Roland Juker
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Daniel Maier

War Jesus ein Bonvivant, Herr Theologe?

Prüde, genussfeindlich, verklemmt: Solche Attribute assoziieren manche mit der institutionalisierten Kirche. Daniel Maier, Theologe und Dozent der Universität Zürich, hat im Rahmen einer preisgekrönten Studie erforscht, was die Bibel über Genuss und Glück sagt – und Überraschendes entdeckt.

Stephan Lehmann-Maldonado
Stephan Lehmann-Maldonado
11 min

Was haben Sie zuletzt genossen?

Nach einer Geschäftsreise in den USA genoss ich es sehr, wieder bei meiner Frau zu sein. Wir erwarteten Zwillinge. Und diese zu spüren, war ein großer Genuss. Mittlerweile bin ich frischgebackener Papa.

Heranwachsendes Leben – das löst große Emotionen aus! Müsste man da nicht eher von Glück als von Genuss sprechen?

Eine Linie zwischen Genuss und Glück zu ziehen, fällt mir immer schwer. Da bin ich aber nicht der Einzige. Auch in der Psychologie sucht man immer wieder neue Worte für Genuss als Teil des Glücks.

Machen Sie einen Versuch: Wie definieren Sie Genuss?

Genuss ist, im Moment zu sein und zu leben. Einen glücklichen, positiven Gemütszustand bewusst wahrzunehmen und zu genießen.

An was denken Sie in genüsslichen Momenten?

An so wenig wie möglich. Einfach an das, was gerade passiert und an das Gute, das Gott für einen vorbereitet hat. Aber nicht an Neben­aspekte. Den Anruf oder den Abwasch, den ich später noch erledigen sollte, blende ich aus. Das ist Genussfähigkeit.

Modern gesagt, klingt das nach Achtsamkeit.

Klar, einen Achtsamkeitsspaziergang – eine bekannte Übung aus der Positiven Psychologie – könnten wir auch Genuss-Walk nennen. Bei der Achtsamkeit wie beim Genuss werden die gleichen Rezeptoren der einzelnen Sinne angesprochen. Wenn wir eine unterschiedliche Definition suchen, könnten wir aber sagen: Genuss kann sich auch zufällig einstellen, während Achtsamkeit forcierter ist.

In der Antike vertrat beispielsweise Epikur von Athen die Philosophie der Lust, den Hedonismus. Das individuelle Glück war die oberste Lebensmaxime. Diese Lebensform ist wieder salonfähig geworden, nicht wahr?

Zunächst möchte ich Epikur etwas rehabilitieren. Er war managermäßig unterwegs, stellte bei allem eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf und zielte auf den »Outcome« ab. Ein Glücksmoment darf später ­keine Probleme verursachen – aber ein leckeres Eis sollte ich mir nicht verwehren, bloß weil ich eine vermeintlich protestantische Arbeitsethik habe. Hingegen hätte Epikur einen regelmäßig hohen Alkoholkonsum nicht gutgeheißen. Denn dieser könnte die Gesundheit und damit das Glück der Zukunft ruinieren.

Wie beurteilen Sie den Hedonismus unserer Zeit?

Heute umgeben uns so viele Optionen, nach Glück zu streben wie noch nie. Diese Fülle kann uns auch überfordern. Suche ich die Erfüllung im Beruf, in der Kultur, der Religion oder indem ich ferne Länder bereise? Wenn ich am Ende des Tages merke, dass die Karriere scheitert, mein Glaube mir nicht das Erhoffte bringt und ich kein Geld für weitere Reisen habe, bleibt mir nur noch das Motto »genieße den Tag und denke nicht an morgen«. Bis sich irgendwann eine gewisse innere Leere einstellt. Vielen erscheint ihr Dasein bedeutungslos. Denn sie erfahren nicht den Zuspruch Gottes, der sagt: »Du bist geliebt und ich habe Pläne mit dir, die du nicht immer verstehen kannst.«

Genuss kann sich zufällig einstellen, Achtsamkeit ist forcierter.

Exzesse auf der einen Seite, Askese auf der anderen: Unsere Gesellschaft hat ein verkrampftes Verhältnis zum Genuss!

