und bete. Als ich eine junge Frau war, rückte mein Glaube in den Hintergrund, doch er entfachte sich neu, als ich mit meinem Ehemann eine christliche Freizeit besuchte. In meinem Haus lebe ich schon siebzig Jahre und wir feiern immer noch Feste im Gartenhäuschen. Die vielen Gebetserhörungen überwiegen die Enttäuschungen bei Weitem. Es ist schön, alt zu werden – ich bin sehr dankbar.