Auch diese Extreme finden sich schon in der Antike. Der jüdische Gelehrte Philo von Alexandria verkehrte vor zweitausend Jahren in der High Society in Alexandria. Er beobachtete den verschwenderischen Lebensstil vieler Zeitgenossen. Und aus seiner jüdischen Perspektive setzte er sich mit den Shootingstars der Philosophie auseinander. Das Glück sah er nicht zwischen gutem Essen und etwas Meditation, sondern klar auf der geistigen Seite. Er empfahl, sich zurückzuziehen und die Heilige Schrift zu lesen. Nur das Nachdenken über Gott bringe die höchste Form der Glückseligkeit. Dieses Eremitenhafte, sich Abwenden von irdischen Genüssen, hat eine lange Tradition. Es ist evident, dass es Menschen gibt, die es als sehr glücksstiftend wahrnehmen – ganz ähnlich, wie Fasten neue Perspektiven und Grenzerfahrungen erschließen kann. Das sind Praktiken, die wir heute wiederentdecken als Wege zum Genuss. Für mich persönlich liegt der echte Genuss – entgegen Philos Einschätzung – irgendwo in der goldenen Mitte.

»Work hard, play hard« ist ein Motto vieler Führungskräfte. Selbst in der Freizeit gehen sie bis an die Grenzen. Statt einem Spazier-gang muss es der Marathon sein. Ist das noch Genuss?

Ich nehme es Führungskräften ab, dass sie Höchstleistungen genießen. Wenn ich an »work hard« denke, kommt mir der Apostel Paulus in den Sinn. Er reiste unermüdlich durch den ganzen östlichen Mittelmeerraum und nahm Gefängnis und Prügel auf sich, um die Botschaft von Jesus zu verkünden. Auch Martin Luther arbeitete bis dreizehn Stunden am Tag. Er schrieb beinahe ununterbrochen – selbst auf der Toilette. »Play hard« war am Abendtisch angesagt. Seine Frau, Katherina von Bora, tischte jeweils für gut zwanzig bis fünfzig Leute auf. Da wurde genossen, Bier gebechert, ausgetauscht und auch unterrichtet.

Die Bibel nimmt viele Konzepte der Positiven Psychologie vorweg.

Auf Luther soll auch der Dreiklang »Wein, Weib, Gesang« – moderner gesagt »Sex, Drugs and Rock’n’Roll« – zurückgehen!

Ich traue ihm zu, dass er das gesagt haben könnte. Luthers Sprüche waren oft derb. Seine Devise war »dem Volk aufs Maul schauen«. Wein und Gesang war Luther zugeneigt. »Weib« war wohl in dem Sinn gemeint, dass er, als ehemaliger Mönch, das Heiraten empfahl – nicht aber einen Wechsel der Sexualpartner.

Sie haben schon in jungen Jahren ans Jenseits gedacht und Theologie studiert. Warum?

Weil es ein Privileg ist, sich beruflich mit den Fragen auseinander­zusetzen, die andere ein Leben lang mit sich herumschleppen: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wie kann ich mit Gott reden? Hinzu kommt: In der Schweiz und in Deutschland mangelt es an Pfarrpersonen. Das heißt, es werden Leute gesucht, die andere dabei unterstützen, über Gott nachzudenken und mit ihm in Verbindung zu treten.

Viele Menschen halten Gott für eine Spaßbremse. Ist das ein falsches Bild?

Eindeutig ja. Allerdings kommt diese Sichtweise nicht von ungefähr. Kirchenvertreter haben manchmal für Positionen gekämpft, die gar nicht zentral für die christliche Lehre sind. Früher gab es beispielsweise Priester und Pfarrer, die sich aufs Thema Onanie eingeschossen hatten. Diese ist im Alten Testament aber nur kurz in einer Erzählung erwähnt. Dagegen zieht sich die Nächstenliebe wie ein roter Faden durch die Bibel. Und füreinander da zu sein, füreinander einzustehen, sich um die Schwächeren zu kümmern, das ist ausgesprochen glücksstiftend. Gott hat für uns unglaublich viele schöne Dinge geschaffen, die wir wahrnehmen und genießen können – und er hat uns ein Empfinden gegeben, damit wir auch spüren, was uns nicht guttut. Wer ­etwa eine Beziehung eingeht, die ihm schadet, merkt dies – ebenso, wenn eine Situation einfach »stimmt«.

Manches, was die Bibel sagt, klingt ein bisschen wie Positive Psychologie. Diese ist aber erst um die Jahrtausendwende rund um den US-Psychologen Martin Seligman aufgekommen.

Es ist bemerkenswert, dass die Bibel viele Konzepte der Positiven Psychologie vorwegnimmt. Die Positive Psychologie versucht, die Faktoren empirisch zu ermitteln, die zu einem glücklichen Leben beitragen. Ein Glücksfaktor ist die Dankbarkeit. Wenn ich einer Person, die mich geprägt hat, einen Dankbarkeitsbesuch abstatte oder ihr einen Brief schreibe, hebt dies das Niveau von uns beiden. Hilfreich ist zudem, ein Dankbarkeitstagebuch zu schreiben. Ähnlich positiv wirkt es aber, wenn ich Gott danke, zum Beispiel für mein Essen. Das macht mir bewusst, dass ich etwas Gutes vom Schöpfer empfange. Am Abend danke ich nochmals für das, was ich am Tag erleben durfte. Jesus selbst betete und er lehrte seine Jünger zu beten. Auch die Hoffnungsfähigkeit korreliert stark mit Glück. Der Apostel Paulus schrieb aus dem Gefängnis einen kurzen Brief an die Gemeinde in Philippi. Darin verwendete er elfmal das Verb »freuen« und fünfmal das Subjektiv »Freude«. Andere hätten in dieser Situation nur über ihr Elend geklagt. Schließlich trägt die Gemeinschaft zum Glück bei. In der Bibel heißt es: »Das habe ich euch gesagt, auf dass meine Freude in euch sei und eure Freude vollkommen werde. Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch liebe.« In einer christlichen Gemeinschaft sollte sich diese göttliche Freude erleben lassen.

Die Bibel besteht aus dem Alten und dem Neuen Testament. Stellen Sie mit Blick auf den Genuss einen Unterschied zwischen diesen Teilen fest?

Das Buch Prediger im Alten Testament stellt eine Lobeshymne auf den Genuss dar. Es ist aus Sicht des Königs Salomo, des Sohns von König David, geschrieben. Er galt als sehr weiser und mächtiger König. Salomo erzählt, wie er nach Weisheit strebte. Irgendwann merkte er, dass Wissen allein nicht glücklich macht. Danach nutzte er seinen Einfluss, um die schönsten Frauen, den besten Wein und die rauschendsten Partys zu feiern. Bis er feststellte, dass ihn auch das nicht erfüllte. Macht macht nicht glücklich, erkannte er. Sein Fazit: Das ­Leben ist ein »Windhauch«, alles kann sich jederzeit ändern. Daher lohnt es sich, einfach mit Freunden zusammenzusitzen, feines Essen und gute Getränke zu genießen und in diesem Moment zu sein. Statt sich einen Lifestyleratgeber zu kaufen, kann man genauso gut das Buch Prediger lesen. Das Neue Testament zeigt eine weitere Dimension des Glücks: Es ist erfüllend, Gemeinschaft mit Jesus zu pflegen, ihm nachzufolgen. Das vermittelt eine Freude, die diese Welt überdauert.

König Salomo und Jesus ergänzen sich also?

Klar. Jesus hat den Menschen erklärt, wie das Alte Testament zu verstehen ist. In der Bergpredigt sagte er: »Siehe die Blumen auf dem Feld, sie spinnen nicht, sie ernten nicht, und trotzdem sind sie schöner als Salomo in all seiner Pracht. Macht euch keine Sorgen um morgen.«

Im Buch Prediger heißt es: »Du junger Mensch, genieße deine Jugend und freu dich in der Blüte deines Lebens! Tu, wozu dich deine Augen locken, aber vergiss nicht, dass du Gott für alles Rechenschaft ablegen musst.« Was bedeutet das konkret?

Ich darf und soll das Hier und Jetzt als junger Mensch genießen. Für alles, was ich unternehme, bin ich aber mir selbst und vor allem Gott gegenüber verantwortlich. Wenn etwa meine Aktivitäten andere oder mich selbst oder die Schöpfung verletzen, so ist das fragwürdig. Mein Gewissen ist ein innerer Kompass, aber auch die Bibel ist eine Richtschnur, die mir zeigt, was ein erfülltes Leben ausmacht.

Jesus hat sich laut Bibel einen Ruf als »Fresser und Weinsäufer« eingehandelt. War er ein Bonvivant, ein Genussmensch?

Seine Gegner warfen Jesus vor, ein »Fresser und Säufer« zu sein. Seine Jünger waren zwar vom asketischen Täufer Johannes und anderen jüdischen Strömungen geprägt. Aber Jesus schätzte gemeinsame Feiern und ein gutes Mahl. So verwandelte er etwa bei der Hochzeit

in Kana sogar Wasser in Wein. Als einziges Ritual neben der Taufe hat Jesus das Abendmahl, die Eucharistie, eingeführt. »Eucharisteo« heißt im Griechischen, der Sprache, in der das Neue Testament geschrieben wurde, »danken«. Das Abendmahl ist also ein Essen, das man dankbar in der Gemeinschaft und vor Gott zu sich nimmt. Zur Zeit der ersten Christen begnügte man sich nicht mit einem Brothäppchen und einem Schluck Wein. Vielmehr genoss man zusammen ein Abendessen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Jesus viele unserer Vorstellungen sprengen würde, wenn er heute zu uns zu Besuch käme.

Wenn Jesus zu Besuch käme, würde er unsere Vorstellungen sprengen.

Was lehrt uns die bekannte Bergpredigt von Jesus?

Der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt hat die Bergpredigt mal als »Rede der Reden« bezeichnet. Diese Rede zeigt, dass die christliche Botschaft allen Menschen Hoffnung bringt. Ein reicher Gutsbesitzer kann hier beispielsweise lernen, dass Nächstenliebe und Barmherzigkeit das Glück steigern. Aber Jesus spricht auch Unterdrückten und Leidenden Hoffnung zu. Wer jetzt weint, soll getröstet werden. Auf Deutsch heißt es: »Selig sind, die da leiden …« Für ­»selig« verwendet der Urtext das griechische Wort »makarios«. Dieses drückt einen göttlichen Glückszustand aus.

Die Gesundheit hat einen hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Was, wenn jemand nun mal nicht gesund ist?

Jesus hat keine Instagram-Models um sich gesammelt, sondern jene, die krank und zum Teil am äußersten Rande der Gesellschaft standen: Blinde, Aussätzige, Ausgestoßene, Ehebrecherinnen, die das Dorfgespräch waren. Unter ihnen hat Jesus Heilungswunder gewirkt. Und ihnen hat er vom Reich Gottes erzählt – das sich schon hier für Gesunde wie Kranke manifestieren kann, wenn wir Nächstenliebe, Gewaltverzicht und Vergebung Raum geben. Spannend ist, dass diese Botschaft schnell auch bei den Reichen und Schönen der Antike punktete. Viele frühe Christen stammten aus reichen römischen Schichten, darunter auffallend viele Frauen.

Gibt es im Rahmen Ihrer Forschung eine Aussage der Bibel, die sie privat verändert hat?

Oh, da gibt es vieles. Sehr wichtig sind für mich die Stellen im Brief an die Philipper, in denen Paulus trotz aller Widrigkeiten zur Freude aufruft. So schreibt er: »Freut euch im Herrn alle Tage und abermals sage ich: Freut euch.« Ich kann nur ansatzweise verstehen, wie der Apostel im Gefängnis, kurz vor dem Tod, noch so ein Vertrauen auf Gott, auf Jesus und auf seine Lehren haben konnte. Das inspiriert mich jeden Tag aufs Neue.

Kann man sich auf Befehl freuen?

Es ist wichtig, die richtige Grundhaltung einzunehmen. Gott ist uns aber nichts schuldig. Nur weil wir von A bis Z vorgehen, muss sich bei uns nicht Freude einstellen. Glück bleibt immer Gottes Gnade.  

Daniel Maier

Daniel Maier

Nach Forschungsaufenthalten in Jerusalem, Addis Abeba und an der Yale University promovierte der Theologe Daniel Maier (30) mit einer Studie über das Glück im antiken Judentum und im Neuen Testament. Seine Arbeit wurde mit dem Manfred-Görg-Juniorpreis ausgezeichnet. Derzeit arbeitet er als Postdoktorand und Dozent an der Universität Zürich. Von 2010 bis 2016 studierte er evangelische Theologie, Mathematik und Pädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Maier ist verheiratet und frischgebackener Vater von Zwillingen.